KURZGESCHICHTE | Ich kenne sie nicht. Und den Rest hier drin kenne ich ebenfalls nicht. Nur die Hände kommen mir bekannt vor. Müssen meine sein. Ziemlich groß, ziemlich kräftig. Heute Morgen haben sie noch zwei Euter gemolken, Kolostralmilch für die beiden Kälber. Namen gab es noch nicht. Ein Schwarzbuntes, ein Fleckvieh. Doch wer ist jetzt sie? Die mein Glas aufgefangen hat, und sich gegen mich lehnte, mein Kippen verhinderte. Zu viel Schwarzlicht hier drin. Und zu viel Jim Beam im Kopf. Wird Zeit, den Heimweg anzutreten.
»Danke«, sage ich, obwohl meine Stimme gegen Ted Nugent nur versagen kann. Und Lippen lesen wird sie nicht können. Dafür lächeln. Mir wird schlecht. Im Schwarzlicht ist das wohl besonders gut zu erkennen.
»Komm!«, höre ich eine Stimme. »Ich bringe dich raus!«
Nicken. Mehr geht nicht. Ans Bezahlen denke ich nicht, sehe aber einen Fünfziger auf der Theke. Wo sind wir eigentlich? Jetzt ist Ted Nugent endlich am Ende und ich möchte etwas sagen, aber schon geht es weiter mit Mothers Finest. Wer hier bloß die Musik zusammenstellt … die Übelkeit kommt, steigt höher. Die Hand zieht an meiner. Dann der schwere Vorhang, Holztür, endlich draußen. Ein Balken harten Holzes trifft mich. Mitten auf der Stirn. Dabei ist es nur die frische, kühle Luft. Und der Abfalleimer der Stadt Karlsruhe am Verkehrsschild zieht mich magisch an. Ich übergebe mich hinein. Die Menschen auf dem Bürgersteig stört es nicht sonderlich. Nach einer weiteren Ladung wird es besser. Ein Tippen auf der Schulter. Ich richte mich tief einatmend auf und sehe eine Dose Cola, trinke sie in kleinen Schlucken leer.
»Gerade noch gerettet«, sagt die Stimme hinter mir. »Sie haben das nicht so gerne, wenn man über die Theke kotzt.«
Mir ist das egal. Theke oder Mülleimer draußen. Wo ist meine Jacke? Und meine Maschine? Ein ordentlicher Rülpser folgt. Die Umstehenden klatschen Beifall. Von links kommt ein Joint. Ich ziehe kräftig. Halte die Luft an. Das muss Heu sein oder Stroh. Schmeckt fürchterlich und zieht Rillen in meine Kehle. »Oh Gott«, rutscht mir raus. »Sind das die Reste einer Brombeerhecke?« Das erzürnt jemand und der Joint wird mir aus der Hand gerissen.
»Komm, wir gehen ein Stück weiter.«
Schon wieder die Stimme. »Sagt wer?«
»Sage ich. Ich muss ein paar Meter frische Luft schnappen.«
Endlich schaffe ich es, mich zu drehen, der Blick klärt sich zusehends, Nebelbänke lösen sich auf. Das Gesicht von drinnen. Aber ohne Schwarzlicht ein ganz anderes. Eine Frau. Junge Frau, vielleicht. Alle Haare zu einem straffen Zopf gebunden. Strähnchen sind zu sehen. Blond, hellbraun, dunkelbraun, alles mögliche an Farben. Und alles inmitten von Schwarz.
»Kenne ich dich?«
Sie schaut mich an und schiebt, presst ihre Hand gegen meine Brust. »Nein, aber lass uns hier weg.«
»Aber meine Maschine …«
»Was für eine Maschine?«
Ich beuge mich nach rechts, zeige auf die Reihe Motorräder am Eck. »Die weiß-rote Yamaha. Die muss mit. Kann ich doch nicht hier stehen lassen …«
»Du kannst nicht mehr fahren.«
»Ach nee, das weiß ich auch. Tu ich aber trotzdem. Mit der Schüssel fahre ich dem Grünweiß-Club davon. Nummernschild abschrauben. Wäre nicht das erste Mal. Sind extra Flügelmuttern dran mit Sprengring.«
»Mit was?!«
»Vergiss es.« Ich schwanke und schaffe es noch zum nächsten Verkehrsschild. Eingeschränktes Halteverbot. »Nachher muss ich auf dem Hof sein. Halb sechs. Die Schweine warten nicht.«
Sie starrt mich an. Der Verrückte muss ganz klar ich sein. Jetzt fällt mir auch ein, wo ich bin. Karlsruhe, Café Linz. Klar, eine Band wollte spielen, aber die wurde verhaftet, erklärte einer und es gab die übliche Musik, ohrenbetäubend, dazu das Rabattgetränk. Jim Beam mit Cola. Und wenn man nur Jim Beam samt Cola orderte, wurde es nach dem dritten Glas günstiger.
»Ich weiß nicht, was du mir da erzählst. Schweine. Warum Schweine?«
»Ich mach ne Lehre. Landwirt. Auf ner Schweinefarm in Bruchsal.«
Sie zieht beide Augenbrauen nach oben. Dort bleiben sie wie fest getackert. Vier Querfalten entstehen auf der Stirn. Ich pruste Luft aus und grinse.
