»He! Träumst du?«
Kann sein, denke ich und öffne die Augen, blinzle gegen die grelle Frühlingssonne. Niemand zu sehen. Bis ich mich an die Helligkeit gewöhnt habe, dauert es einige Sekunden. Rote und blaue Pfützen tanzen vor meinem Gesicht. Zügig verziehe ich mich unter den kleinen Sonnenschirm meines Eiswagens.
»Gib mir bitte ein Cornetto Nuss.«
»Klar, Moment …«
»Bin ich etwa dein erster Kunde heute?«
»Nee, Papa mit Kind vorhin. Aber viel geht heute nicht. Ist ja erst Anfang Mai.« Den Cornetto-Karton muss ich erst aufreißen, tue das, hole eins raus. »Macht zwei Mark, bitte.« Jetzt kann ich die Person sehen. Hinter sich die Sonnenscheibe, das Gesicht im Schatten einer schlecht oder gar nicht gekämmten Haarpracht, dunkelbraun oder schwarz, das ist nicht zu erkennen im Gegenlicht. Ein Zweimarkstück landet auf der rechten Abdeckung des Eiswagens. »Danke«, sage ich und reiche ihm das Eis. Er packt mit Daumen und Zeigefinger zu, öffnet es langsam, zieht das Papier ab in Zeitlupe, zelebriert den Vorgang förmlich und schaut mich fortwährend an. Ich lächle. Kundschaft. Immer freundlich sein.
»Biste jeden Tag hier?«
»Nee, nur an Wochenenden oder Feiertagen. Ich muss ja unter der Woche arbeiten.«
Er beißt hinein, bricht ein großes Stück heraus und lässt es im Mund langsam zergehen. Ab und zu zieht er Luft ein. Warum er immer noch vor meinem Wagen steht, ist mir ein Rätsel. Beobachtet er die Menschen oder erwartet ein Gespräch? Dann wieder der Blick. Nicht nur die Haare sind schwarz, davon bin ich jetzt überzeugt, trotz Gegenlicht, auch die Augen sind es. Tiefschwarz. Pupillen kann ich nicht erkennen. »Aber nach der Arbeit kann man doch noch lange genug hier stehen, oder?«, fragt er mit zweifelndem Ton.
»Könnte man«, bestätige ich. »Aber erstens arbeite ich in Bruchsal und muss erst mal hierher kommen, dann bin ich Lehrling auf nem Bauernhof und vor 19 Uhr sind wir nie fertig. Am Samstag nur den halben Tag. Da bin ich dann gegen 14 Uhr hier.«
»Landwirtschaftslehrling?«
»Mh.« Ich nicke dazu.
»Donnerwetter! Deswegen die kräftige Statur, oder?«
»Ein wenig Kraft braucht man, ja.«
Sein Grinsen ist entwaffnend. Eine Mischung aus Michel aus Lönneberga und Pippi Langstrumpf. »Eine Untertreibung«, sagt er, beißt wieder ein großes Stück ab, zerkaut es und schluckt sofort. Sein Kehlkopf hüpft auf und ab. »Wie lange stehst du heute hier?«, fragt er nach einem Rundumblick.
»Immer bis Sonnenuntergang.«
Seine Augenbrauen rucken nach oben. »Sonnenuntergang … keine Ahnung, wann der ist. Hilf mir auf die Sprünge.«
»Tja, ich habe auch keine Ahnung. Lass ich immer auf mich zukommen. Ich schätze so gegen acht oder halb neun. Warum fragst du?«
»Okay, ich komme um kurz vor acht wieder her. Wir könnten was trinken gehen. Kennst du dich hier aus?«
»Ein paar Kneipen kenne ich, ja …« Er bemerkt meinen kritischen Blick.
»Keine Panik. Ich studiere hier im ersten Semester und so viele Leute kenne ich noch nicht. Vor allem sind mir die Kommilitonen weitestgehend suspekt. Wir gehen einfach was trinken. Ich schätze, mit dir kann ich mich ganz gut unterhalten.«
»Okay, kann wohl nicht schaden. Also um kurz vor acht drüben vor dem Schlosscafé. Da sind abends die meisten Leute. Danach muss ich noch das Eis in den Gefrierraum packen und das Trockeneis rausholen. Dann können wir los. Hast du einen Helm?«
»Helm? Wie?«
»Ich hab nur ein Motorrad. Wir fahren ins Café Linz. Da ist die Uni um die Ecke.«
»Helm, nein, so was hab ich nicht.«
»Aber ich. Und immer dabei.«
Wieder das Grinsen. Es wird Zeit fürs Cornetto, bevor es auseinanderbricht. Wie immer der Kerl auch heißt, nun beißt er hinein. Eine Oma mit zwei Enkeln stellt sich an den Wagen. Es wird schwierig, denn die Kleinen könne sich nicht entscheiden.
Meine beiden Kollegen stapeln alle Kartons in Regale, ich hole mit dem Handschuh die Trockeneis-Brocken aus den Wägen, pfeffere einen davon ins nahe Wasserbecken und wir schauen zu, wie die Oberfläche anfängt zu blubbern, Dampf steigt auf. Neben dem Becken sehe ich Cornetto Nuss stehen. Er hebt die Hand, winkt zweimal.
