KURZGESCHICHTE | Kobaltblaue Stille. Kein Wind. Keine Bewegung auf dem Wasser. Eine Bucht unter mir, der Plage de Kérel. Er entspricht exakt der Vorstellung in meinem Kopf, als ich vorgestern Köln verlassen habe, ohne zu wissen, wohin es mich ziehen würde. Immer dem Vorderreifen nach. Bald war ich in Paris, dann Le Mans, Rennes und nach einer Übernachtung stehe ich nun oberhalb dieser in die Insel hineinreichenden Bucht. Hinter mir das Dörfchen Le Grand Village. Der Name ist eine enorme Übertreibung für die vierzig Wohnhäuser. Immerhin gibt es eine günstige Pension und ich bin der einzige Gast. Das Alter der Wirtin ist schwer zu schätzen. Vielleicht sechzig. Wettergegerbte, ledrige Haut, kobaltblaue Augen, ein Spiegel des Atlantiks bei Sonnenschein. Es ist Mitte September und die meisten Urlauber haben die Bretagne verlassen. Die Fähre hat die Yamaha und mich ohne vorherige Reservierung in vierzig Minuten von Quiberon nach Le Palais auf der Belle-Île-en-Mer gebracht. Drei Wochen habe ich Zeit. Doch schon jetzt ist mir klar, dass ich hierbleiben will. Dies könnte mein Ort sein. Eine Wurzel aus dem Boden kriecht schon Richtung meiner Füße, bereit, mich festzuhalten. Ich atme tief ein. Viele Male. Als ich genug Salz in der Nase habe, ausatme, entdecke ich eine Bewegung auf der gegenüberliegenden Seite. Die Flut hat in der letzten halben Stunde die vertäuten Boote angehoben. Aus der Bewegung wird ein Mensch mit gelber Öljacke und einer Schiebermütze. Er watet durch das kniehohe Wasser zu einem weiß gestrichenen Boot, löst es von der Ankerkette, steigt hinein und beginnt, ein Fischernetz zurechtzulegen. Als er zufrieden ist, die Fäuste in die Hüften gestemmt, sieht er sich um, entdeckt mich. Lange schaut er zu mir hoch. Ich schätze, zwischen uns liegen sechzig oder siebzig Meter. Ich hebe die Hand und winke. Er antwortet auf dieselbe Weise. Dann hängt er den Außenborder an die Heckwand, füllt Benzin ein, startet und fährt gemächlich aufs Meer hinaus. Kurz bevor er die Bucht verlässt, dreht er den Kopf, sieht noch einmal her und winkt. Ich erwidere den Gruß und spüre, wie die Wurzel mich packt. Sanft und bestimmt. Hier ist dein Platz, flüstert sie. Sie meint es gut. Jedoch drehe ich mich um und gehe die wenigen Meter zum großen Dorf zurück. Zur Pension La petite Bretonne, wo Armelle mit einer Fischsuppe wartet.
»Schon was Interessantes gesehen?« Armelles bretonischer Dialekt ist schrecklich anzuhören. Ich hoffe, sie richtig verstanden zu haben. Vorsichtshalber frage ich noch einmal nach. »Oh, Entschuldigung. Ich vergesse meist, den Dialekt abzulegen«, wiederholt sie in einigermaßen verständlichem Französisch.
»Ich bin ihn nur nicht gewohnt. Vielleicht am Ende meines Urlaubs, aber dann muss ich ja wieder nach Hause.« Sie lacht. Zwei weiße Zahnreihen sind zu sehen. Sie passen so gar nicht in das gelebte Gesicht.
»Bleiben Sie doch hier. Ich suche noch einen Nachfolger.«
Erst will ich das Lachen erwidern, doch ihre Worte machen das zunichte. Ich denke an die Wurzel draußen im Erdreich über der Bucht. Armelle erkennt auf der Stelle, dass ihre Frage die Wirkung nicht verfehlt hat. Schweigend esse ich den Teller leer, tunke Baguette in die Reste. Knoblauch, Thymian, buntes Gemüse, Muscheln, Knurrhahn, Dorade, Languste … Reste vom Vortag. Meeresfrüchteplatte als Abschiedsessen für zwei niederländische Pärchen.
»Ich müsste kochen«, sage ich und lehne mich zurück.