»Was?!«
»Sieht lustig aus die Falten da oben.« Geschrei hinter uns. Der Türsteher wirft einen Gast auf den Bürgersteig, gibt ihm noch einen Tritt in den Hintern mit auf den Weg. Sie schaut auf die Uhr.
»Ich lache später. Ist halb eins jetzt. Gehen wir zu mir. Schlafen. Ist grad ums Eck. Um viertel vor fünf muss ich auch raus. Reicht dir das nach Bruchsal?«
»Klar. Bin schnell wie der Wind und zäh wie Leder …«
Das hört sie nicht mehr oder will es nicht hören, ist schon unterwegs Richtung Waldhornstraße. Mir bleibt nur, ihr zu folgen. Auf die Schuhe blicken. Schön langsam und konzentriert.
Constanze, so heißt sie. Mit ‚C‘, das betont sie gesondert. So schön der Name, so verheerend ist der Zustand ihrer Wohnung. In einem Zustand fortschreitender Verwahrlosung, wenn ich ihrer Beschreibung glauben darf. Die Frage nach dem Ändern dieses Zustands verkneife ich mir. Aus einer Kram-Schublade unter dem mit Resopal beschichteten, komplett vermackten Küchentisch, nimmt sie eine noch verpackte Zahnbürste. Staubiges Plastik. Ungelenk reißt sie die Hülle ab und hält sie mir unter die Nase.
»Hier. Immer Zähne putzen nach dem Kotzen.«
»Klar. Wo schlafe ich?«
»Wohnzimmer. Ich schiebe die Zeitungen von der Couch. Decke ist vielleicht bisschen dreckig. Aber …«, sie grinst. »Wie ich hörte, arbeitest du auf ner Schweinefarm.« Ab ‚…farm‘ geht ihr Satz im Lachen unter. Ich nicke dazu und suche das Bad, entdecke und erkenne es an der Kloschüssel, alte Drucktastenspülung, ganz schreckliche, grüne Fliesen, die Badewanne sieht aus, als könnte ein Geologe Erdzeitalter an den unterschiedlichen Rändern analysieren. Immerhin funktioniert das Warmwasser und Zahnpasta finde ich auch. Tür gibt es keine, und über den Spiegel sehe ich Constanze sich im Zimmer gegenüber ausziehen. Bis auf die Unterhose. Hastig schaue ich ins Waschbecken. Weiße Zahnpasta, schaumig, ich spucke aus, spüle nach und blicke nicht in den Spiegel. Handtuch ist Fehlanzeige. Also Pulloverärmel.
»Kann ich rauskommen?«
»Klar kannst du rauskommen. Hab nix zu verbergen. Du?«
»Tja, ich weiß nicht …« Der Blick auf die Badewanne ist nicht erhebend. Ihre Schritte sind hinter mir. In den Augenwinkeln sehe ich sie vor dem Spiegel stehen, will nicht hinsehen und kratze meine Schläfe.
»Bist du schüchtern, oder was?«
»Na, irgendwie schon. Also …«
»Ach was«, sagt sie, zieht die Unterhose auf die Knöchel und setzt sich auf die Brille. Es plätschert. Mir wird ganz anders, drehe mich um und finde die von der Couch geschobenen Zeitungen, Zeitschriften, Magazine, Schulhefte, Lexika … ein Sammelsurium an gedruckten Worten und Bildern. Und die wohl ehemals rote Decke, jetzt eher ein Staubfänger. Constanze drückt die Spülung. Es rauscht. Wasser läuft, dann steht sie im Flur. Nichts mehr an. Sie winkt und verschwindet im Schlafzimmer. Ein lautes ‚Gute Nacht‘, dann quietscht ein Rost mehrmals laut. Lege ich mich jetzt auf diese Decke? Was tue ich hier? In ein paar Stunden muss ich im Stall stehen. Aber sie hat recht. Fahren könnte kritisch werden. Einige der alten Zeitungen werden hilfreich sein. Ich falte sie auseinander, mehrlagig und überdecke die ganze Liegefläche. Dann lege ich mich drauf. Eine weitere Lage auf mich angezogenen Kerl und darüber dann die wie auch immer farblich geartete Decke. Sie stinkt. Nach was, möchte ich nicht herausfinden. Es raschelt und knistert beim auf die Seite drehen. Ich fluche. Das Licht brennt noch. Gerade als ich aufstehen will, höre ich Schritte.
»Na so was! Traust du meiner Decke nicht? Okay, ist alt, aber ich habe sie ab und zu gewaschen. Wie soll ich schlafen, wenn es die ganze Nacht so raschelt?«
»Keine Ahnung.«
Und wieder schieben sich die Augenbrauen in die Stirn, ein System aus Flüssen und Bächen entsteht. »Komm!«, fordert Constanze mich auf. »Aber in meinem Bett werden alle Klamotten ausgezogen!«
»Okay.«
Ich folge ihr, stehe neben dem Bett, das aussieht, als wäre es von einem völlig wahnsinnigen Schreiner aus allem zusammengeschraubt worden, was als Holz draußen aufzutreiben war. Bretter aller Art. In allen Farben lackiert, abgewetzt, zerfurcht. Ich muss auf Spreißel achten. Ausziehen, aber in leicht gebückter Haltung. Dann friere ich mit einem Mal.