»Jungs, ich muss weg«, sage ich. »Hab ne Verabredung. Wir sehen uns morgen früh um zehn.« Die Antworten aus dem Kühlhaus warte ich nicht ab, ziehe den Schlüssel aus der Hosentasche und bedeute Cornetto mit einem Kopfnicken, dass er zur Maschine kommen soll, die vor dem Café abgestellt ist. Er geht langsam, gemächlich, hat vorne abgeflachte Western-Boots an, fast identisch mit meinen. An seinem Blick sehe ich, dass er auf meine schaut.
»Hallo Eismann, schöne Boots. Wildleder?«
»Ja, die Butter vom Brot gespart und dann gekauft. Und deine?«
»Weniger Alkohol getrunken. Dann gekauft.«
Wir grinsen uns an, fast erstarrt in unseren Bewegungen. Jetzt kann ich sehen, dass er tiefschwarze Haare und Augen hat, gebräunte Haut und feingliedrige Finger, deutlich hervorgetretene Sehnen auf den Handrücken und im Gegensatz zur braunen Haut geradezu weiße Fingernägel.
»Ich bin bisher nur einmal auf so einer Kiste hinten drauf gesessen. Fährst du gut? Ich meine, muss ich Angst haben?« Er zieht den Helm über, den ich auf die Sitzbank gelegt habe.
»Wahrscheinlich behauptet jeder Motorradfahrer, dass er gut fährt. Ich würde sagen: warte es ab. Du musst mir vertrauen. Anders geht es nicht.« Mehr als Nasenrücken und Augen sind nicht zu sehen. In der Schwärze der Pupillen keine Reaktion. »Und sitz nicht steif wie ein Brett. Was ich tue, tust du. Immer mitgehen, aber nix Eigenmächtiges, also etwa in einer Kurve in die andere Richtung neigen. Es kann nix passieren. Die Physik ist mit uns.«
Jetzt sind je zwei Falten an den Augenwinkeln. Sein schelmisches Lächeln. Ich ertappe mich dabei, an etwas anderes zu denken, als an die kommende Fahrt mit einer Person, die keine Erfahrung hat in der Sozius-Position und das noch auf einer hochbeinigen Enduro mit Stollenreifen. In meinem Kopf sind braune, sehnige Hände mit sehr hellen Fingernägeln, die schon jetzt ein Kribbeln in der Bauchgegend verursachen; ganz zu schweigen davon, dass sie sich an mir festhalten werden. Ich steige auf, drücke den Helm über meinen Kopf.
»Auf geht’s … wie heißt du eigentlich?«
»Christian.«
»Heinrich.«
Christian steigt auf. Er wiegt weniger, ist fast einen Kopf kleiner und recht gelenkig. Die braunen Hände landen auf meinen Schultern, beide Daumen drückt er unter die Schulterblätter. Wie angenehm das ist. Da er schon sitzt, nutze ich den Elektrostarter, erster Gang, wir fahren los, aus dem Schlosspark hinaus über die Engesser Straße Richtung Durlacher Tor, mitten durchs Uni-Viertel. Christian sitzt vorbildlich, macht alle Bewegungen mit und hat offenbar keine Angst oder vertraut mir eben.
»Nette Lokalität«, sagt er, angelehnt an die getäfelte Wand. »Warum sagt mir niemand, dass es um die Ecke der Uni so gute Kneipen gibt?«
Darauf antworte ich nichts. Die Frage hat er an sich selbst gestellt. Ich genieße den Augenblick, die Ruhe vor dem Samstagssturm, der im Café Linz gegen 21 Uhr einsetzt, eine leckere Apfelsaft-Schorle und seltsamerweise Christians Aussehen, das mich mehr und mehr überrascht, weil es mit jedem veränderten Lichteinfall Neues zu entdecken gibt. Da sind sehnige Unterarme, eine vertikal verlaufende Narbe am Hals, ein wie mit dem Lineal gezogener Nasenrücken und wirklich schöne Ohren, sofern sie unter dem Haarwust hervorlugen. Sogar meine Unsicherheit den schwarzen Augen gegenüber hat sich in Neugier gewandelt. Da gibt es mehr zu entdecken, als unsere jungen Jahre glauben machen.
»Du redest nicht viel«, stellt er fest.
»Nur wenn ich betrunken bin.«
»Und heute wird das nicht der Fall sein, oder?«
»Nein. Ich muss ja noch zurückfahren nach Bruchsal.«
Er zögert für einen Moment, obwohl ich die nun kommenden Worte schon fast sehen kann.
»Schlaf bei mir. Okay, ist ne kleine Einliegerwohnung, ein Zimmer mit Bad in Hagsfeld, aber die Vermieterin ist in Ordnung. Alte Dame mit Sinn für Humor. Außerdem schwerhörig. Darf also ruhig mal laut werden. Und ich kann es mir leisten.« Christians Lächeln ist entwaffnend. Nimmt mir alle Bedenken, alle aber und wenn. »Du verkaufst morgen wieder Eis?« Ich nicke. »Also ist es nur logisch, bei mir zu pennen. In zehn Minuten bist du im Schlosspark. Kannst also länger schlafen.«
Ich trinke leer und fange seinen Blick auf, der mich mustert, absucht, etwas entdecken will in meinem Gesicht. Hinter dessen Vorhang ich nicht schauen kann. Undurchdringlich. Es kribbelt in meinem Unterleib. Ich weiß in diesem Moment, was mir gegenüber lauert. »Das hört sich gut an. Ich hoffe, du kannst einen guten Kaffee kochen.«
»Mach dir keine Sorgen. Eine meiner leichtesten Übungen.«
»Was studierst du eigentlich?«
»Informationstechnik. Ist recht neu hier in Karlsruhe. Erst wollte ich Mathematik studieren, aber Informationstechnik hat ja viel mit Mathe zu tun.«
»Also auch programmieren? Pascal, COBOL, Basic und so Zeug?«
Christian nickt bedächtig.
