Lyrik 1988

Willkommen im Lyrik-Archiv des Jahres 1988. Hier ist die Übersicht aller Lyrischen Kurzprosa. Alle Texte sind hinter den jeweiligen Ausklappboxen abgelegt. Drunter findet sich noch ein Link zu dem einzelnen Blogbeitrag. Dort steht noch ein kleiner Begleittext, falls es Euch interessiert. Lasst gerne einen Kommentar da. Solange Hass und Häme draußen bleiben, sind sie mir willkommen. Traut Euch. Danke!

Ab und an
rollen Züge vorbei
West nach Ost und umgekehrt
Der Boden zittert jedes Mal
Meist bin ich nachts hier
und frage mich
ob der Lokführer sich
einen runterholt
oder weint
Aber was ich denke
ist flüchtig
Die Nachtpost kommt
fährt ins Gleis
ein Güterzug donnert vorbei
beladen mit Panzern
Vielleicht ist morgen Krieg

Februar 1988
Kontext

Ist Schnee draußen
Schön wie er liegt
Gehwege Straßen Gleise
Die Flocken schaffen
den ganzen Weg
von da oben bis
in unser Jammertal
Kleiden es weiß und rein
Machen uns leise
schlucken Geschrei
und Getöse
Machen uns
unsichtbar
zähmen
die Wut

März 1988
Kontext

Arme Irre
die um vier Uhr
zur Arbeit fahren
oder wie ich
bei der Arbeit sind
Im Tunnel hört man
einen Zug pfeifen
Auf der Brücke
eine Kehrmaschine
Malt die Häuser orange
mit ihrem Warnlicht
Letzte Woche hat
sich einer auf die
Fahrleitung gestürzt
jedoch verfehlt
wurde aber dafür
vom Güterzug
überrollt
Ich hebe mein
Glas für die
Irren und
ihn

Mai 1988
Kontext

Kann meine
Gedanken nicht fassen
Trotz der Stille
Nicht viel mehr
als ein paar Vögel
zwei Katzen liebkosend
unter einem Auto
Ein Mann winkt mir zu
und eine Mücke hat mich
in die Wange gestochen
Auch hier in
diesen Bergen
wohnt die Unruhe
Nur kurz zu sehen
dem leichten Plätschern
der Wellen ähnlich
Mit schnellem Griff
die Flasche an
meinen Mund
und den Wein
hinein

Mai 1988
Kontext

Hier oben
atmet der Frühling
gerade erst auf
während in den Ebenen
der Sommer schon
fast wieder vorbei ist
Abnehmende Sonne
zunehmende Dunkelheit
das Leben wird homogen
Es stirbt
Nur die knallgelbe Parkbank
dort drüben wehrt sich
Ist gegen die
Gleichförmigkeit
die sich morgen früh
im Tageslicht tarnt

Mai 1988
Kontext

Tür zumachen
von außen und
Lärm Menschen
Southern Comfort
drin lassen
Treppe hinab
zur Unterführung
Schritt um Schritt
Sinnloses in den
Schaufenstern
Nachgeburten von
Zivilisation
Kein Traumbild
Dann
eine Plastiktüte
REWE-Rotwein darin
Warum nicht
mitnehmen
nach Hause gehen
Hab vergessen
wo das ist

Mai 1988
Kontext

Diese Sätze
in meinem Kopf
gepresste Worte
von irgendwo
von irgendwem
Infernalisch
feindlich
schmiegen sich
an meine Tränen
und drängeln
nach draußen
Aber es geht nicht
Schleusen bleiben
geschlossen
Ich ertrinke
in mir
Du bist
ahnungslos

Mai 1988
Kontext

Mensch sein
Freund sein
Feind sein
Nichts sein
Nicht sein
Dann Krieg
Aus Krieg
wird Ernst
Kein Zurück mehr
Schlachten schlagen
gewinnen verlieren
erniedrigen
bluten
Salz in Wunden streuen
nachtreten
am Ende leer sein
ein Stück sterben
Wieder ein
Freund weniger
Aus Liebe

