KURZGESCHICHTE | Es beginnt mit einem fallenden Glas Southern Comfort und meinem Wunsch, es möge nicht zerbrechen. Es zerbricht. Die junge Frau blickt auf den Boden, vor dem Mund die linke Hand. Ein Schwung mit der Jeansjacke hat ausgereicht, das Glas vom Tisch zu fegen. Drei oder vier Schluck waren noch drin. Walters deutliches Seufzen ist gut hörbar.
»Entschuldigung«, sagt sie. Mehr nicht. Steht da wie angewurzelt. Sehr lange, glatte Haare, wie ein Fächer über beide Schultern ausgebreitet. Sehr blaue Augen und gesehen habe ich sie im Musikkeller noch nie. Jedenfalls nicht bewusst, was kaum Bedeutung hat, denn nicht immer bin ich hier drin bei vollem Bewusstsein.
»Macht nix. War nur ein Glas.«
»Aber du hast jetzt nichts mehr zu trinken.«
Walter kommt mit Eimer und Lumpen, Kehrbesen, Schaufel. »Wie kann denn so was passieren? Die guten Gläser! Von denen habe ich nur noch zwölf Stück.« Walter bückt sich, ich mich neben ihn, sammle die Scherben in den Aschenbecher.
»Ist meine Schuld«, sagt sie mit einer derart dünnen Stimme, dass ich Angst habe, die Worte könnten es nicht bis zu mir schaffen. Als ich hochschaue, ist da eine Träne. Nur der Hauch einer Träne im linken Auge. Als hätte das Glas mehr zerbrochen als nur sich selbst. Ich weiß nicht, was ich sagen oder tun soll. Scherben aufsammeln, dabei sind es gar nicht so viel. Das dicke Glas hat einiges verhindert. Nur der Southern klebt noch auf den Fliesen. Walter wischt großzügig. Dann kommt er aus der Hocke, stemmt die Hände in die Hüfte.
»So! Aber jetzt keine Fisimatenten mehr. Einmal einen ruhigen Abend verbringen«, hofft er und verschwindet in der Küche mit Eimer und dem Rest.
»Ich bestelle dir selbstverständlich ein neues Getränk. Was war es denn?«
»Southern Comfort, einen doppelten«, erkläre ich kopfschüttelnd. »Du musst mir kein neues Getränk bestellen. Kann schließlich immer mal passieren.«
»Ich muss nicht, aber ich tu’s«, sagt sie und geht zur Theke. Mit zwei Gläsern kommt sie zurück, setzt sich neben mich, stellt beide ab und zieht Tabak aus der Jackentasche. Ich schiebe die Lucky-Schachtel vor sie.
»Nimm eine von denen, bitte.«
Ein wortloser Blick, dann der Griff zur Box, mit dem Zeigefinger flippt sie den Deckel auf, eine ruckartige Bewegung und nur eine Zigarette rutscht aus der Packung. Sie beugt sich vor, der Filter verschwindet zwischen sehr rosafarbenen Lippen, ungeschminkte, volle Lippen. Ich gebe ihr Feuer.
»Danke.«
Um sie nicht allein rauchen zu lassen, zünde ich ebenfalls eine an und inhaliere tief. Ausnahmsweise kommt kein Hardrock aus den Lautsprechern. Walter hat Steely Dan ins Kassettendeck geschoben. Ein wenig leichte Musik kann nicht schaden. Es ist kurz nach achtzehn Uhr, kaum Gäste, zwei oder drei Feierabend-Biere, der Tag war scheiße, der Chef ist scheiße, so was in der Art. Ich trinke einen großen Schluck. Warum auch immer ich der Meinung bin, ihn bitter nötig zu haben, jetzt trifft es zu. Vielleicht sollte ich ein paar Gedichte schreiben. Gedanken und Gefühle sind ausreichend vorhanden, die Stimmung ist nicht zu schlecht, doch neben mir sitzt jemand. Ich schreibe nicht, wenn jemand neben mir sitzt. Egal ob es der Papst ist oder eine junge Frau, die mein Glas vom Tisch fegt.
»Du redest nicht viel, was?«
Ich sehe sie an, wie die Hand zum Glas geht und sie Zigarettenqualm dem Southern entgegen atmet, dann trinkt. Auch kein kleiner Schluck.