»Ja, tatsächlich, genau so Zeug. Und noch einiges mehr. Netzwerktechnik, Datenbanken, AS400, lauter so Kram. Ziemlich trocken, wenn man es genau nimmt, aber ich finde es faszinierend.«
»Das ist es auch. Finde ich ebenso faszinierend.«
Er bestellt sich einen Bacardi-Cola und ich schlürfe Schwarztee. Earl Grey mit etwas Zitrone und Kandis. Die junge Frau bringt sein Getränk, Christian bedankt sich, blickt mich aber unentwegt an. Dieses Mal mit bewegungslosen Pupillen. Er weiß nicht, was er von meinen Aussagen halten soll und bleibt wohl an einer der Kanten hängen.
»Du bist aber Bauer, nein, Landwirt heißt es ja, nicht wahr?«
»Das ist mir egal, Bauer, Landwirt … wie du es nennen willst.«
»Okay, Bauer Heinrich, warum lernst du Bauer, wenn dich so Zeug interessiert?«
»Willst du ne einfache Antwort? Oder die erweiterte?«
»Erst mal die einfache. Und später bei mir dann die erweiterte.«
»Einverstanden. Also die einfache Antwort ist: Um zu studieren, brauche ich Abitur. Und ich musste unbedingt zuhause raus, sonst hätte es noch Tote gegeben. Da kommt so ein Aussiedlerhof gerade recht. Weit und breit niemand. Absolute Stille. Nur ich, der Acker und die Viecher.«
Christian grinst. Dieses Mal nicht schelmisch, es ist ein ehrliches Grinsen, ohne dass ich das Gefühl habe, dahinter noch etwas zu entdecken.
»Du bist der erste Bauer, den ich kennenlerne. Bisher waren das Fremde für mich, aus der Fernsehwerbung mit grünen Wiesen und lila Kühen.«
Ich lache. Warum immer die dämliche lila Kuh genannt wird, wenn es um Bauern geht, ist mir nicht klar.
»Du kommst aus der Stadt, nehme ich an.«
»Oberhausen.«
»Ah, aus dem Revier. Na ja, du weißt schon, dass Fernsehwerbung nix mit dem Bauer da draußen zu tun hat?«
»Kann’s mir denken.«
»Die Menschen machen sich falsche Vorstellungen. Oder meist wohl gar keine. Obwohl es mit der älteste Beruf des Menschen ist. Interessiert sich halt niemand mehr dafür. Essen kommt von Edeka.«
»Dann haben wir ja was gemeinsam«, meint er und ich runzle die Stirn.
»Und was?«
»Ich lerne einen Beruf, den es erst seit ein paar Jahren gibt und von dem niemand auch nur den Hauch einer Ahnung hat, der aber unser aller Zukunft bestimmen wird.«
Ich muss nicht lange nachdenken über die Aussage. »Damit hast du recht. Er wird unser Leben ändern. Ziemlich radikal sogar. Und auch die Landwirtschaft.«
»Bist du glücklich?« Die Frage lässt mich staunen und kommt überraschend, sein Blick ist wieder herausfordernd, das rechte Auge leicht hochgezogen. Glücklich? Darüber will ich gar nicht nachdenken. Oder doch? »Ist die Frage zu schwer?«
»Nein, nicht zu schwer. Nur ungewohnt. Und ja, ich bin glücklich mit meinem Leben auf dem Hof.«
»Mit deinem Leben auf dem Hof? Und mit dem Rest des Lebens?«
»Mit dem Rest? Da kann ich nur verneinen. Und du? Bist du glücklich?«
»Mit mir ja. Im Leben nicht, nein.«
»Schon wieder was gemeinsam, oder?«
Christian grinst ohne das Schelmische.
Wir sind in der Hagsfelder Allee, Einliegerwohnung in einem Reihenhaus. Es ist nach Mitternacht, ich sitze auf der Zweier-Couch, Christian gießt Jim Beam in ein mit Cola halb gefülltes Glas.
»Auch eins?«
Ich nicke, drehe den Kopf nach allen Seiten und stelle fest, dass es eindeutig eine Studentenbude ist. Bücher über Bücher, Programmiersprachen, SQL-Handbücher, Algorithmen, Netzwerktechnik, IBM Tokenring-Netzwerke und anderer Kram, den man wohl lernen muss. Dazwischen der STERN, SPIEGEL, Bücher über Anarchismus, vom Rotbuch-Verlag, Anti-Atomkraft-Dossiers, Notizblöcke vollgeschrieben und leer, zwei Gitarren mit gesprungenen Saiten. Eine Schalke-Fahne an der Wand inklusive diverser Wimpel und Spieler-Portraits.
»Du bist Schalke-Fan?«
Er trinkt einen großen Schluck und gibt mir ein zweites Glas mit derselben Mischung.