Mai 1988
Kontext

Nirgendwo
ein Ort auf dem du
fest stehen kannst
Müde von der Suche
schließt du dich ein
und denkst an Hass
aber das ist nicht
so einfach
Hass
will ernährt werden
Frag die anderen
Hassenden
Gibt ja genug
Am Tage unsichtbar
bei Nacht eine
Armee von
Glühwürmchen
über warmen
Sommerwiesen

Juni 1988
Kontext

Ein Fisch in seinem
sauerstofflosen Element
weint salzige Tränen
ins süße Wasser
japst im Elend
nach Luft und
Leben
So behandeln wir
uns selbst
Drei Tage weinen
sind zwecklos
An jedem Tag von
Schwachköpfen seziert
frittiert verspeist
tot wie das Mitleid
tot wie die Fische
tot wie Geld

Juni 1988
Kontext

Ein Foto
vielleicht zwei
Nur Personen
keine Menschen
Jahre vergangen
Schmerzlos
im Meer einer
schwarzen Zukunft
Ich träume Glück
in wirren Zeiten
Köpfe ohne Augen
Körper ohne Arme
Fotos ohne
Erinnerungen
ohne
Seele

Juli 1988
Kontext

Freudlos lachen
Seelenlos verführen
Hirnlos antworten
Tonlos sprechen
Alle verstehen sich
Vögel bauen Nester ohne Stroh
Schmetterlinge bleiben Raupen
Blumen wachsen ohne Duft
Mein Körper läuft ohne Blut
Strangulierte Liebe
Und alle verstehen mich
Die Sonne brennt ohne Wärme
Der Mond träumt ohne Gesicht
Bedenklich
ohne Tod zu sterben

August 1988
Kontext

Hat jemand hier
gelernt mit seinen
Emotionen umzugehen
Tag auf Tag
Monat auf Monat
Jahr auf Jahr
Leben auf Leben
Finger greifen nicht
Füße treten ins Bodenlose
Augen sehen nur sich
Wortnadeln treffen
vermodern in
Gedanken an
Liebe und Vernunft
Das Geschwätz vom
Warten und Vertrauen
Verlieben und Verlieren
Lieben und Schenken
stinkt zum Himmel

August 1988
Kontext

Neben mir redet
jemand von des
Menschen Intelligenz
Aber so wie ich das sehe
sind wir mitten im
dunklen Mittelalter
Zenit der Inquisition
Voller Orgonenkacke
Sechsdimensionale
Bernsteinkräfte
in flacher Erde
Geistheiler mit
Quantenhänden
Ihre Vernunft
heißt Aberglaube
Geistige Diarrhoe
Weit und breit
kein Klopapier

August 1988
Kontext

Die Locke
kommt in die Kneipe
überstrahlt uns Stumpfe
Ist schön gekämmt
Augen sind polierte Münzen
Ist aalglatt und putzt den Stuhl
bevor die Hose Platz nimmt
Die Locke zieht nen Blauen
Eins mit zwei Nullen
Will nen Kaffee
mit Fingerschnippen
dem Anmut eines
toten Aasgeiers
Sie ist Zukunft und
wir das Gestern

September 1988
Kontext

Träge
Und dreckig
Faule Eier oder
verwesendes Fleisch
Der Fluss an dem ich sitze
und versuche zu entdecken
was verloren ging
in seinem Leben
in meinem Leben
hat sein Flüstern verloren
Das Summen und Brummen
Das Plätschern und die Klarheit
kristallene Reinheit
trinkbar Leben spendend
Alles weg
Stattdessen Algenteppiche
ein grünes Leichentuch
von Ufer zu Ufer
vom Ursprung zum Ende
Mit ihm sterben wir

September 1988
Kontext

Immerhin
ne volle Kneipe
Immerzu
halbvolle Gläser
Immergleich
sind wir Fremde
Immerfort
kettet uns die Leere
wie Zement aneinander
Uns zugekiffte
bewusstlose
Ärsche

September 1988
Kontext

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