»Nein, ich rede selten viel. Manchmal etwas. Tut mir leid.«
»Muss dir nicht leid tun. Hab es bloß festgestellt. Ich rede ja auch nicht viel. Wir können also zusammen schweigen und trinken.«
»Das ist in Ordnung für mich.«
Sie nickt und leert das Glas in einem Zug. Ich hebe meines in ihre Richtung, ein Augenblinzeln folgt. Also stehe ich auf und bringe ihres zur Theke. »Walter, bitte mach noch zwei. Schreib sie aber auf mich.« Walter winkt mit dem Spülhandtuch, drückt die Kühlschranktür zu und hat ein Auge auf die Kaffeemühle, die Bohnen zu Pulver mahlt. Die Aushilfe kommt erst um neunzehn Uhr. Ich gehe zurück und setze mich bewusst langsam. Sie dreht sich eine Schwarze Hand, schaut auf, leckt das Papierchen an und rollt zu. Ich habe keine Ahnung, ob sie schön ist. Ja, auf der einen Seite und dann ist da noch eine kalte Mauer, ein bis-hier-und-nicht-weiter, das alle Schönheit gefangen hält. Nur, um nicht aufzufallen. Hinter die Mauer zu sehen, reizt mich, aber wer bin ich, diese kalte Wand zu ignorieren. Ich seufze.
»Haste noch zwei bestellt?«
»Zwei Doppelte.«
»Danke.«
»Klar.«
Gäste kommen herein. Übliche Verdächtige. Walter begrüßt sie alle mit Vornamen. Immer tut er das. Nicht aus Gründen langfristiger Kundenbindung, er kann sich einfach keine Nachnamen merken, dafür alle Vornamen; selbst doppelte. Klaus-Dieter und Eduard … an die Theke, Jacke über den Barhocker und drauf sitzen, Tabak, Stuyvesant, Scheißtag heute … ich lächle.
»Wohnst du in der Stadt?«
Sie ist es. Das Glas schon wieder halbleer, die Schwarze Hand fast aufgeraucht. Jetzt hätte ich schreiben können, fast wäre ihre Anwesenheit ins Vergessen abgetaucht.
»Ja, Benckiserstraße. Gleich neben der Brücke.«
»Ich in Öschelbronn.«
»Öschelbronn ist auch nicht grad erhebend.«
»Wem sagst du das. Ich trinke noch leer, dann muss ich gehen. Essen machen.«
»Essen machen?« Sie nickt, trinkt leer und steht auf, nimmt Glas und Tabak.
»Danke fürs Einladen und Tschuldigung …«
»Ja, schon gut. Nix passiert. Mach’s gut.«
Sie bezahlt und geht so still, wie sie gekommen ist. Ich weiß ja nicht mal ihren Namen. Das leere Glas hebend, hole ich den Kugelschreiber aus der Jackentasche.
Die Bundespost ist gnädig zur Zeit. Überstundenabbau. Vor Weihnachten haben sich enorme Berge davon aufgetürmt, die Rückwaren sind abgearbeitet, es ist Mitte Januar und als ich an diesem Morgen in den Musikkeller komme, sitzt sie da. Selber Tisch, selber Platz. Einen Kaffee vor sich.
»Heinrich.«
»Salü, Walter.«
»Das Übliche?«
»Danke, gerne. Und einen Milchkaffee, bitte.«
»Kommt gleich.«
Er lächelt, das Handtuch über der linken Schulter, nimmt den Siebträger aus der Maschine und klopft den Kaffeesatz in einen Behälter. Zwei weitere Gäste, einer an der Theke und eine ältere Frau mit Tageszeitung neben dem Eingang. Keiner von beiden sieht auf. Da sie an meinem Lieblingstisch sitzt, gehe ich direkt darauf zu.
»Guten Morgen«, begrüßt sie mich, seit meinem Eintreten hat sie den Blick auf mir.
»Hallo. Konntest du Öschelbronn entfliehen?«
»Für einen Augenblick, ja.«
»Darf ich mich setzen?«
Sie nickt zum leeren Stuhl. »Natürlich.« Walter schäumt Milch. Ich setze mich, strecke die Beine aus, angelehnt, dann ein tiefer Gähner. Kurz nach neun Uhr. Noch etwas die Augen schließen kann nicht schaden. Musik läuft noch nicht. Das ist ungewöhnlich. Walters erster Griff gilt in aller Regel der Anlage.
»Was arbeitest du?«
Ich höre ihre Frage, lasse die Augen zu und denke drüber nach. Welche Frage könnte man jemand stellen, der einem völlig unbekannt ist? Ausgerechnet diese? Wenn man die Tageszeit berücksichtigt, dann durchaus. Und die gilt auch für sie. Also eine identische Gegenfrage ohne Antwort?
»Bundespost, drüben, Postamt eins, aber drei Wochen Überstundenabbau. Und was treibt dich in aller Herrgottsfrühe in diese Kneipe?«
Sekundenlange Stille. Die Stille, die ein kleines Erdbeben ist, die auf schwankendem Boden steht. Sachte presst sie sich in mein Ohr. Ich warte. Die Augen noch geschlossen.