»Ja, früher. Bin mit meinem Opa immer nach Gelsenkirchen ins Stadion. Aber jetzt hängt es nur noch als Erinnerung an meinen Opa an der Wand. Fußball interessiert mich nicht mehr. Dich?«
»Nee, noch nie. Fußball, Formel 1, Bier und so Zeug sind Schwachsinn.«
Er lacht. »Und du willst ein Bauer sein? So ein richtiger Kerl interessiert sich doch für all das, oder?«
»Tja, vielleicht bin ich gar kein richtiger Kerl.«
»In meinen Augen schon.«
»Dann stimmt was nicht mit deinem Bild.« Ich grinse zu meiner Antwort, finde sie gut und trinke das Glas in einem Zug leer. Schmeckt köstlich. Wie Öl für meinen Einzylinder. Christian nickt, füllt mein Glas wieder auf.
»Im Kippen von Alkohol entsprichst du ihm jedenfalls. Aber das muss ja nix mit dem Bauer in dir zu tun haben.«
»Nein, hat es nicht. Das ging schon früher gut runter.«
»Und Drogen?«
»Hin und wieder.«
»Joints?«
»Nee, ich rauche nicht. Aber Kekse, kleine Trips, das schon. Aber seit ich auf dem Hof bin, läuft da nix mehr. Auf so nem Betrieb brauchste einen klaren Kopf, da kann so viel passieren und dann ist dein Leben ruckzuck gewesen.«
»Klingt vernünftig. Man hat nur ein Leben.«
»Ja, das mag stimmen.« Er schweigt und sieht mich nur an. Wieder habe ich den Eindruck, Zentimeter für Zentimeter gemustert zu werden, als würde Christian etwas an oder in mir suchen. Die zweite Füllung trinke ich in zwei großen Schlucken. Es kribbelt immer noch in der Lendengegend. Es sind die Hände samt der fast weißen Nägel.
»Willst du Musik hören?«
»Gern. Hast du Zappa?«
»Echt? Du hörst Zappa?«
»Du musst dringend dein Bild über Bauern revidieren.«
Er lacht auf. »Okay, ja, das muss ich. Ich habe fast alles von Zappa. Was genau?«
»Wie wäre es mit Zoot Allures?«
»Gerne.«
Christian greift hinter sich in eine Apfelkiste, flippt durch einige Hüllen und zieht meinen Wunsch hervor, legt die schwarze Scheibe auf den Dual. Knistern, Rauschen, es geht los. Frank Zappa. Christian schraubt den Verschluss von der Jim Beam-Flasche.
Eine ganze Woche habe ich über Christian nachgedacht. Seine Herkunft. Oberhausen. Es gibt hässlichere Städte, das steht fest, aber nicht viele. Erzählt hat er so einiges über sein Aufwachsen dort, einen Stiefvater, von dem er meist in dritter Person sprach, den Vornamen habe ich nicht erfahren. Von einer Mutter war nichts zu vernehmen, jedenfalls kann ich mich nicht erinnern. Es muss sie geben, aber wenn er nichts darüber erzählen möchte, dann ist das okay für mich. Zu meinem Glück musste ich nur zuhören und kaum etwas über mich erzählen. Nur wenige Fragen nach dem, was ein Bauer so das Jahr über an Arbeit erledigen muss. Ich stieß bei ihm auf Bilder aus Kinderbüchern oder Magazinen. Sonnenuntergang, Schlepper mit Pflug, glückliche Kühe. Ironischerweise habe ich mit denselben Vorstellungen meine Lehre angetreten und es war ein Sprung in eiskaltes Wasser. Immerhin gibt es jemand, der sich für all die zu erledigenden Dinge auf einem Bauernhof interessiert. Das war es, was ich Christian blumig beschrieb, zumindest bis der Jim Beam unsere Zungen unter Kontrolle hatte, dann schliefen wir ein.
Jetzt ist wieder Samstag, ich sitze im Café Linz und sehe ihn pünktlich zur Tür hereinkommen, mich entdeckend, die Hand zum Gruß hebend, dann bestellt er an der Theke einen Milchkaffee und bringt ihn mit an den Tisch, setzt sich, nickt bedächtig, rührt Zucker in den Schaum bis der hellbraun ist. Ich warte. Die Unterlippe zieht er immer wieder in den Mund, knabbert daran. Offensichtlich liegt ihm etwas auf der Zunge. Nicht mal den Kopf hat er gehoben, so sieht er nicht mein Lächeln. Das Sichere, das Unnahbare an ihm ist verschwunden.
»Servus, Christian! Was ist? Wirst du verfolgt? Du siehst aus, als stündest du kurz vor dem Urteilsspruch. Lebenslänglich oder Todesstrafe. Ist was passiert?«
»Nix passiert … obwohl, vielleicht doch.« Das war es mit der Erklärung. Nicht mal für den ersten Schluck Kaffee hebt er den Kopf. Erst beim zweiten, nach dem Absetzen der Tasse, blickt er mich von unten her an und ich weiß in diesem Moment, was in ihm vorgeht. Was auch in mir geschieht. Ein Kribbeln wächst heran. Taucht wie ein U-Boot aus dem Alltagsozean auf, erst das Periskop, Antennen, dann der Turm, Luftblasen überall, Gischt und schließlich der Rumpf. Rundherum fließt Wasser von der Stahlhülle. Zuneigung ist es und noch ein paar Meter weiter.