»Auf! Rein! Ich hab kalte Füße. Männerfüße sollen ja angeblich wie Wärmflaschen sein.« Sie hebt die Decke an. Da liegt sie und ich frage mich, wie alt sie ist. Und ob das zwischen dem großen Tattoo Narben sind oder etwas anderes, von dem ich nicht wissen will, was. Hinein ins Bett. Neben Constanze. Meine Füße sind immer warm. Egal zu welcher Jahreszeit. Sie merkt es sofort und legt ihre auf meinen Spann. Wie klein sie sind. Da sind die Brüste in meinem Rücken, drücken ein wenig, und Constanzes Arm auf meiner Seite, die Hand auf dem Brustbein. Sie atmet ruhig und ich bekomme eine Erektion. Hoffentlich merkt sie es nicht.
»Ich weiß, was da abgeht«, flüstert sie in meinen Rücken. »Ist normal. Mach dir nichts draus.«
»Darf ich dich was fragen?«
»Klar.«
»Wie alt bist du?«
»Vierundzwanzig. Und du?« Ich schlucke. Vierundzwanzig Jahre? Das kann nicht sein. Hätte sie vierunddreißig gesagt, wäre es mir real vorgekommen. Aber so?
»Neunzehn.«
»Neunzehn? Das ist süß.«
»Süß?«
»Schlaf jetzt.«
Pünktlich bei den Schweinen gewesen. Das ist die Hauptsache. Dem Chef ist es egal, wo ich meine Nächte verbringe, einzig und allein die Pünktlichkeit ist ihm wichtig – und natürlich den üblichen Zwölf-Stunden-Tag muss ich durchhalten; oder auch mehr, wenn Saat- und Erntewochen kommen. In aller Regel schlafe ich unter der Woche auf dem Hof, in einem Zimmer, das die Bezeichnung spartanisch nicht annähernd erreicht. Deshalb nächtige ich an Wochenenden durchaus bei Menschen, die ich in Karlsruhe kennenlerne oder bei guten Kumpels vom Agrargymnasium, das direkt an unsere Berufsschule grenzt und mit denen zusammen ich eine Schülerzeitung betreibe. Doch Constanze hat mich auf eigenartige Weise gefesselt; in ihren Bann gezogen. Und so haben wir uns nach dieser einen gemeinsamen Nacht in ihrem Bett für den folgenden Samstag verabredet. Aber nicht im Café Linz, nein, vor einer ordinären Pizzeria in der Karlsruher Südstadt, ein paar Meter von der Schauburg entfernt. Dort stehe ich und warte neben dem Eingang. Pünktlich. Samstagabend, kurz vor sieben Uhr. Es wird voller im Restaurant. Die Menschen wollen noch etwas essen, bevor sie ins Kino gehen oder ins nahe Staatstheater. Sonderlich warm ist es nicht auf dem Bürgersteig, aber auszuhalten. Und um halb acht schwant mir, dass ich versetzt wurde, setze den Helm auf, starte die Yamaha und fahre in die Waldhornstraße. In der Wohnung brennt Licht und einige Schatten eilen hin und her. Ich klingle und sofort wird geöffnet. Lärm im Treppenhaus, Fisher-Z, wenn mich nicht alles täuscht. Dritter Stock, die leicht ramponierte Wohnungstür ist angelehnt, Red Skies over Paradise läuft, ein guter Song und vor dem, was besungen wird, haben wir alle Angst. Den Helm unter den Arm geklemmt, trete ich ein. Chaos empfängt mich. Es hat sich nichts geändert seit meinem letzten Hiersein. Lediglich ein paar Menschen stehen herum und einige davon völlig nackt. Vielleicht bin ich in der falschen Wohnung? Aber nein, da ist der Kalender von 1978. Frühling in West-Berlin. Ein junger Mann kommt auf mich zu, lächelnd, nimmt mir Helm und Jacke ab, redet einfach nichts.
»Hallo, ist Constanze da?«
Ein Schulterzucken samt Dauerlächeln. Ob er nicht friert? Ich schließe die Tür, schau auf meine Springerstiefel und ziehe beide aus. Schließlich laufen alle ohne Schuhe herum, oder eben ohne Socken. Nur die Augen muss ich aufhalten nach Gegenständen, die schmerzhaft an den Fußsohlen sein können. Und genau verfolgen, wohin der Typ Helm und Jacke legt. Er geht in die Küche und wirft beides auf den Herd. Nirgendwo Constanze zu sehen. Dafür noch eine nackte Frau auf dem Schoss eines Kerls, der Nietzsche liest, den Einband gegen den Busen der Frau gedrückt. Nietzsche wäre nicht amüsiert, so viel steht fest.
»Willsten Bier?«
Eine weitere junge Frau hinter mir. Immerhin ein Holzfällerhemd an, wenn auch nur mit einem Knopf verschlossen.