»Weiß nicht. Ich dachte, ich finde etwas hier …« Gleich wird Walter die Bestellung bringen und auf das Zittern in ihrer Stimme treten. Ich öffne die Augen, stehe auf und komme ihm zuvor, bringe Kaffee und Southern zum Tisch.
»Möchtest du noch etwas trinken? Ich lade dich ein.«
»Einen Ramazotti, bitte.«
»Kommt gleich.« Walter sucht in der Kassettenkiste nach Adäquatem zu seiner Stimmung, die – so hoffe ich – an diesem Morgen nicht allzu trüb ist. Er entdeckt Level 42. Damit bin ich einverstanden. Das Live-Album. »Mach mir bitte noch einen Ramazotti, Walter und wenn es geht, zwei Schinken-Käse-Baguette.« Das bedeutet Arbeit. Er zieht die Augenbrauen hoch.
»Na gut. Ramazotti kommt gleich.«
»Ich nehme ihn mit, musst ihn nicht extra bringen.« Walter beugt sich leicht nach rechts und äugt an meiner Schulter vorbei. Dann ein Lächeln.
»Verstehe. Baguette stelle ich dir einfach vorne ans Eck.«
»Danke, du bist ein Schatz.« Er zwinkert, gießt das kleine Glas voll und ich balanciere es zurück zum Tisch, stelle es vor sie und setze mich.
»Falls du dir schon überlegt hast, wie du mich ansprechen sollst, versuch es mit Heinrich, da reagiere ich meist.«
»Heinrich …« Ich nicke.
»Magdalena«, erwidert sie einen Atemzug später.
»Magdalena … ein ziemlich schöner Name.«
»Katholisch. Wie das ganze Kaff.« Magdalena kippt den Ramazotti in sich hinein, stellt das Glas auf den Tisch, etwas zu hart, steht auf und verschwindet in der Toilette. Ich lausche Level 42 und Walters Gemurmel über nicht sauber gespülte Sektgläser und döse ein. Wahrscheinlich, denn als etwas neben mir knarzt, mich zurückholt in die Realität, bin ich zwei Songs weiter im Hören. Magdalena sitzt und starrt auf ihre Hände, dreht die Handflächen hin und her. Sehr feuchte Augen hat sie. Zu feucht. Noch ein wenig mehr, und es werden sich Tränen daraus formen. Es riecht stark nach überbackenem Käse und auf dem Thekeneck stehen die beiden Baguette.
»Ich habe zwei Baguette bestellt und kann nur eines essen. Das zweite ist für dich. Wie wär’s?« Magdalena nickt, ohne aufzublicken. Aufstehen, die lecker aussehenden Brote holen und wieder setzen. Eindeutig zu viel Käse auf dem einen. Ich lasse ihr das Ausgewogenere. »Guten Appetit, Magdalena.«
»Danke. Kann ich das einpacken und zuhause essen?«
Ich brauche eine Sekunde, um den Satz im Stillen zu wiederholen und einzuordnen. Warmes, duftendes Baguette mit nach Öschelbronn schleppen und daheim essen. »Natürlich kannst du das einpacken und zuhause essen. Gar kein Problem.«
»Du bist nicht böse?«
»Nein, aus welchem Grund sollte ich böse sein?«
»Weiß ja nicht«, meint sie und holt eine Brotpapiertüte aus einem Rucksack auf dem Boden, der mir bisher noch nicht aufgefallen ist, da hinein steckt sie vorsichtig das Baguette. Der Käse wird am Papier kleben, bis sie in Öschelbronn ist. »Muss mich beeilen.« Aus der Hosentasche holt sie einen Zwanziger, legt ihn auf den Tisch. »Würdest du für mich bezahlen? Ich muss jetzt weg.«
»Wie? Aber dein Rausgeld …«
»Steck’s ein.«
»Sag mir, wann du wieder hier bist, solange verwahre ich es. Okay?«
»Morgen habe ich Spätdienst. Danach hole ich es ab. In Ordnung?«
»Spätdienst ist wann fertig?«
»Gegen halb neun bin ich hier.«
Ist mir ein Rätsel, warum ich dauernd zum Eingang schaue, auf die altmodische Wanduhr neben dem Schnapsregal und die Minuten kriechen wie Amöben in der Petrischale. Ich kann mich nicht erinnern, mich in sie verliebt zu haben nach maximal einer Stunde Zusammentreffen. Und doch ist da was. Mehr als Neugier auf jeden Fall. Es gibt einen dunklen Ort in ihr. Den würde ich wohl gerne erfahren. Zwanzig vor neun ist ja durchaus noch gegen halb neun. Genau dann kommt sie zur Tür herein, weiß genau, wo ich sitzen werde, manövriert langsam auf mich zu, durch die ausladenden Erzählbewegungen der Barhocker-Stammgäste. Kein Schritt ist schneller als der andere. Konzentriertes Gehen. Ein Nicken zu Walter, ich höre Milchkaffee, dann steht sie vor mir und blickt auf mich herab. Ich hänge durchaus etwas im Stuhl, die Beine wieder lang und auf Nachfrage, das wievielte Glas auf dem Tisch steht, müsste ich Walter fragen. Magdalenas Haare sind zu einem Zopf gebunden und der kreisförmig mit zwei Hölzern am Hinterkopf befestigt. So was wie Sushi-Stäbchen. Ich grinse unwillkürlich, in ihrem Gesicht hingegen rühren sich nur die Lippen.