»Vielleicht geht in dir vor, was in mir geschieht«, sage ich und trinke einen Schluck Bitter Lemon. Jetzt wird sein Blick fester, sicherer, eine Augenbraue zieht er nach oben.
»Was könnte das sein?«
»Du fragst dich, ob du in mich verliebt bist. Und wie du mir das sagen könntest, wo wir doch zwei Jungs sind. Und ob ich ebenfalls so ein Gefühl für dich in mir trage.«
Er starrt mich an. Wieder mit undurchdringlichem Blick. Lange, ohne mit einer Wimper zu zucken. Bin ich zu weit gegangen? Das alles falsch interpretiert? Er fährt sich mit beiden Händen einige Male übers Gesicht, trinkt einen großen Schluck, setzt die Tasse ab und schaut sich um. »Fahren wir zu mir?«, schlägt er dann vor. »Ich kann nicht hier drin drüber reden. Sind mir zu viele Leute.«
»Okay, fahren wir zu dir.«
Wir bezahlen, gehen vor die Tür, knöpfen die Jacken zu, alles schweigend. Ihm den Helm geben, aufsetzen, die Maschine starten, wir sitzen auf. Christians Hände sind nicht auf meiner Schulter, stattdessen umfassen die Arme meinen Oberkörper, eine Hand auf meiner Brust, eine auf dem Bauch. Das genügt, um dieses Kribbeln in mir anzutreiben, ein kleines Erdbeben daraus zu formen. Sehnige, braungebrannte Hände mit fast weißen Fingernägeln … ich muss mich konzentrieren. Über die Karl-Wilhelm-Straße in die Parkstraße. Nach wenigen Minuten kommen wir an. Ziehen die Helme ab, Christian geht am Haus vorbei zur Tür der Einliegerwohnung, öffnet und schaut sich nach mir um. Ich lächle ihn an. Ein Stück von ihm bleibt im Dunkeln. Ich werde es nicht entdecken, egal, wie viel Zeit vergehen wird. Es umgibt den nicht sehr muskulösen, aber drahtigen Körper wie ein Schirm. Ein Schild. Gewappnet gegen die Unbilden der Alltäglichkeiten, in etwa so kommt er mir vor. Auf alles vorbereitet. Er lächelt zurück und ich schließe hinter mir die Tür. Ein sattes Klicken, dann nur noch seine Schritte auf den Fliesen. Ich bleibe einfach stehen, verharre zwischen Garderobe und Sicherungskasten, auf dem Boden Turnschuhe, ein Paar Stiefel, ein Regenschirm. An die Wand gelehnt.
»Willst du einen Tee? Hab guten Tee da. Ein Kommilitone war in Südafrika und hat so ein Kraut mitgebracht, dass Roibusch heißt. Schmeckt nicht schlecht.«
»Mach ruhig.« Kurzentschlossen gehe ich ins Zimmer, lege den Helm auf einen Stuhl und setze mich auf die Couch. Christian stellt den Wasserkessel auf, schaltet die Kochplatte an und füllt etwas aus einer Blechdose in einen Teefilter, der dann in einer roten Kanne verschwindet. Das mit diesem Kommilitonen spukt durch meinen Kopf.
»Was macht man in Südafrika? Doch nicht etwa Urlaub?«
»Doch. Sein Vater kauft da unten wohl Tiere für Zoos und hat ihn zwei Wochen mitgenommen. Die sind da herumgereist, Safari und so Quatsch.«
»Geschäfte mit Südafrika? Das ist aber ganz schön scheiße.«
Er sieht mich an. »Alles ist scheiße. Eiserner Vorhang, NATO-Doppelbeschluss, Umweltverschmutzung, tote Flüsse … was genau davon meinst du jetzt?«
Ich atme langsam und tief durch die Nase. Auf eine politische Diskussion habe ich keine Lust. Und er hat ja recht. Und auch wieder nicht. Apartheid ist Apartheid. Und das schon seit Jahrhunderten. Der Wasserkessel pfeift, Christian gießt auf, es dampft und riecht fast süßlich.
»Anderes Thema«, sage ich. Sein Blick ist nicht bei mir, sucht in der Ferne nach einer mir unbekannten Sache. Schulterzuckend verschwindet er im Badezimmer. Wie lange muss dieser südafrikanische Tee ziehen? Ausschnitte aus dem letzten Auslandsjournal kommen mir in den Sinn. Townships, brennende Fahrzeuge, der ANC hat Attentate verübt. Ich stehe auf und ziehe mich aus. Komplett. Setze mich wieder und lege die Füße auf den kleinen Couchtisch. Die Klospülung ist zu hören, der Wasserhahn. Dann geht die Tür auf. Christian entdeckt mich, erstarrt mitten in der Bewegung, dann dreht er sich um, geht wieder ins Bad und kommt schließlich nackt heraus. »Du fackelst nicht lange, was?«
Ich lächle ihm entgegen. Dem braungebrannten, drahtigen Körper, einem wunderschönen Penis und sehnigen Händen. »Ich weiß nicht, ob so ein kurzes Leben ausreicht, um alles kennenzulernen, also fange ich besser gleich an.«
»Gute Antwort«, sagt er und nimmt auf meinem Schoss Platz, klemmt meinen Penis zwischen die Pobacken und presst sie zusammen, lässt locker, presst erneut. So macht er weiter, vorgebeugt, unsere Gesichter fast aufeinander. Da ist der Kuss.