»Nein, danke. Bin kein Biertrinker. Was habt ihr sonst noch?«
»Och, alles. Kannst alles haben. Guck dich nur um. Haste zufällig was mitgebracht?«
»Nur mich.«
Sie kichert, Hand am Mund und beugt sich vor. Kichert noch mehr. »Na, du bist ja mal lustig. Nur mich …« Sie streckt sich wieder. »Aber ich kann dich nicht in der Pfeife rauchen, oder?«
»Paar Haare könnte ich abgeben.«
Das ist zu viel für sie. Aus dem Kichern wird ein Lachen. Ihre kleine Hand auf meiner Schulter. Klopft immerzu und lacht. Nirgendwo ist Constanze zu sehen. Vielleicht sollte ich wieder gehen. Aber die kleine Hand nimmt meine und führt mich ins Wohnzimmer. Kichernd. Dort wird recht unorthodox getanzt. Das waren also die Schatten, die ich von der Straße aus sehen konnte. Rhythmische Bewegungen sind das nicht, aber so kann man eine Menge Energie loswerden. Jedenfalls muss ich aufpassen, wohin ich trete. Abgesehen von Gläsern verschiedenen Füllstands, in denen mir unbekannte Flüssigkeiten stehen, vielleicht schon länger als diese Party dauert, gibt es Aschenbecher, Bongs, Nordkorea-Fahnen, zwei Mao-Bibeln, eine Ché-Kappe, neue und abgebrannte Kerzen, Chips unterschiedlicher Größe, Form und Farbe, Socken, Schuhe, diverse andere Kleiderteile, die Couch ist belegt mit zwei küssenden Männern; und überraschenderweise sind alle Zeitschriften, Magazine und Zeitungen verschwunden. Von Constanze ist nichts zu sehen. Ich will sie jedoch sehen. Ich muss sie sehen. Ein solch sonderbarer Mensch zieht mich immer magnetisch an. Die kleine Hand lässt los, ich stehe mitten im Wohnzimmer und suche einen Stuhl, einen Sessel, irgendwas, um mich hinsetzen zu können. An der Fensterseite ist noch eine Art Couch. Breit, mit bunten Decken, Batikbezügen, ohne Lehne, aber es ist Platz drauf. Also setze ich mich, einfach hineinfallen lassen. Der Schmerz im Hintern ist nicht gering. Das verzerrte Gesicht verkneife ich, stehe auf und schaue unter die Decke. Jemand hat alle Magazine sauber zu einer Sitzfläche gestapelt. Drei Meter breit, achtzig Zentimeter tief. Eine Menge Zeitschriften. Kein Wunder, dass es so hart ist und offenbar niemand drauf sitzen möchte. Die junge Frau mit dem Holzfällerhemd kommt, eine Flasche Jack Daniels in der Hand.
»Hier. Hab ich mitgebracht. Trink auch kein Bier, weißte? Bier ist was für Proleten. Findest du doch auch, oder?«
»Ich gebe dir recht. Bier ist was für Proleten.« Sie kneift ein Auge zu und schneidet eine Grimasse.
»Sagst du jetzt nur, um mir zu gefallen? Oder wie?« Ich lehne mich an, nehme den Jack Daniels, den sie zwischen uns gestellt hat, schraube die Kappe ab und trinke einen großen Schluck. »Es gibt auch Gläser.« Mein Blick geht zu den Gläsern in meinem Sichtbereich. Ihrer folgt. »Okay, aus denen würde ich auch nicht trinken wollen. Aber irgendwo steht sicher noch ein sauberes …«, meint sie und zieht die Flasche an sich, trinkt einen ebenso großen Schluck.
»Ich mag keinen Fußball, ich mag kein Bier, ich mag keine Autorennen. Glaub es oder nicht.«
Sie trinkt erneut, setzt ab und reicht mir die Flasche. »Okay, glaub ich.«
»Danke.«
»Gibt zu viele Spinner«, stellt sie fest.
»Wie heißt du eigentlich?«
»Ist das wichtig?«
Während ich wieder ansetze, dieses Mal etwas mehr, denke ich drüber nach, ob es wichtig ist, den Namen zu kennen und komme zu keinem zufriedenstellenden Ergebnis. »Ehrlich gesagt, ich weiß nicht. Ich nenne dich Karla, falls das okay ist. Anonymität ist immer scheiße.«
»Karla gefällt mir. Ist gut. Und du?«
»Nenn mich Carlo.«
Sie grinst und schnappt nach der Flasche. Das Holzfällerhemd schwingt auf. Ein großer Busen steht im Raum und vibriert. »Karla und Carlo. Das gefällt mir.«
»Ich war mit Constanze verabredet vor eine Pizzeria in der Marienstraße. Weißt du, wo sie ist?«
Karla lacht. Trinken geht nicht, also tue ich es dafür. »Du meinst die Pizzeria neben der Schauburg?«
»Ja.«
»Oh Mann, dort hin verabredet sie sich immer, aber ich schätze, noch niemals ist sie auch gekommen. Sie geht nur allein in den Laden. Niemand weiß, wo Constanze ist. Die Tür ist offen, sie hat zur Party geladen, wir sind gekommen, aber Constanze ist unterwegs. Vielleicht ist sie nach Berlin oder nach Hamburg oder pennt auf Gleis drei am Bahnhof, bis die Bullen sie wegjagen.«
»Und das gibt keinen Ärger mit dem Vermieter oder den Nachbarn? Oder Constanze? Wenn die Wohnung verwüstet wird?«
Karla klemmt die Augenbrauen zusammen. »Was sollte man denn hier verwüsten? Ist doch alles wüst.« Ich trinke und reiche ihr die Flasche.
»Tja, da hast du wohl recht.«
Jemand drückt eine Zappa-Kassette in das Deck. Over-Nite Sensation. Mein Fuß tippt den Takt, ich singe mit und trinke ein weiteres Mal. Karla zieht mir die Flasche aus der Hand, packt meinen Unterarm, will dass ich aufstehe.