»Und spülen, einkaufen, Betten machen, Zimmer reinigen, nett und freundlich sein, Probleme lösen, zuhören, Formulare ausfüllen, Steuererklärung erledigen, mit dem Geld umgehen können«, vervollständigt sie.
»Damit hätte ich keine Probleme, bis auf ‚nett und freundlich sein‘. Damit schon.« Armelle greift nach dem Schöpflöffel in der Terrine, gibt uns beiden noch zwei Schöpfer, bricht ein weiteres Baguette in mehrere Stücke und wischt mit einem davon die Terrine sauber. Sie schmatzt und grinst gleichzeitig.
»Ich vermache meine Pension ja nicht jedem Dahergelaufenen. Aber bei Ihnen ist das etwas anderes. Weiß auch nicht, da ist etwas hinter den Augen. Dem vertraue ich auf Anhieb. Sie können das.« Wie sie das sagt, glaube ich fast selbst daran. Das hinter meinen Augen …
»Jetzt muss nur noch ich mir selbst vertrauen«, gestehe ich und weiß selbst nicht warum. Die Frau mir gegenüber kenne ich seit knapp zwei Tagen. »Wie alt sind Sie, Armelle?«
»Ohlala, eine ungehörige Frage. Ich bin 46. Und Sie?« Armelle stutzt. »Vergessen Sie es. Ich habe ja Ihre Ausweisdaten selbst ins Buch eingetragen. Sie sind 25.« Ich nicke und stecke ein sehr weißes Stück Fisch in den Mund. Es ist fest und schmeckt vorzüglich.
»Mit 46 ist man aber noch nicht zu alt, um eine Pension zu führen, oder?« Armelles Augen leuchten, glänzen, das Kobaltblau wird intensiv. Sie ist wie auf dem Sprung. Beobachtet die Beute. Greift sie an oder nicht? Schweigend essen wir und schauen uns wieder und wieder in die Augen. Jeden Millimeter kenne ich inzwischen. Das reine Weiß, scharf abgegrenzte Pupillen und das veränderliche Blau. Vielleicht je nach Lust und Laune. Mir gegenüber sitzt eine beeindruckend schöne Frau. Je länger und tiefer ich ihre Augen erforsche, desto eindrücklicher wird das Bild. Und alles ist umgeben von ledriger Saharahaut, Falten wie Wanderdünen. Ich hätte Armelle auf 60 geschätzt. Mindestens. Jemand oder etwas begrenzt den Lichtkegel der kleinen Deckenlampe um uns und den Tisch, fokussiert jeden Löffel, den wir in den Mund stecken, führt nach, wenn wir die Nasen heben und sehen, was die Tiefe im anderen gerade tut. Sie antwortet nicht. Ich weiß nicht, ob man mit 46 zu alt für eine Pension ist, aber es ist nicht das Alter, das sie von hier wegführen wird. Es gibt sicher einen anderen Grund. Das letzte Stück Muschelfleisch sammle ich mit dem letzten Stück Baguette auf und lasse es im Mund verschwinden. Ob ich etwas Interessantes gesehen habe, hat sie gefragt.
»Ich habe durchaus etwas Interessantes erlebt. Da war ein Fischer, der mit der Flut aus der Bucht gefahren ist. Er hat lange zu mir hoch geschaut, dann haben wir uns gewunken. Und seltsamerweise noch einmal, kurz bevor er das offene Meer erreicht hat. Als würden wir uns kennen.«
Armelles linke Augenbraue rutscht hoch, ein schmales Lächeln auf den Lippen. »Du hast Malo gesehen. Er fährt immer erst am Nachmittag zum Fischen raus. Er lebt nicht davon, also kann er sich das leisten.«
»Malo«, wiederhole ich. »Das klingt wie St. Malo.«
»Ja, der Name hat denselben Ursprung. Warst du schon in St. Malo?«
»Letztes Jahr. Ein schönes Städtchen.« Armelle nickt. Dieser Malo hat also noch einen anderen Beruf und mit dem Boot nachmittags rausfahren ist nur ein Hobby. Das würde mir gefallen. »Er muss einen guten Job haben, dieser Malo. Ist sicher nicht billig, so ein Boot und die ganze Ausrüstung.«
»Malo ist sechzig und ein Veteran. Er war bei der Legion und was ihm Frankreich als Rente zahlt, reicht, um sich das Hobby leisten zu können.« Ein Fremdenlegionär. Das ist in der Tat interessant. Und er hat mich gegrüßt. Warum eigentlich? Ob er das mit allen Touristen tut?