»Nur Jungs?«, will er wissen.
»Nein. Mehr Frauen, aber ab und zu gibt es Jungs, die gefährlich sind.«
»So wie ich?«
»So wie du.«
Er mustert mein Gesicht, klebt dann an meinem Blick. »Warum bin ich gefährlich?«
»Es ist das, was ich sehe, Christian. An dir, in dir, um dich herum. Dunkelste Nacht. Etwas Bodenloses. Keine Wurzeln. Ein treibendes Schiff ohne Steuermann. So sehe ich das.«
Meine Worte ziehen Furchen in sein Schild. Reißen es auf. Lücken. Und dahinter kommen Tränen. Ich ziehe ihn an mich und schließe die Arme um den schmalen Rücken.
In der darauf folgenden Woche verbringe ich jeden Tag mindestens acht Stunden auf dem Feld. Mit der Hacke. Zuckerrüben vereinzeln. Jede zweite der zarten Pflanzen muss raus, denn sie sind nicht auf Endabstand gesät, was man tut, wenn es Bedenken bezüglich möglicher Anwuchsgefahren gibt, etwa Trockenheit. Aber das meiste Saatgut ist aufgegangen und damit die Pflanzen sich nicht selbst Konkurrenz machen, entferne ich jede zweite. Einfach mit der scharfen Hacke glatt gezogen. Das war’s mit ihrem kurzen Leben. Die Sonne steht jeden einzelnen Tag gleißend am Himmel. Einen Sonnenbrand bekomme ich selten, aber das Vereinzeln unter dem grellen Gestirn ist eine unbedingte Herausforderung. Schwitzen bis zum Abendrot. Reihe um Reihe in diesem endlosen Meer aus kleinen Blättern. Der größte Acker umfasst sechzehn Hektar, 160.000 Quadratmeter Zuckerrüben. Die Hälfte davon am Hang. Es ist wie in einer Wüste stehen. Erst ist der Pullover weg, dann Hosenbeine hochkrempeln, T-Shirt aus, in der Mittagssonne will man nackt arbeiten, obwohl erst Mai. Ab und zu bringt die Chefin ein kühles Getränk, Dampfnudeln mit Apfelkompott oder Pfannkuchen samt Schinken von den eigenen Schweinen. Mit Schwielen oder Muskelkater habe ich schon lange keine Probleme mehr, bin an die Arbeit gewöhnt, es macht mir nichts aus. Die Sonne interessiert das nicht. Sie will mich brechen. Doch meist denke ich an Christian. Auf diesem hellbraunen Lößboden und den kleinen Rüben, hätte er ein großes Schwarzes Loch sein können, aus dem Finsternis strömt, die alles bedeckt, zähflüssig, wie Teer das Leben erstickt.
Es ist wieder Samstag und ich räume den Eiswagen aus, erledige die Abrechnung, Kasse stimmt und ich schwinge mich auf die Maschine. Es geht auf direktem Weg in die Schauburg. Wir wollen uns Rocky Horror Picture Show ansehen. Christian hat versprochen, zwei Beutel Reis mitzubringen. Ich warte vergeblich. Und auch Riff Raff muss heute Abend offensichtlich ohne uns auskommen. Während die Menschen ins Kino hineingehen, stehe ich auf dem Bürgersteig, die rechte Hand auf dem Sattel, in der linken den Helm und überlege, ob das Café Linz die bessere Alternative zu einer Fahrt in die Hagsfelder Allee ist. Die Antwort kenne ich im Voraus. Christians Dunkelheit ist ein Magnet. Und vielleicht mein Unglück, aber ich kann nicht anders, kicke den Einzylinder an und fahre zur Einliegerwohnung. Doch dort ist es dunkel. Niemand anwesend und die Vermieterin werde ich nicht rausklingeln und nach ihm fragen. Warum sollte sie das auch wissen? Nun bin ich ratlos. Also doch ins Linz.
Als ich durch den Vorhang dort trete, mich umsehe, auf der Suche nach Christians Gesicht, erfreulicherweise viele freie Plätze entdecke, aber keinen Christian, drückt sich ein Gedanke aus dem Dunkel. Der, dass ich ihn vielleicht nicht mehr sehen werde. Es sticht im Magen. Ich gehe entlang der Theke ins hintere Eck, setze mich, bestelle Bitter Lemon und einen Milchkaffee und es sticht immer noch. An Verliebtsein glaube ich nicht, aber er und ich haben etwas gemeinsam. Eine Frequenz. Es ist das Finstere hinter unseren Gesichtern, die haben wir beide an uns erkannt und vielleicht darauf gehofft, dass sie uns den Rest ersetzt. Ich rühre Zucker in den Schaum und schlürfe vom köstlichen Gebräu, setze die Tasse ab und schaue mich um. Keine interessanten Gesichter, wenig Mimik, alles ist in einer Art Zweidimensionalität gefangen, bewegt sich auf ihr, Länge mal Breite. So sind die meisten Menschen, sagt meine Erinnerung. Um kurz vor Mitternacht, drei Tassen Milchkaffee und vier Bitter Lemon später, verlasse ich das Linz und fahre in die Hagsfelder Allee. Es brennt Licht und hinter dem hellen Rolle sehe ich einen Schatten. Ein Blick zurück zur Yamaha. Der Motor tickt, abkühlendes Metall. Vielleicht ist es ein Fehler, denke ich und klopfe an die Scheibe. Christian öffnet die Tür.