»Was ist?«
»Komm! Tanzen! Karla und Carlo tanzen.«
Warum nicht? Die paar Bedenken wegen der vielen kleinen und großen Gegenstände auf dem Boden vergesse ich nach einem erneuten Schluck Jack Daniels. Wir beginnen mit dem, was andere konvulsivische Zuckungen nennen würden. Nach zwei Songs ist die Flasche schon recht leer und mit Beginn von Dirty Love nestelt sie an meinem Pullover. Ich ziehe ihn aus. Das stellt sie nicht zufrieden. Das T-Shirt folgt. Dann meine Jeans, die Socken und am Ende des Songs habe ich ebenfalls nichts an. Mir ist es egal, denn auch Karla hat das Holzfällerhemd in die Ecke geworfen, zwischen eine vertrocknete Yucca und der grünen Gießkanne. Zomby Woof bringt sie näher an mich heran. Kaum ein Blatt Papier passt in manch Moment zwischen uns. Ein Kerl nimmt ihr die Flasche aus der Hand, setzt sie an und ist im Begriff sie zu leeren. Ich will protestieren, aber Karla springt mich aus dem Stand an, klemmt die Beine um meine Hüfte.
»Tanz weiter«, flüstert sie in mein linkes Ohr. Ich weiß nicht, was geschieht, in mir oder mit mir, mit allem hier, aber ich lass die Zuckungen links liegen, lege die linke Hand unter ihren Hintern, die rechte auf den schmalen Rücken und versuche mit Zappa zu schwingen. Versuche Dünung auf dem Meer zu sein, Fluss in einer Auenlandschaft; während Karla mich anschaut, jede meiner Kopfbewegungen mitmacht. Vielleicht bin ich hier auf einer Geburtstagsparty von Elfenwesen? Und Constanze hat Menschen eingefangen, um sie hierher zu locken. Dinah-Moe Humm öffnet ihre Lippen.
»Trag mich hier raus, bitte.«
Das ist nicht einfach mit ihr auf den Armen. Manch Schmerz unter den Füßen muss ich ignorieren. Zwischen den Tanzenden hindurch, vorbei an Diskutierenden, Kiffenden im Flur, ins Zimmer mit dem Eigenbaubett, das besetzt ist von drei Leuten, die sich redlich Mühe geben mit der Liebe, aber zu betrunken sind. An der linken Wand ist so etwas wie ein Matterhorn der Kleider. Vorsichtig gehe ich in die Knie, stütze mich ab, doch Halt gibt es nicht zwischen Klamotten aller Art. Wir fallen mitten hinein in Socken, Hosen, Blusen, Shirts, Bettzeug und das eine oder andere Kissen. Dann liegen wir. Es ist warm. Die Heizung gibt alles und ich beginne zu schwitzen. Karla schaut mich an. Irgend etwas muss sie in mir oder hinter mir sehen. Ein Kerl kommt und fragt uns nach Essbarem. Karla lacht.
»Hol uns mal einen kräftigen Klumpen, dann sag ich dir, wo die Chips sind.« Er zieht die Augenbrauen hoch und ist im Nu verschwunden, kommt umgehend wieder mit einem dunkelgrünen, harzigen Klumpen. »Guck in der Waschmaschine nach. Da sind jede Menge Chips und Salzstangen drin.« Das Leuchten in seinen Augen wird groß und er ist weg. Karla lächelt mich an, bricht den Klumpen entzwei, steckt sich die eine Hälfte in den Mund, mir die andere. Bevor ich was sagen kann, sind ihre Lippen auf meinen, wir küssen das Zeug nass, spielen mit den Zungen daran und meine Erregung tut fast weh. Doch wir blicken uns nur in die Augen. Es gibt nirgendwo richtiges Licht. Sind es dunkle oder schwarze Augen? Doch vielmehr als die Farbe ist etwas anderes zu sehen. Zwei Schwarze Löcher, zwei endlose Tunnel in einen Abgrund, der mich ängstigt. Das Zeug beginnt zu wirken, es kribbelt in meinem Nacken, in den Fingerspitzen. Ich sehe eine Spinne und schrecke hoch. Karla zieht mich hinab. Schaut in meine Augen. Die Spinne ist nur ein Netzhandschuh. Ein Reflex in meiner rechten Hand, sie wandert in ihr Gesicht und streichelt alle Formen, Kanten und Linien nach, die es zu entdecken gibt. Wieder und wieder, vorwärts, rückwärts, abwechselnd. Das Gesicht und darin die beiden schwarzen Tunneleingänge. Etwas in ihr presst Wasser nach oben, aus den Tunnelportalen, auf ihre Wangen, den Nasenrücken. Karla weint. Mein Kopf schwirrt, leichter Schwindel. Warum Tränen? Was hab ich getan? Nichts. Ich habe nichts getan. Wir haben getanzt, sonst nichts, und das nackt, umschlungen, mit einem Lächeln und mit Hingabe und doch weint sie. Leise. Ein stilles Weinen. Würde sie mich dabei nur nicht so intensiv anschauen …