»Hallo, Heinrich.«
»Nabend, Magdalena.«
»Ist noch frei hier?«
Ich breite die Hände aus und trinke leer, stehe auf, das Glas in der rechten Hand. »Auch einen Southern? Oder Ramazotti?«
»Nee, danke, muss gleich nach Hause. Da will ich keinen Alkohol.«
»Okay. Ich muss noch nicht nach Hause und will Alkohol.«
Walter hat schon ein Auge auf mich und das Anheben meines Kinns genügt als Zeichen. Ich warte und mit dem Southern gibt er mir auch den Milchkaffee, den ich vorsichtig auf den Tisch stelle. Ich muss die Bewegungen schon kontrollieren, und vor Magdalena will ich das nicht zeigen. Wer weiß, vielleicht steckt doch etwas mehr als nur Neugier in mir drin. Nach einem Schluck fällt mir das Rausgeld ein. Ich greife in die Innentasche der Jacke, eine Handvoll Münzen, ein Schein, lege alles auf den Tisch.
»Bitte. Stimmt bis auf den letzten Pfennig.«
»Ich weiß«, sagt sie und ich habe keine Ahnung, woher sie das wissen könnte.
»Jo, danke.«
Bedächtig rührt sie den Schaum bis er hellbraun ist, leckt den Löffel ab und ich sehe zum ersten Mal Magdalenas Zunge. Sie merkt, dass ich sie anstarre.
»Ist was in meinem Gesicht kaputt?«
»Was? Kaputt? Aber nein! Um Gottes willen, ich hab nur …« Gerade noch schaffe ich es, mir auf die Unterlippe zu beißen. Redselig werde ich, wenn die Gläser zunehmen. Wie ein Huhn kann ich auf der Stange sitzen und gackern. Warum verzieht sie keine Miene? Stattdessen leert sie die Hälfte vom Kaffee. Das muss doch weh tun? Viel zu heiß wird er noch sein. Magdalena atmet tief ein und aus, schaut sich um. Dann steht sie auf.
»Ich muss gehen. Tut mir leid. Ich bin ein schlechter Gast.«
»Jetzt schon? Hast du ein Auto? Oder fährst du mit dem Bus?«
»Nee, ich gehe zu Fuß.«
Ich lache. Es bricht einfach aus mir heraus. »Zu Fuß nach Öschelbronn, also, du willst mir einen Bären aufbinden.« Sie lacht nicht, schaut mich nur an. Es ist ihr Ernst. »Du meinst das so, wie du es sagst, oder?« Magdalena nickt langsam.
»Aber fährt denn kein Bus? Was da alles passieren kann … kann dich niemand abholen?« Sie zieht beide Augenbrauen hoch und nickt kurz seitwärts.
»Danke fürs Aufbewahren vom Rausgeld.«
Magdalena dreht sich, stockt mitten in der Bewegung und hebt die Hand, aber nur zur Hälfte, dann ist es, als würde die Kraft aus dem Körper weichen. Sie geht. Und ich habe zwar ein Auto, aber das steht zuhause und fahren kann ich sowieso nicht mehr. Ich laufe ja schließlich auch, nur muss ich nicht nach Öschelbronn. Walter kommt vorbei, wirft mir einen kritischen Blick zu.
»Haste es wieder versaut, was?«
Eine Verlegenheitsgeste, mehr fällt mir in diesem Moment nicht ein. Vielleicht sollte ich schreiben. Füller und Block liegen auf dem Tisch. Und neben mir sitzt ja niemand.
Schon acht Tage Überstundenabbau hinter mir und mein Zuhause habe ich in den Musikkeller verlagert.
»Sag mal, warum ziehste nicht gleich hier ein?«
»Gute Idee, Walter. Ich mach die Wäsche und koch das Essen. Du versorgst mich mit Kaffee und Southern.«
»Ist gut. Aber die Finger bleiben von meinem Hintern.«
»Für die Finger kann ich garantieren, für den Rest nicht.«
Er räumt Flaschen in den Kühlschrank, schaut mich aus der Hocke an, das Spülhandtuch heute über der rechten Schulter. Der Sekundenzeiger auf der Wanduhr tickt und Mick Jagger schafft es nicht, dagegen anzusingen. Offenbar ist der Verstärker kaputt. Walter sagt nichts, kommt aus der Hocke und schließt die Tür mit den Knien, schaut dann nach links. Sein Blick hellt sich auf. »Heb dir den Rest für sie auf«, sagt er und geht an die Gaggia. Ich werde mich nicht umdrehen. Nur Walter bei der Arbeit zusehen. Ein Barhocker wird über den Fliesenboden gezogen.