Ohne ihn anzusehen, gehe ich hinein, kaum auf ihn achtend, wie er hinter der Tür steht. Er ist barfuß, das kann ich erkennen, lege den Helm auf den Boden und ziehe die Schuhe aus, dann ins Zimmer. Er hat abgedunkelt, nur noch die Tischlampe brennt. Ihm vorzuwerfen, mich versetzt zu haben, wird nichts bringen. Das weiß er selbst.
»Setz dich, Heinrich«, sagt er leise, mit ungewöhnlich kratziger Stimme. Eine Erkältung vielleicht. »Einen Roibusch-Tee?«
»Klar. Kann nicht schaden.«
Er geht vorbei im Halbschatten, steht vor der Spüle, den Oberkörper nach rechts gebeugt und ich höre einen Zischlaut, als er sich nach der Teekanne auf dem Regal über der Spüle streckt. »Tschuldigung, dass ich nicht gekommen bin«, lässt er mich mit dem Rücken zu mir wissen.
»Macht nix. Ich bin ja jetzt hier. Trinken wir einen Tee.«
»Mh.«
Ich warte geduldig. Das Schild um ihn ist zerbrochen. Wie Lichtschein durch eine löchrige Burgmauer, doch an Christian ist es kein Licht. Ab und zu zittert er, verzieht die Schulter, bewegt den linken Arm nicht so, wie der Arm es könnte. Dann greift er nach der Teekanne, den Filter drin und wartet. Als müsse er allen Mut zusammen nehmen. Drei Atemzüge später dreht er sich um. Ich starre ihn an. Nur Sekunden, stehe auf, drücke seinen Arm zurück. Die Teekanne ist wieder über der Spüle.
»Stell sie ab. Ich nehme sie. Setz dich.«
Er tut es. Schweigend. Noch gibt es keine Becher, also spüle ich zwei, stelle beide neben das Stövchen, die Kanne drauf und entzünde das Teelicht. Im schmalen Flackern wirken die blaugrünen oder lilanen Flecken am Hals unwirklich. Gemälde, Pinselstriche, mit Fantasie erkenne ich so was wie Finger oder vermute, es waren welche, die das getan haben. Ich schenke ein, halbvoll nur und reiche Christian den Becher, aber er schüttelt nur den Kopf.
»Tut weh beim Schlucken«, wispert er, lächelt ein wenig. »Muss erst kalt werden. Dann ist besser.« Ich setze mich neben ihn, einen Schreckmoment warte ich ab, ein langes Luftholen, dann rücke ich etwas ab, ziehe seinen Kopf auf meinen Schoss. Er dreht sich auf den Rücken, die Beine hoch. Alles sehr vorsichtig und im Gesicht kann ich den Schmerz zucken sehen, wie er wandert, von allen Körperteilen in den Kopf. Marodierend durch Fleisch und Blut.
Es dauert. Was kann ich sagen? Oder fragen? Ohne Mist zu machen. Nichts. Langsam hebe ich die Hand, bewege sie über sein Gesicht. Augenzucken, ein flackernder Blick. Angst. Ich schüttle leicht den Kopf und lächle.
»Nichts wird passieren. Nur streicheln.«
Christian nickt kaum wahrnehmbar. Also setze ich zwei Finger auf die Stirn und folge den Linien der kleinen Falten, Furchen, überall hin und er schließt die Augen. Die Zeit fließt in ein unbekanntes Tal, weitab unseres Lebens, verbirgt sich in Ecken und Abgründen, hat unseren Planeten verlassen. Wir sind zeitlos und ahnen, dass ohne Zeit nie ein Tod folgen wird, nur endloser Schmerz.
Nirgendwo eine Uhrzeit zu entdecken. Armbanduhren trage ich nie, weil sie sich innerhalb kurzer Zeit in Luft auflösen. Dem Ziehen im Nacken nach zu urteilen, bin ich eingedöst, hebe den Kopf und sehe Christians Blick auf mir ruhen, meine Hand auf seiner Brust. Mit Links zieht er eine Rolle Scheine aus der Hosentasche und legt sie auf den Tisch. Blaue und braune sind zu sehen. Hunderter und Fünfziger.
»Geld für Miete und Leben«, sagt er, den Kopf zum Fenster gedreht, mit dem Zeigefinger dreht er die Geldscheinrolle. Ein paar Mal starre ich vom Geld zu den Blutergüssen, dann geht mir ein Licht auf.
»Du kannst doch irgendwo arbeiten gehen. Hast du das nötig?«
»Tut mir leid, dass ich nicht in die Schauburg gekommen bin. Vielleicht können wir ja noch mal einen Versuch starten am nächsten Samstag.«
»Ja, vielleicht.«
Noch immer auf die Rolle blickend, erwidert er nichts. Mein vielleicht hat er richtig gedeutet. Eine Abbruchkante ist vor uns. Wer rutscht zuerst über diese Grenze?