Langsam ziehe ich meinen anderen Arm unter uns hervor, habe nun beide Hände, um ihr Gesicht zu berühren, die Tränen wieder und wieder aufzufangen. Sie zu küssen traue ich mich nicht. Karlas kleine Hand liegt auf meiner Wange, kaum zu spüren. Kühl, trotz der Hitze im Raum. Die meisten Geräusche höre ich nur noch gedämpft, ein Murmeln, seltsame Musik, nicht mehr Zappa. Das Zeug im Mund ist bitter und süß, schmilzt, und ich habe den Eindruck, es lähmt Kiefer, Zunge, den Rachen, vielleicht sogar mich. Mein Hirn schwappt andauernd dumpf gegen die Schädeldecke, unter Wasser haut ein Typ unregelmäßig einen Hammer gegen die Beckenwand. Und Karlas Tränen fließen. Nichts kann ich dagegen tun. Also schließe ich beide Arme um ihren schmalen Körper, drücke sie an mich, kraule die Haare und flüstere alles, was mir einfällt in ihr linkes Ohr. Dass ich letztens ein Kalb auf die Welt brachte und ein paar Wochen vorher ein Lamm, und dass es ganz schön knapp war mit dem Lamm, Querend-Lage, Fruchtblase geplatzt, aber es wollte leben und ich lag auf der Wiese, mit Tränen in den Augen und das Kleine begrüßte Sonne, Himmel und alle anderen Schafe mit lautem Rufen, dass eine Distel unter meinem Rücken lag und mir das egal war. Ich bin es nicht, der dort in Karla sitzt, einbetoniert, festgezurrt in Ängsten und unentwegt am Rad der Tränenmaschine kurbelt. Sie ist nackt. Ich bin es. Aber so kann ich all das spüren, was in ihr passiert. Leichtes Zittern, die Finger greifen ein Stück meiner Rückenhaut, krallen hinein, pressen, das Pochen am Hals, schnelles Atmen. Ich traue mich nicht, es zu sagen, aber sie hat Panik. So stülpe ich meinen Mund über ihren und atme in sie hinein. Bis sie sich wieder beruhigt und nur die Tränen bleiben. Die küsse ich weg. Salzig, warm, doch in ihre Augen sehen, macht mir Angst.
»Karla«, sage ich leise. Der Klumpen ist weg. Ich merke, dass ich leicht geworden bin. Halbe Schwerkraft auf dem Planeten. Keine Ahnung, warum. Haben wir Masse verloren? Wann? Letztes Jahr? Hat man alle Idioten von der Oberfläche entfernt? Ab in die Sonne? »Karla«, wiederhole ich.
Ihr Mund an meinem Hals. »Könntest du mich lieben?«, ist da ihre Frage.
»Ich weiß es nicht. Vielleicht …«
Aber keine Erwiderung mehr. Gleichmäßiges Atmen. Sie ist eingeschlafen. Ich decke uns zu mit einem Wintermantel, einer Sommerjacke, drei Pullovern und zwei Kleidern. Das muss genügen für Karla und Carlo.
Wachwerden ist nicht immer eine Freude. Es kann schmerzhaft sein. Einen dicken Schädel habe ich nicht, stattdessen reißt jemand an meiner linken Niere. Heftig. Ich umarme lediglich ein Kissen. Keine Karla mehr da. Stimmen von einem weit entfernten Kontinent. Gelächter. Und ein Stöhnen. Es wird heftiger. Die Kleidermatratze unter mir gibt nach, als ich mich hoch stemme und schmerzhaft an etwas in der Nierengegend erinnert werde. Ein Blick und ich hoffe, es ist eine Halluzination. Der Metallstift einer Gürtelschnalle steckt da im Fleisch. Ich ziehe ihn raus. Fast zur Hälfte ist er mit Blut verschmiert. Warum habe ich das nicht gemerkt heute Nacht? Wie ein Walross krieche ich von den Kleidern runter, Richtung Bett, stütze mich ab, stehe auf und sehe den Hintern eines Kerls, der sich auf einer jungen Frau abmüht, die ich gestern nicht gesehen habe. Sie schaut mich an ihm vorbei an, grüßt mit einer Hand, zwinkert mir zu und legt die Hand wieder auf den Rücken des Kerls. Die Schnalle in den Fingern visiere ich die Tür an. Wankender Gang. Etwas stimmt noch nicht mit dem Gleichgewichtssinn. Seltsamerweise fällt mir die Waschmaschine ein und ich schaue nach Chips und Salzstangen. Tatsächlich. Einen Beutel Salzstangen nehme ich heraus, öffne ihn und stopfe die Dinger im Unverstand in mich hinein. Als gäbe es kein Morgen. In der Badewanne liegt jemand. Oder sind es zwei? Schwer zu sagen. Die linke Seite tut weh, sticht, ein Pulsieren. In der Küche wird gefrühstückt, also alle Reste des Abends, essbar oder nicht, mit Händen gegessen.
»Hallo, guten Morgen«, sage ich, bringe aber kaum einen Ton raus. Ich will es sagen oder meine es gesagt zu haben. Keine und keiner hat was an. Fünf Menschen, sechs mit mir. Es ist eine Bullenhitze und auf dem Kühlschrank steht eine Literflasche Cola. Wie ein Irrer in der Wüste greife ich danach, schraube die Kappe ab und kippe das schwarze Zeug in mich hinein. Bis der Kohlensäuredruck zu groß wird. Ich setze ab und ein Rülpser kommt, der möglicherweise noch das Geschirr in der Nachbarwohnung zum Zittern bringt.
»Nicht schlecht«, sagt jemand.