»Fährt er jeden Tag um dieselbe Zeit raus?«
»Meistens.« Armelle trinkt einen großen Schluck vom Primeur. Mir schmeckt er nicht, leere aber das Glas trotzdem. »Möchtest du noch einen Kaffee?« Sie hebt die Hand vor den Mund und senkt den Kopf. Dann kommt ein Kichern. »Verzeihung. Ich habe dich geduzt.«
»Heinrich, oder besser: Henry«, erwidere ich und hebe die Hand über den Tisch. Sie greift zu. Kräftig, mit den drahtigen, langen Fingern kann sie meine Hand fast umschließen.
»Armelle.«
Der Atlantik schickt einen kalten Wind. Ich friere und bin kurz davor, den Gemeinschaftsraum aufzusuchen, um mich durchs französische Fernsehprogramm zu quälen. Doch Armelle kommt aus dem Haus, eine dunkelrote Decke über den Armen. »Es geht auf Ende September zu. Da kann es empfindlich kühl werden«, sagt sie, setzt sich neben mich auf die Bank und breitet die Decke über uns aus. Empfindlich kühl ist es jetzt schon. Ich ziehe den schweren, dichten Stoff bis unters Kinn und stelle die Füße auf die Mauerkante gegenüber, Immerhin sind die Stiefel warm. Armelle tut es mir nach. Die Sonne hat sich hinter Irland verabschiedet und es ist blaue Stunde.
»Morgen kaufe ich einen Pullover in Le Palais. Da gibt es doch bestimmt einen Klamottenladen, oder?«
»Ich empfehle dir Robins Kleiderkiste in der Rue de l’Église, direkt gegenüber des Haupteingangs der Kirche. Dort gibt es vor allem wetterfeste Kleidung für die Fischer, Wollpullover, dicke Socken, Mützen. Da wirst du fündig.« Sie hebt den Kopf und atmet tief ein. »Ich glaube, es wird Regen geben.«
»Regen? Ich habe Urlaub. Da sollte es nicht regnen.«
»Du kannst ihn riechen.« Ich versuche es. Der Himmel ist wolkenlos. Weit im Westen gibt es Schäfchenwolken. Kann gut sein, dass Regen kommt. »Kannst du mich morgen mitnehmen nach Le Palais? Ich möchte in die Kirche.«
»Kann ich schon, aber einen zweiten Helm habe ich nicht dabei.« Armelle winkt ab, vermute ich zumindest, denn auf der Decke sehe ich nur eine wandernde Kuppe.
»Helm ist nicht notwendig. Fährst du schnell?«
»Nein. Eher gemütlich. Dann sehe ich mehr von der Landschaft.«
»Na also.« Sie lächelt mich an. Wie können Armelles Augen im Zwielicht leuchten? Der Himmel im Westen ist ebenso kobaltblau, über uns schon fast schwarz. Keine Lichtquelle weit und breit. Und doch ist da der Widerschein von etwas Hellem. »Was ist, Henry?«
»Nichts. Ich dachte gerade an etwas.«
»Komme ich darin vor?«
»Ja, du bist der Grund dieses Gedankens.«
»Ich hoffe, es war ein schöner Gedanke.«
Ich nicke bedächtig. Dann schweigen wir und starren Richtung Irland. Im sich verlierenden Licht, wandert die Stille zwischen uns hin und her. Eine warme Hand legt sich auf meine, unsichtbar unter der Decke. Nicht mehr als eine Ahnung. Nicht mehr als die scheue Berührung zweier Menschen, die sich kaum kennen, aber spüren, dass ein Band existiert. Woher auch immer.