»Hallo, Heinrich.«
»Heute trinke ich nichts, hab das Auto dabei und kann dich nach Hause fahren«, erwidere ich. Magdalena lacht. Zum ersten Mal ein langes Lachen. Sie ordert einen Milchkaffee und nimmt Platz. Walter pfeift einen Lynyrd Skynyrd-Song. Magdalena duftet nach einem Parfüm, das ich schon ein paar Mal wahrgenommen habe, auf Partys oder im Kino. Jetzt drehe ich doch den Kopf. Ihre Unterarme liegen verschränkt auf dem Holz und das Kinn darauf. So ist ihre Nase weit vorgestreckt. Nicht spitz, eine zunehmende Rundung zeichnet sie aus. Aber mit geradem Rücken.
»Sag mal, Magdalena, du läufst nach dem Dienst heim, nach Öschelbronn. Und vor dem Dienst kommst du zu Fuß nach Pforzheim? Wenn du Frühdienst hast, wann stehst du dann auf?«
»Nee, mein Freund fährt mich immer. Ich hab ja kein Auto.«
»Aber einen Führerschein?«
»Hab ich.«
»Dann nimm doch das Auto deines Freundes. Oder braucht er das?«
»Braucht er.«
Irgendwo knickt mein Denken ab. Etwas fehlt in dem Konstrukt.
»Also, er kann dich zur Arbeit bringen, aber nach dem Spätdienst nicht abholen? Arbeitet er so spät noch?«
»Du stellst viele Fragen.«
Walter bringt den Milchkaffee, sieht mich an, verdreht die Augen. Ich bestelle einen Southern. »Stimmt, weil mir noch ein paar Informationen fehlen, um es zu verstehen.« Magdalena hebt den Kopf, dreht sich mir zu und rührt den Milchschaum hellbraun.
»Er kann mich nicht abholen, weil er mit seinen Kumpels unterwegs ist.« Sie nickt, um es wem auch immer zu bestätigen. Dann schlürft sie den Schaum weg. Schlürfen ist nicht meins. Bei ihr ist es mir egal. In meinem Kopf schwirren ihr Freund, seine Kumpels und eine Freundin, die spätabends kilometerlang durchs Dunkle läuft. Irgendwas ist da falsch.
»Okay, ich kann dich heute heimfahren. Hab ja eh nix zu tun.«
Magdalena verschluckt sich. An was, weiß ich nicht, der Kaffee steht auf der Theke. Es wird schlimmer. Ich klopfe ihr den Rücken. Nicht zu fest. Langsam beruhigt sie sich und starrt mich an. »Nein, wirst du natürlich nicht«, sagt sie mit bestimmendem Ton. Als wäre das ein ewiges Gesetz.
»Stimmt. Blöde Idee. Ich kenne dich ja gar nicht. Am Ende raubst du mich aus und lässt meinen Körper am Straßenrand kalt werden, fährst noch drei Mal drüber oder verkaufst meine Organe.«
Ihr Blick ist den Satz wert gewesen. In Zeitlupe formen sich kleine Krähenfüße an den Augenwinkeln. Dann wieder das Lachen. Ich weiß wirklich nicht, ob ich mich in sie verlieben könnte. Nein, da ist ein Freund und er hat offenbar viele Kumpels und alle sind so eisenhart, um Magdalena im Dunkeln acht oder neun Kilometer nach Hause laufen zu lassen. Und ich bin allein.
»Du bringst mich tatsächlich zum Lachen«, sagt sie und kichert immer wieder.
»Eine Eigenschaft von mir«, erwidere ich.
»Das stimmt«, wirft Walter ein. »Er kann lustig sein und die Meute unterhalten.«
»Welche Meute?«
Meine hochgezogenen Augenbrauen übersieht Walter oder will sie übersehen.
»Na, wenn er da im Eck sitzt oder steht und seine Gedichte vorliest und sich dabei bewegt wie ein Wurm am Angelhaken. Vor allem, wenn er schon paar Gläser intus hat.« Ich werde rot. Das ist deutlich zu spüren. Magdalenas Blick ruht auf meinem Profil. Es müssen kleine Nadeln sein, die mich in die Wange treffen, die Schläfe. Ich trinke zügig leer. Sie sagt nichts zu Walters kurzer Ausführung und der zuckt mit den Schultern. Magdalena trinkt den Kaffee, löffelt den Schaumrest und legt einen Fünfmark-Schein auf den Tisch.