»Von mir verlangst du kein Geld, oder?«, lege ich nach und mit dem Fragezeichen treffe ich mich selbst, schneide in meine Zunge, tief ins Fleisch. Wie weh es tut, diese Frage gestellt zu haben. Ziehe ich diese Klinge wieder heraus, werde ich verbluten. Christian sieht mich an, schon Tränen in den Augenwinkeln. Dick und schillernd, kaum dass er es schafft zu blinzeln, so massiv drückt es aus ihm heraus. Und es läuft. Entlang der Nase, die Wangen, alles wird benetzt. Mein Schoss, die Hose bekommt dunkle Flecken.
»Seit wann machst du das?«
Er schnieft und ich greife nach irgendwas tuchähnlichem und tupfe das Salzwasser ab, vorsichtig, damit er mich wieder ansehen kann.
»Ein Jahr.«
»Und was ist schief gelaufen? Oder siehst du immer so aus danach?«
Christian atmet tief ein und aus, schließt die Lider für zwei meiner Atemzüge, der Schirm um ihn wird erneut undurchdringlich, das Licht verblasst. »Nichts ist schief gelaufen. Ich will es so«, sagt er.
»Du willst es so? Blaue Flecken?«
»Nein, nicht die, nicht am Hals. Woanders ja.«
»Also ist doch was schief gelaufen. Und wenn das nächste Mal was schief läuft, stehst du eventuell nicht mehr auf.« Er zuckt mit dem Kopf, zieht eine Schnute. Eine Verlegenheitsgeste.
»Bist du etwa in mich verliebt?«
»Kann sein, dass da etwas entsteht, ja. Ich weiß es nicht. Da gibt es etwas in dir und mir, dass uns wie ein Gummiband zusammenhält, oder?«
»Ich kann dir sagen, was das ist. Schmerzen. Aber vielleicht sind deine andere als meine.« Er richtet sich auf, wirft das Geld achtlos auf die Spüle, trifft präzise und stellt sich hin, zieht alle Kleider aus, zeigt mir drehend den ganzen Körper. Ein paar Striemen auf dem Hintern, dem Rücken, blaue Flecken auf Oberschenkel und Bauch. Mir wird schwindelig, zupacken will ich, ihn schütteln, vom Schild befreien, aus etwas retten, was mir nur allzu gut bekannt ist. In einer fließenden Bewegung aus der letzten Drehung heraus, nimmt er auf meinem Schoss Platz. »Und was steckt in dir drin?«
Ich stehe auf. Es reißt mich hoch. Samt ihm. Meine Hände unter seinen Schenkeln, hält er sich mühsam fest. Vornüber gebeugt werfe ich Christian auf die Couch. Es tut ihm sichtlich weh. Kein Wunder bei all den Flecken und Striemen. Ich will auf der Stelle etwas zertrümmern. Seinen Schädel oder die Wand. Er starrt mich an. Angst in den Augen. Dann schiebe ich ihn auf die Seite und setze mich wieder. Er kniend neben mir. Nichts geschieht.
»Was hat mich jetzt grad gerettet?«, will er nach einigen Augenblicken wissen.
»Weiß nicht.«
»Und was hat dich gerettet?«
»Nichts«, sage ich und fühle mich als Sonne ohne Planeten. Leuchte für nichts und niemand. Zügig greife ich seine Hand und führe sie an meinen Hintern, hebe den leicht an. Wir tasten meinen Anus. Christian wartet still was passiert. »Da waren sie drin. Mal mit nem Stock, mal mit nem Schwanz. Wenn sie grad mal Bock hatten. Für den Fall, dass ich was sage …« Mit der Handkante fahre ich die Kehle entlang. »Beliebt war deren Pisse trinken. Aus dem Rinnstein.« Christians Hand will abhauen. Ich halte sie fest. »Vielleicht sind meine Schmerzen andere als deine. Komm!«
Ich ziehe ihn hoch. Meine Kraft tut dies und er muss mitgehen. An die Korktafel, zu den Stecknadeln, an denen Zettel hängen. Eine der Nadeln nehme ich heraus, der Zettel fällt auf den Schreibtisch. Ich stecke sie bis zum Kopf in meinen Unterarm. Ein kleiner, roter Nadelkopf, der aussieht, als würde er Schmuck sein wollen auf meiner Haut. Ein gelber folgt daneben. Christian versucht die Hand aus meiner Umklammerung zu befreien. Es gelingt ihm nicht. Kribbeln an den Nadelspitzen. Nervenbahnen sagen ihr Hallo. Ruckartig ziehe ich seinen nackten Körper an mich, schaue auf ihn herunter und küsse ihn. Er schiebt mich weg und ich lasse los. Weinend stolpert er rückwärts, schluchzt, fällt über die Couch und landet auf ihr. Ich ziehe die Nadeln heraus, lecke die zierlichen Verletzungen und setze mich vor ihn auf den Boden.
»Und jetzt sag mir, warum du das tust? Für Geld? Damit du dir ein Cornetto Nuss kaufen kannst?« Er weint nicht mehr. Da liegt er. Still. Nackt. Schön. Ich denke an die Nadeln.
»Damit ich weiß, ob ich lebe oder schon tot bin«, sagt er leise. Ich nicke und schließe die Augen. Ich weiß, kommt mir in den Sinn. Das Echo der Nadeln ist laut.