»Verzeih mir, wenn ich die Stille störe, aber ich bin verwirrt. Nein, eher unsicher. Sind wir uns schon mal irgendwo begegnet?« Armelle schüttelt den Kopf, sieht mich aber nicht an. »Das hätte mich auch gewundert«, setze ich nach, »aber trotzdem habe ich das starke Gefühl, dich zu kennen. Und wieso, um alles in der Welt, bin ich genau hier gelandet? In diesem Kaff? Auf dieser Insel? Ich habe keine Ahnung. Ehrlich …« Armelles Finger drücken meine Hand. »Es kommt mir fast so vor, als hätte ich diesen Weg nehmen müssen, obwohl ich mir vorgenommen hatte, nördlich von Brest eine Pension zu suchen. Und doch bin ich hier.« Das hellblaue Band am Horizont ist schmal geworden. Die Sterne werden sichtbar. In einer Intensität, die ich von daheim nicht kenne. Und Armelle schweigt. Zu allem Überfluss kriecht die Kälte von unten durch die Spalten der Sitzbank. Ich muss ins Warme. »Armelle, mir wird kalt.«
Sie nickt, hebt die Decke an und steht auf. Wir falten sie zusammen wie zu Omas Zeiten. Aufeinander zugehen, Stück für Stück. Dann stehen wir dicht beieinander. Sie strahlt eine wohlige Hitze aus. Jetzt sind die Pupillen schwarz. Nur das Augenweiß ist nicht unterzukriegen.
»Gehen wir rein. Ich habe noch Cidre.«
Die Liste der Besorgungen für Armelle wurde länger und länger. Also beschlossen wir, die Yamaha stehen zu lassen. Ihr Renault 5 musste herhalten. Der Zustand des Renault ist erbarmungswürdig. Ein TÜV-Prüfer wäre in Schockstarre gefallen. Einzig der Motor funktionierte insoweit, dass er uns die paar Kilometer nach Le Palais und zurück brachte. Armelle erklärte mir, was wo aufbewahrt wurde in der Küche und in ihrem Bad, dann zog ich den neuen bretonischen Wollpullover über und marschierte zur Bucht. Sei rechtzeitig zuhause, trug sie mir auf. Ich musste grinsen. Oui, Madame. Im Übrigen hatte sie recht. Von Westen schieben sich seit dem späten Vormittag graue Wolkenbänke heran und es frischte auf. Salzluft in der Nase. Bald bildete sich eine Kruste. Den Plage de Kérel erreichte ich zügig. Die Boote waren vertäut und von einem Mann in gelber Öljacke nichts zu sehen. Und doch hatte ich mir vorgenommen, auf genau ihn zu warten. Sein weiß lackiertes Boot schaukelte in der Dünung. Der Strand war ein kleiner Traum. Noch war die Sonne nicht von Wolken verhangen, noch blickte ich auf Türkis in Strandnähe und auf kobaltblaues Schillern weiter draußen. Ein Meer bestehend aus Armelles Augenfarbe. Graue Felsen begrenzen den Einschnitt der Bucht, niedrig wachsende Sträucher, kleine Eichen darunter, Lorbeer, grüne Hänge und Wege dazwischen. Der nordseitige Pfad führt entlang der Bucht hinauf. Über diesen kam der Fischer zum Strand. Also folge ich dem Pfad nach oben. Vielleicht zweihundert Meter weiter steht ein kleines Haus mit blauen Läden und einem Reetdach. Es ist kaum zu sehen vom Weg, windgeschützt hinter geduckten Kiefern und Eiben. Ich bin auf einem sandigen Weg. Ein paar Schritte weiter geht es nach links. Vermutlich der Hauptweg, wenn ich die Strom- und Telefonleitungen richtig deute. Woher dieser Malo kam, ist nicht zu erraten. Ich könnte Armelle fragen, aber wozu? Was will ich von diesem Mann? Nichts. Schulterzuckend trete ich den Rückweg an.
Unten angekommen, wähle ich einen flachen Felsen als Liegeplatz. Die Sonne hat ihn erwärmt. Aus der Gesäßtasche ziehe ich eines der Bücher, die ich mir vorgenommen habe zu lesen. Einen Tag länger als ein Leben, von Aitmatow. Das Exemplar liegt schon seit geraumer Zeit auf dem Stapel der ungelesenen Bücher. Es ist recht umfangreich, was ich meist als Ausrede nutze, um es wieder ans untere Ende des Stapels zu setzen. Hier jedoch habe ich genug Zeit, ziehe die Jeansjacke aus, rolle sie zusammen, lege mich lang und den Kopf auf den blauen Stoff. Aitmatow, sehr schwer zu bekommen in Köln. Bei 2001 hatte ich es bestellt und lange gewartet. Schon die ersten Seiten stellen klar, dass hier jemand mit Worten umgehen kann. Wie mit der Pinzette in einen Setzkasten gelegt, genau überlegt, vielleicht experimentiert, gelesen, wieder verworfen und neu begonnen. Die Übersetzung muss ich davon abziehen. Die Frau an der Kasse bei 2001 sagte, das Russische sei eine sehr blumige Sprache und die Übersetzerin muss es im präzisen Deutsch ausbreiten wie ein Blumenteppich auf der Straße. Kurzum: mir gefällt, was ich lese und kann doch gegen die Müdigkeit nicht ankämpfen. Gerade noch spüre ich Aitmatow auf meine Brust sinken, höre einen Möwenschrei, dann habe ich mich von allem entfernt.