»Ich muss noch was einkaufen. Bis bald.«
Sechs Tage keine Magdalena. Etwas fehlt und zieht im Unterleib. Vielleicht hat sie Urlaub und erholt sich vom nach Hause laufen. Oder hat gespart und kauft sich einen alten Käfer, mit dem sie ein wenig Freiheit genießen kann. Ich sitze auf der Bank vor dem Fotogeschäft, gegenüber Horten und beiße in eine Käselaugenstange. Sehe ich eine Frau in ihrer Größe, den langen, nach allen Seiten fallenden Haaren, schaue ich genau hin. Aber ein Sechser im Lotto ist wohl wahrscheinlicher, als ihr zu begegnen an einem kalten Wintermorgen in der Stadt. Der März ist bald da, Frühling wartet am Startblock, geht in die Oberschenkel und spannt alle Muskeln. Ich wünsche, dass ein warmer Frühling die Ziellinie erreicht. Nach Öschelbronn laufen wird deutlich angenehmer. Die Laugenstange im Magen, stehe ich auf, strecke mich und kaufe im Horten Rasierseife und Blattklingen.
Kurz vor zehn bin ich endlich im Musikkeller, strecke die Beine aus und starre an die Sandsteindecke. Walter hat Depeche Mode im Kassettenfach. Sehr ungewöhnlich. Die Gaggia wird gereinigt, Dampf durchgedrückt, das Zischen schläfert mich ein, rückt weitab. Da ist eine weites Tal, keine schneebedeckten Berge links und rechts, eher staubtrockene Hügel. Dann riecht es. Aber woher? Ich bin allein.
»Hallo«, spricht das trockene Gras unter mir. Kann Gras eine angenehme Stimme haben? Weich wie Samt. Es legt eine Hand auf meine linke Schulter. »Heinrich?«
»Lass ihn pennen«, sagt eine andere Stimme. »Letzte Nacht hab ich ihn rausgeworfen. Hat auf dem Stuhl geklebt wie Pattex. Weiß gar nicht, wie er es ins Bett geschafft hat. Ich hab das Drama nur bis zum nächsten Verkehrsschild verfolgt.«
Verkehrsschild? In meinem Bett bin ich aufgewacht. Und es duftet nach Parfüm. Ruckartig öffne ich die Augen. Magdalena lächelt, sieht mich an und lächelt dann etwas breiter. »Da ist er ja.«
»Klar. Wo sonst?«, erwidere ich, reibe die Augen und richte mich auf. Einmal tief durchatmen. Warum habe ich noch nichts zu trinken? »Walter? Bekomme ich nen Espresso?«
»Sobald die Maschine sich aufgeheizt hat!«
»Dann mach mir bitte einen Southern mit Cola und Zitrone. Brauch Vitamine.«
»Sicher?«
»Ganz sicher.«
Magdalena packt ein Notizbuch aus, legt es auf den Tisch, schaut mich an und nickt zu der Kladde. Lederner Einband. Sieht sehr edel aus. Etwas, das man nicht alle Tage sieht. »Walter hat mir gerade erzählt, du schreibst Gedichte. Und es wären gute Gedichte. Die Menschen würden sie mögen.«
»Ja, ich glaube, die Menschen mögen die Gedichte. Mit mir haben sie aber Schwierigkeiten. Das liegt wohl in der Natur der Sache.« Ihr Lächeln verschwindet nicht, stattdessen öffnet sie die Kladde und schiebt sie ein Stück in meine Richtung.
»Ich schreibe auch. Schon lange. Gezeigt habe ich sie aber noch niemand. Und …«, Magdalena stockt, schluckt, ein dicker Kloß rutscht die Kehle hinab. »Und Walter hat mir eines von deinen Büchlein gegeben, die er verkauft.« Sie sieht mich mit kurzem Augenaufschlag an. Der packt und schüttelt mich. »Ich habe es bezahlen wollen, aber er hat abgelehnt.«
»Ja, ist okay. Das darf er. Für besondere Menschen …«
Magdalena schweigt. Vielleicht hat sie es überhört, dass sie der besondere Mensch ist. Also nehme ich die Kladde und endlich kommt auch das Getränk. Ich schlürfe und lese.