»Habt ihr Karla gesehen?«, ist meine erste Frage. Dann ein spitzer Schrei von einem Mädchen vor mir. Sie deutet mit dem Finger auf mich. Die anderen schauen her. »Was ist? Hab ich da was?«
»Den Abdruck einer Gürtelschnalle und ein Loch.«
Ach ja, die Gürtelschnalle. Ich lege sie auf den Kühlschrank. »Muss wohl aus Versehen drauf gelegen haben. Gibt es irgendwo Klaren?«
»Gibt Tequila«, sagt der Typ gegenüber des Mädchens. Er greift unter den Tisch und reicht mir die Flasche. Halbvoll. Ich kippe etwas in die Handschale, drücke das gute Getränk auf die Hüfte und stöhne. Brennt enorm. Noch einmal.
»Willste nicht lieber zum Doc?«
Ich weiß gar nicht, wer das gefragt hat. Meine Sinne sind vielleicht noch nicht alle wieder angelaufen. »Nee, lieber einen Stuhl. Ich glaub, mir wird schwindelig.« Das Mädchen steht sofort auf, stellt sich an meine Seite und schiebt solange, bis ich sitze. Das Abknicken tut weh, also noch mal Tequila. Ich hoffe, es ist Tequila, setze die Flasche an, um das zu überprüfen. Es ist Tequila. »Warum haben wir alle denn nichts an?«, will ich wissen.
»Man, ist doch arschwarm hier drin. Die Heizung ist irgendwie kaputt.«
»Ja«, erwidere ich. Mehr fällt mir nicht ein. Doch, Karlas Gesicht taucht in meinem Kopf auf. »Also, wo ist denn jetzt Karla?«
»Wer ist denn Karla?«
Ich beschreibe sie und das Gesicht des Typs gegenüber hellt sich auf. »Du meinst Karin. Ja, wahrscheinlich nach Hause. Die wird bestimmt Ärger bekommen und drei Wochen Hausarrest.«
»Warum? Von ihren Alten?«
»Nee, die lebt doch im Heim für schwer erziehbare Mädchen. Hat mal wieder die Sperrzeit übertreten. Um 22 Uhr muss sie am Wochenende auf dem Zimmer sein.«
»Heim für schwer erziehbare Mädchen? Wo ist das denn?«
Er runzelt die Stirn. »Bist wohl nicht von hier, was?«
»Nee, aus Bruchsal.«
»Ja, na dann … das ist draußen in Rüppurr. Ist aber angeschrieben. Straße weiß ich auch nicht.«
»Okay. Danke.« Schon wieder Durst. Die Cola tut gut. Verbessert das Wachwerden meiner Sinne. Ich setze an und versuche leerzutrinken.
Fünfeinhalb Tage denke ich über das nach, was am vorigen Wochenende passiert ist. Erzählen kann ich das niemand hier auf dem Hof. Diese beiden Welten könnten nicht weiter auseinanderliegen. Das mit dem Erzählen stimmt nicht ganz. Den kleinen Ferkeln, vor einer Woche frisch angekommen, berichte ich haarklein, was geschehen ist und wo ich mich in diesem Wirrwarr aus Gefühlen und Erlebnissen befinde; vermutlich befinde. Und bis auf ein paar Querulanten unter den rosa Quiekern, hören alle aufmerksam zu. Es beruhigt mich schlicht und ergreifend, den Tierchen mein Herz zu öffnen. Und auf eine seltsame Weise meine ich, sie können mich verstehen. Schließlich wird ihr Leben in etwa 120 Tagen am Haken in einem kalten Schlachthof enden. Da könnte schon sein, dass sie ein wenig von den Existenznöten des Lebens wissen. Allerdings, das muss ich beschämt zugeben, dauert mein Leben höchstwahrscheinlich länger als ihres; und man wird mich auch nicht durch den Fleischwolf drehen. Ich bin ein Idiot. Es bleibt nur eins: Ich muss zu Constanze und zu Karla oder Karin, wie auch immer. Nach dem Mittagessen kicke ich die Yamaha an und fahre Richtung Karlsruhe, in die Waldhornstraße, schalte den Einzylinder aus und steige ab. Es nieselt. Die Regenhose streife ich vor dem Haus von den Beinen, dann klingle ich. Überraschenderweise wird gleich geöffnet. Ich spurte hoch, trete ein und umgehend auf eine Untertasse, die unter den Springerstiefeln zerbricht. Aus der Küche kommt ein Klappern und Klirren. Ich hebe die Scherben auf, vorsichtig, denke an die Gürtelschnalle, die sich dankenswerterweise nicht entzündet hat und gehe in die Küche. Da ist sie: Constanze. Eine Menge Geschirr im Spülbecken und auf der Ablage. Vergeblich suche ich einen Mülleimer, lege das Porzellan stattdessen auf den Kühlschrank.
»Hallo, Constanze. Warte, ich helfe dir.« Sie schaut kurz her und nickt. Spartanische Begrüßungen sind an der Tagesordnung hier. »Gibt es ein sauberes Handtuch?«
»Irgendwo möglicherweise. Im Bad sind zwei Handtücher die ich heute bei Norma gekauft habe. Nimm eines davon.«
Darüber werde ich mich nicht wundern, hole eines der besagten Handtücher, ein dunkles Gelb. Es ist schön und wir spülen den Berg komplett weg. Fast eine Stunde benötigen wir. Constanze wechselt sogar zweimal das Wasser. Reden tun wir nichts. Ich hänge meinen Gedanken nach, beobachte ihren Nacken, das Tattoo dort, denke an das große auf dem Bauch, an die vierundzwanzig Lebensjahre, die gut und gerne vierunddreißig sein könnten, dann fällt mir Karla ein. Ich fühle mich wie ein Fremder. Unter Menschen, die sich selbst fremd sind. Gestrandeter von Planet X auf dem Planeten Y. Zufällig sprechen wir dieselbe Sprache, wahrscheinlich. Ohne uns zu verstehen. Mit dem letzten Glas lässt sie das Wasser aus dem Becken, greift in die Gesäßtasche, zieht eine Blechdose heraus und öffnet sie. Mehrere Joints kommen zum Vorschein. Sie nimmt einen aus der Dose und zündet ihn an, pafft, inhaliert dann tief und hält die Luft an. Ich bringe das Handtuch ins Bad und suche vergeblich einen Wäschekorb, finde noch eine Tüte Chips in der Waschmaschine und gehe damit zurück in die Küche. Constanze sitzt auf dem roten der beiden Stühle. Ich nehme den grünen.