Die Wärme eines Menschen. Und es ist kein Traum. Zwischen dem Gluckern und Rauschen der anrollenden Wellen ist ein rasselndes Atmen zu hören. Ich bin nicht allein. Ein Pfiff folgt und jemand ruft mit markanter Stimme in breitem Bretonisch etwas zu einem Alain, wo immer dieser Alain auch ist. Langsam öffne ich die Augen, blinzle die Helligkeit weg und sehe die gelbe Öljacke, eine Schiebermütze. Er ist es. Der Legionär.
»Bonjour, Monsieur Malo«, sage ich leise. Er lächelt, zieht eine Packung Gauloises aus der Jackentasche, entnimmt einen dieser filterlosen, teerschwarzen Stängel und zündet ihn an. Die Wolke nimmt mir den Atem. Ich huste und richte mich auf.
»Bonjour, Monsieur Henry«, kommt die Antwort. Na gut, er hat Armelle angerufen oder war bei ihr, um sich zu informieren. Warum auch nicht?
»Wie spät ist es?«
»Ich habe keine Uhr, aber ich schätze, es ist kurz vor fünf.«
Ich atme tief ein und klopfe mit der flachen Hand die Benommenheit aus meinem Kopf. »Dann muss ich wieder in die Pension. Ich habe Armelle versprochen, die Kartoffeln zu schälen.« Malo zieht lange, inhaliert tief, hält den Rauch. Es kommt kaum noch was raus beim Ausatmen.
»Na gut, ich komme mit«, erklärt er. »Vorhin habe ich ihr drei Langusten gebracht. Dann gibt es bestimmt Rosmarinkartoffeln und Langusten. Ein Gedicht.«
»Fahren Sie heute nicht aufs Meer?«
»Nein, gestern war der Fang gut. Ich nehme nur das, was ich für mich benötige und versorge noch Armelle und zwei andere Pensionen. Mehr Hobby muss nicht sein.« Malo grinst und steht auf. Er zerdrückt die glimmende Gauloises zwischen Daumen und Zeigefinger und steckt sie in die Tasche. Ich staune. »Nichts zurücklassen«, sagt er. »Alte Legionärsregel.«
»Verstehe. Macht Sinn.«
Das hört er nicht, denn schon ist er auf dem Weg zum Strand. Sein Boot hat mindestens einen Meter Wasser unterm Kiel. Die Flut hat den höchsten Punkt erreicht. Ein Vater ist mit seinem Kind am Strand. Beide werfen Kugeln aus Sand Richtung anrollende Dünung. Sie färben die Gischt braun. Ein Lachen und Schreien, wer kann weiter werfen? Wer die besten Kugeln formen? Der Atlantik hat das Kobaltblau verloren. Grauer Dunst färbt ihn durchgehend dunkelblau, fast düster. Wir stapfen durch den Sand, jeder Schritt kostet Kraft. Malo beobachtet mich, meinen Blick aufs Meer.
»Er will uns nicht auf sich tragen heute Abend. Kannst du das sehen, Henry?«
»Das macht mir Angst«, gestehe ich und suche den Horizont nach Booten oder Schiffen ab. Nichts zu sehen. 5000 Kilometer stille Welt.
»In einem Moment ist er freundlich. Ein guter Freund. Fast eine Muse. Im nächsten Augenblick nimmt er dich ohne zu Zögern mit in die Tiefe.« Und doch fährt Malo fast jeden Tag hinaus, wirft das Netz aus, fängt das Leben im Kobaltblau oder Düstergrau und hofft, dass er ihn wieder heimkehren lässt. Malo beginnt die Marseillaise zu pfeifen. In einer wiederkehrenden Schleife, während wir den Hang hinaufsteigen, durch kleine Reihen Zwergeichen und Lorbeer. Ich werde ihn fragen, was er als Legionär schon gesehen hat. Später, beim Abendessen. Und ich werde mich fragen müssen, warum ich ausgerechnet hier gelandet bin und diese Menschen getroffen habe.