»Ich vertraue dir. Bitte, wenn es scheiße ist, sag einfach nichts, okay?«
Jetzt muss ich was sagen, obwohl ich mitten im Lesen bin. »Klar, aber du solltest nicht denken, dass hier ein Dichter von Welt sitzt. Es muss nur raus, sonst explodiere ich. Verstehste?«
Magdalena nickt und ich blättere weiter. Seite um Seite. Sogar das Trinken vergesse ich. Selbst die Gaggia verschwindet in der Stille. Meine Güte, wie viele es sind, und was für eine faszinierend schöne Schrift und dann folgt eines, dessen erste Worte mich in den Abgrund reißen. Zeile um Zeile ein Albtraum. Keine Satzzeichen, kein Punkt, also auch kein Ende. Ich schließe die Kladde, stehe auf, drücke mich an Magdalena vorbei und verschwinde in der Toilette. Kaum ist die Tür zu, stütze ich beide Hände aufs Waschbecken. Was denkt sie, soll ich jetzt tun? Was kann ich nun sagen? Der Kerl da im Spiegel lebt von Tag zu Tag. Also zweimal kaltes Wasser ins Gesicht, Papiertücher nehmen und abtrocknen. Dann wieder raus. Zwei neue Gäste. Ein Pärchen. Noch nie gesehen. Magdalena ist weg. Nur die Kladde liegt auf dem Tisch. Ein Blick zu Walter, aber mehr als ein Schulterzucken kommt nicht. Er zapft zwei Pils. Was soll er auch sagen … ich hingegen nähere mich der Kladde. Dem ledergebundenen Komplex aus Worten, die tief treffen. Warum hat sie ihn auf dem Tisch liegen lassen? Soll ich das mit nach Hause nehmen? Es muss einen Grund geben. Lies es und … was? Das ist ein verfluchtes Erbe, ich ahne es. Zügig kippe ich den Rest Southern-Cola leer, stecke die Kladde ein, lege Walter Geld auf die Theke und gehe.
Zum ersten Mal in den letzten Tagen seit dem Überstundenabbau sitze ich daheim am breiten Fenstersims der großen Wohnzimmerscheibe, Block und Füller vor mir und Magdalenas Worte. Nach zwei Zigaretten stehe ich auf, gehe in die Küche und schaue unter der Spüle, was da noch zu finden ist. Jim Beam und Jack Daniels, schwarzes Label. Den nehme ich und schenke ein altes Senfglas voll. Stilbruch, aber schließlich bin ich daheim. Zurück im Wohnzimmer, schaue ich nach draußen. Das Übliche. Garagen und das kleine Stück Rasen. Gegenüber Häuser mit demselben Grundriss. Auf einem der vier Balkone steht ein Mann und raucht. Ich hebe die Hand, winke, aber er sieht es nicht. Also einen großen Schluck auf ihn. Dann die Kladde öffnen. Noch mal von vorne. Jedes Wort setze ich nach dem anderen, langsam wie eine Schildkröte arbeite ich mich in Magdalenas Zeilen. Der Pfad durch spätabendliche Dunkelheit, vorbei an jeder Laterne, bis deren Lichtlinie endet im Niemandsland. Das Auto, das anhielt und fragte, ob sie sich hundert Mark verdienen wolle fürs Blasen. Der andere, der für umsonst bereit war, sie mitzunehmen, fürs Ficken. Die Zwei, von denen einer gleich sein großes Gemächt zeigte. Wedelnd. Und sie geht weiter, alles ignorierend.
Ich weine, ohne es zu ahnen. Whiskey, hilf mir … dann bin ich dort, wo es mich aus der Bahn trug. Dort, im Kern. Wieder bleibe ich hängen, blättere einfach zwei Seiten um. Es wird nicht besser. Ihre Lyrik ist faszinierend, in dieser quellwasserklaren Schrift verfasst, aber ein Pandämonium an wenig Erbaulichem, dessen Wiedergeben ich vermeide. Wie kann all das nur mit so sanfter Schrift geschrieben sein? Mit einem Ruck schließe ich das Tor zu Magdalenas Tagen und Nächten, trinke aus und schenke nach, stehe auf, mitsamt Glas in der Hand tapse ich ins Bad. Vor dem Waschbecken stehend, schaue ich in den Spiegel und entdecke mich. Das Bild ist dieser junge Mann, der aussieht, als hieße er Heinrich. Dann jedoch ist dahinter noch etwas. Hinter den braunen Augen, den Locken, dem Wochenbart. Etwas Fremdes. Ein Wesen, das ich nicht mag. Zügig trinke ich einen großen Schluck und rasiere mich, was ich besser nicht getan hätte. Tränen und Blut vermengen sich, beginnen den gemeinsamen Weg übers Kinn, tropfen aufs grelle Porzellan. Ich schalte die Lampe aus. Kaum Tageslicht, ein Schatten im Spiegel. Blutender Schatten. Dunkle Tropfen. Jack Daniels in die hohle Hand und ab damit ins Gesicht. Schwer zu sagen, ob das Schmerz ist oder Erlösung. Erlösung von den Worten in der Kladde. Warum hat sie mir das Büchlein überlassen? Was hat sie sich davon erhofft? Läuterung? Aber ich bin keiner dieser Männer dort drin. Ich schlage nicht. Ich demütige nicht. Aber ich bin trotzdem einer von ihnen. Geboren als sie. Ist es das? Oder hoffte sie auf meine Gedichte, auf mich als den Herold. Lampe an und waschen, weg mit Blut, Tränen und den Bartresten. Danach werde ich zu Walter gehen, Magdalena finden und vielleicht fahre ich sie nach Hause, um das Haus samt Insassen niederzubrennen. Bleibt eine andere Lösung? Was ziehe ich an? Alte Kleider. Nichts Auffälliges. Magdalena soll nicht denken, ich wolle Eindruck schinden. Ich will nur … ich weiß nicht, was ich will. Nur raus. Einen Southern trinken.