»Kennst du Karin? Vom Heim in Rüppurr?«
»Kenne ich.« Sie pustet den Rauch in mein Gesicht. Süß, schwer, ein harziger Duft nach so was wie Kiefernnadeln. »Willste nen Keks?«
»Du hast Kekse? Okay, aber ich würde auch die Chips essen, wenn ich darf.«
»Du darfst beides essen, aber die Chips machen dich nur fett, nicht lustig.«
»Na gut, dann bin ich lieber lustig.«
Constanze bewegt sich kaum, zieht eine Schublade unter der Tischplatte hervor und fördert eine Plastikschachtel mit Gebäck zutage. »Brownies. Gemacht wie Brownies. Kennste ja. Schoko drin. Und Schoko macht lustig.« Ihr Blick beim letzten Satz ist der eines Menschen, der weiß, wovon er redet und auch weiß, dass sein Gegenüber keine Ahnung von nichts hat. Also ein Brownie. »Nimm zwei. Damit es sich lohnt.« Ich nehme zwei, stecke sie in den Mund, klein genug sind sie ja, kaue vorsichtig. Sie schmecken köstlich. Dann kommt ein leicht bitterer Nachgeschmack. Schnell reiße ich die Chipstüte auf und stopfe ein paar der rötlichen Kartoffelscheiben in mich hinein.
»Was willst du denn von Karin?«
»Schwer zu sagen. Wir sind auf deinem Kleiderberg gelandet und sie hat durchgehend geweint. Aber nicht geschluchzt. Die Tränen sind einfach so aus den Augen gelaufen, als wäre ein Fluttor defekt, aber nicht ganz zerstört.«
Sie zeigt eine Schnute, eine anerkennende Mimik. »Schönes Bild. Muss ich schon sagen. Kannst mit Worten umgehen. Und nun willste wissen, warum das so war?«
»Ja, das will ich. Ich will wissen, ob ich was falsch gemacht habe?«
»Was denkst du denn? Hast du was falsch gemacht?«
Halten, streicheln, kraulen, die Bilder in meinem Kopf sind immer noch frisch als wäre es gestern passiert. »Nein. Ich denke nicht. Ich habe sie einfach festgehalten, umarmt, gestreichelt, gekrault. Mehr ist nicht passiert.«
Constanzes Hand landet auf meinem Unterarm, fährt auf und ab. »Dann hast du alles richtig gemacht. Niemand hätte mehr tun können.«
»Was meinst du mit ‚niemand hätte mehr tun können‘?«
»Willste noch en Brownie?«
»Gerne, aber bekäme ich auch was zu trinken? Hast du noch Cola?«
Constanze legt zwei weitere Brownies vor mich, steht auf und holt eine angebrochene Flasche Cola aus dem Kühlschrank. Die stellt sie auf den Tisch. Die Frage nach einem Glas spare ich mir, trinke einen Schluck, stecke die Brownies in den Mund und spüle mit einem zweiten Schluck nach. Schmeckt viel besser. Wir schauen uns an. Ich die Flasche in der Hand. Auf dem Schoss abgestellt. Sie mit dieser seltsamen Entrücktheit im Gesicht. Mit Constanze im Raum bekommt das Wort Stille eine gänzlich andere Bedeutung. Es wird zu einem endlosen Meer aus Schweigen und schrecklichen Bildern. Von einem Augenblick auf den anderen steht sie auf.
»Karin ist nicht mehr da. Sie ist weg. Hat uns zurückgelassen.« Sie verlässt die Küche. Ich trinke noch einen Schluck. Da ist was in meinem Kopf. Ein Ballon bläst sich auf und drückt sämtliche Gedanken an die Wand meines Schädels. Wie meint sie das? Ich will ihr folgen, kann mich aber nur mühsam auf den Beinen halten. Die Flasche! Wo ist sie? Und wo ist Constanze? Die Wohnung wird zu einem Schlauch, voller Morast, den ich durchwate auf dem Weg zu einem Zimmer, das ich kenne, aber dessen Name mir nichts sagt. Dort liegt sie auf dem Bett. Constanze. Nackt. Winkt mich zu sich. Was sagt sie? Nichts. Sie hat nichts gesagt. Die Figuren an der Wand sprechen, der Mann dort und etwas, das wie ein Nashorn aussieht, aber nicht Constanze. Sie schweigt. Dann bin ich neben ihr, sinke auf die Matratze, den Kopf über ihrem flachen, braungebrannten Bauch. Da ist das Tattoo. Zwei Herzen aneinander gekettet. In einem lese ich Constanze, im anderen Karin.