Armelles Kochkunst ist formidabel. Und Malo schmatzt wie ein Weltmeister. Er leert Töpfe, Teller und Platten. Als bekäme er nur einmal die Woche eine richtige Mahlzeit. Der Beaujolais versickert in ihm wie Wasser im Wüstensand. Und er redet nicht beim Essen. Dafür ist nicht genug Zeit und Platz im Mund. Worte passen nicht mehr rein. Zum ersten mal im Leben habe ich eine Languste gegessen; zumindest eine noch komplette. Armelle musste mir erklären, wie ich an das weiße Fleisch komme. Bis ich den ersten Bissen unten hatte, griff Malo sich die dritte Ladung Rosmarinkartoffeln. Und über allem Armelles entzückendes Lachen. Jedenfalls macht so eine Languste sehr satt. Das ganze Eiweiß hat mich gestopft wie eine Mastgans. Erst nach ein paar Gläschen Cidre verliert sich das Völlegefühl. Malo schnappt sich den Cidre und trinkt gleich aus der Flasche. Der Kachelofen im Zimmer bringt mich zum Schwitzen, ich lehne mich zurück und ahne, wo ich bin. Tief einatmen. Nichts in diesem Raum hat auch nur annähernd eine so leuchtende Farbe wie Armelles Augen. Die beiden kobaltblauen Pupillen sind Pforten in ein paralleles Universum. Es gibt keine andere Möglichkeit.
»Geht es dir gut, Henry?«
Ich sehe sie an, dann Malo, der die Beine langgestreckt hat und allen Platz unterm Tisch braucht. Die Augen hat er geschlossen, beide Hände auf dem Bauch gefaltet.
»Mir geht es mehr als gut, Armelle.« Kaum fertig mit dem Satz, spüre ich Tränen kommen. Aus heiterem Himmel. Grundlos. Vielleicht vor Glück. Kann das sein? »Ich fühle mich zuhause«, sage ich noch, dann stehe ich auf und gehe ins Gäste-WC. Der Spiegel ist schmal, aber mein Gesicht passt hinein. Vier- oder Fünf-Tage-Bart. Rasierzeug habe ich vergessen. Kaufe ich morgen in Le Palais. Doch trotz Bart bin ich es im Glas. Aus dem Wasserhahn kommt ein dünner Strahl, kaum der Rede wert. Vielleicht verkalkt. Umgeben von Salzwasser und doch verkalkt. Es ist kalt, das ist die Hauptsache. Drei Handschalen voll reibe ich ins Gesicht, trockne das kühle Nass und gehe wieder in die Stube. Malo schnarcht. Immer noch in derselben Position, Armelle räumt ab. Ich helfe ihr. Wir schweigen, gehen so leise wie möglich, schließen die Küchentür und spülen das Geschirr. Zwischen Langustenresten und und kräftigem Rosmarin rieche ich ein Parfüm. Armelle trägt es an sich und verbreitet den Duft in der Küche. Im Raten von Duftnoten eines Parfüms bin ich sehr schlecht.
»Du riechst gut«, sage ich, als sie mit zwei Platten an mir vorbeigeht.
»Chanel No. 5«, erwidert sie.
»Das habe ich schon mal gehört. Ist berühmt, oder?«
»Ziemlich berühmt. Nur an besonderen Tagen leiste ich mir ein paar Tropfen.«
»Also ist heute ein besonderer Tag.« Sie nickt, räumt die Platten in den Unterschrank und greift nach einer nicht etikettierten Flasche auf dem Bord über der Spüle. Im schwachen Licht der Deckenlampe erkenne ich eine grünliche Flüssigkeit.