Walter trocknet Gläser, stoppt, kneift die Augen zusammen und beugt sich zur Theke. Drei Standardgäste auf Barhockern, mein Ecktisch ist frei, ein Pärchen neben dem Eingang, Händchen haltend. Walter hat eine Kerze auf den Tisch gestellt. Ob der Kerl sie jemals schlagen wird?
»Was ist mit deinem Gesicht passiert?«
»Im Dunkeln geschnitten. Birne ist kaputt gegangen.«
»Wenn die Birne kaputt ist, warum hast du dich dann überhaupt rasiert? Hättste eine neue gekauft und fertig. Muss ich das verstehen?«
Einer der Barhocker dreht den Kopf, macht eine anerkennende Geste. »Keine halben Sachen gemacht, was?«, merkt er an.
»Mach ich nie.«
»Ich bring dir einen Southern?«
»Gerne, Walter. Einen doppelten, bitte.« Kaum sitze ich, kommt er, legt einen Bierdeckel vor mich, stellt das Glas drauf und zieht einen Strich. »Hast du Magdalena gesehen?«, frage ich spontan. Er setzt sich.
»Nein. Ich hab gedacht, vielleicht seid ihr ja jetzt zusammen und sie ist bei dir.«
»Nein, wir sind nicht zusammen. Wir sind ja nicht mal ineinander verliebt.«
Er wirft den Kopf nach hinten, lacht, beide Hände kommen hoch. »Weiß man’s? Für mich hat das ausgesehen, wie so zarte Bande, die da wachsen …« Ich sehe ihn über den Glasrand hinweg an, trinke einen kräftigen Schluck. »Ja, warum fragst du dann nach ihr, wenn da nix ist?«, hakt er nach. Noch ein Schluck, dann setze ich ab.
»Ich dachte, ich könnte sie nach Hause fahren, um dann dort alles abzufackeln.«
»Wie?«
»Hast du schon mal eine Frau geschlagen, Walter?«
Seine dichten Augenbrauen zucken nach oben.
»Ich?! Wie kommst du da drauf? Mein Lebtag nicht würde mir so was einfallen.« Ich nicke und höre gar nicht mehr auf. Noch ein großer Schluck. Schon ist es leer.
»Machst du mir noch einen?«
Er steht auf. »Klar. Heute willstes wissen, was?« Die Antwort bleibe ich ihm schuldig. Hinter der Theke dreht er die Kassette. Die Misfits drücken Gitarren und Gesang in den Keller. Ich stehe auf, nehme ihm das Glas über die Theke ab.
»Ich gehe mal kurz an die frische Luft, okay?«
»Alles klar, Heinrich.«
Schnell bin ich vor der Tür, die Treppen hinauf, schaue auf den Verkehr. Die Litfaßsäule. Konzerte, Theater, irgendwo. Keine Magdalena, nur die Kladde bleibt, mit den Worten darin, auf ewig in mein Hirn gebrannt. Soll ich sie suchen? Die Straße abfahren, um sie zu entdecken? Abend für Abend? Vielleicht vergeblich? Tue ich das? Ich werde wütend. Mehr als wütend. Es endet mit einem geworfenen Glas Southern Comfort gegen eine unschuldige Litfaßsäule und meinem Wunsch, es möge mich treffen oder jedenfalls den Richtigen.
ist sehr lange her dass ich Steinbeck gelesen habe, aber irgendwie musste ich bei der Geschichte an ihn denken.
Eine Parallelwelt zu meinem Leben, es schmerzt, fürchte aber, dass es solche Leben immer geben wird.
Super erzählt!
Guten Morgen Annette,
nun, die Parallelwelten sind mitten unter uns. Jeden Tag. Man bemerkt sie nur nicht. Geht dran vorbei. Oder gewöhnt sich so sehr an sein eigenes, dass andere kaum noch auffallen. Danke fürs Lesen. Freut mich, wenn es dir gefallen hat.
Gruß
Heiko