»Komm, Henry, gehen wir noch ein Gläschen trinken.«
»Gerne.«
Sie geht durch die zweite Küchentür auf den Flur und verschwindet am Ende des Gangs in einem mir unbekannten Raum. Schwer zu sagen, woher der Gedanke kommt, aber mir fällt Malo ein. Er wird Nackenschmerzen bekommen. Langsam drücke ich die Klinke zur Stube und schaue durch den Spalt. Malo ist weg. Scotty muss ihn aus dem Haus gebeamt haben, denn so leise und unauffällig kann niemand aufstehen, über die knarzenden Dielen im Flur die schwere Haustür öffnen und wieder zuziehen. Ich schalte das Licht aus und gehe durch den Flur in die entgegengesetzte Richtung. Aus dem Raum in dem Armelle verschwunden ist, kommt Musik. Born under a bad sign von Cream. Genau mein Geschmack. Die Lampe an der Wand ist mehr eine Funzel und die Kerze auf dem kleinen Tisch reißt es nicht raus. Armelle liegt auf einer hellen Recamiere. Breit genug für uns beide. Ich setze mich davor, den Rücken am Polster und schenke aus der Flasche in zwei Gläser. Ein seltsamer Duft breitet sich aus. Bitter, Anis oder Fenchel, ein mir unbekannter Alkohol.
»Was ist das?«
»Absinth. Schon mal getrunken?«
»Nein, das wüsste ich.« Ich reiche ihr das Glas nach hinten, wir stoßen an.
»A toast to absent friends«, sagt Armelle, grinst und kippt den Absinth in sich hinein. Ich rieche vorsichtig. Es wird mir nicht schmecken. Also runter damit. Nicht vorher einatmen, Luft anhalten. Zwecklos. Der Geschmack ist derart intensiv, das Bittere kommt im Abgang, es schüttelt mich mehrmals. Armelle kichert, stellt das Glas auf den Tisch und legt den Kopf aufs Polster.
»Malo ist weg. Hat sich rausgeschlichen.«
»Das sieht ihm ähnlich.«
»Schade, ich hätte ihn gerne gefragt, wo er als Legionär überall war. Was er erlebt hat und wie das so ist bei der Legion.« An die Decke starrend legt Armelle die Hand auf meinen Kopf, tastet sich über die Schläfe zum Ohr und streichelt es.
»Er redet nicht über die Legion. Gieß noch was von dem guten Absinth in mein Glas, bitte.« Das tue ich und will sie nicht allein trinken lassen, also erlaube ich mir noch zwei Zentimeter grüne Flüssigkeit.
»Du hast Rocky Horror Picture Show gesehen.«
»Stimmt. Du offenbar auch. Ich verehre sie«, höre ich leise und gebe ihr das Glas. Armelle richtet sich auf, stellt ein Bein links und eins rechts von mir auf den Boden. Ich höre, wie sie schluckt, das Glas taucht auf. Sie stellt es auf den Tisch und krault durch meine Haare. In alle Richtungen, mal fest, mal vorsichtig. »Du hast ziemlich hartnäckige Locken. Das gefällt mir.« Mir gefällt es ebenso und ich suche nach den Lebkuchen an der Wand, der schmiedeeisernen Tür des Ofens. Ich muss in einem Hexenhaus sein. Gretel hat es durch den Wald geschafft. Ich nicht. Ich bin in Armelles Fängen.
»Ich muss dich etwas fragen, Armelle.«
»Nur zu.«
Nur zu, sagt sie und ich weiß nicht wie. Die Worte weigern sich, mich zu verlassen. Jedes von ihnen könnte tiefe Gräben ausheben. Sie krault und krallt und zupft, ist zart. Armelle weiß, was in mir vorgeht. »Du bist unsicher, nicht wahr? Mit deinen 25 und ich mit den 46. Was will ich eigentlich von dir? Könnte ja fast deine Mutter sein. Nichts davon ist richtig, sagt eine Stimme da drin.« Sie klopft mit zwei Fingern auf meine Brust. »Aber ich kann dir nur sagen, du denkst zu viel. Es ist gar nicht kompliziert. Ich bin einsam, du bist einsam. Das kann ich sehen. Und ich mag dich. Mehr ist es nicht. Aber auch nicht weniger.« Sie biegt meinen Kopf nach hinten und küsst mich, steht auf und geht um die Ecke.
»Komm, Henry. Wir gehen ins Bett. Aber lass deinen Kopf auf dem Tisch liegen, den brauchst du nicht.«
Noch regnet es nicht und die ersten hundert Seiten habe ich hinter mir. Der Felsen auf dem ich liege, ist überraschend warm. Vielleicht, weil es Kalkstein ist. Edige, Aitmatows Hauptcharakter, ist von einfacher Natur. Und doch unerschütterlich in seinen Prinzipien, von denen Aufrichtigkeit und Loyalität die wichtigsten sind. So ist auch die kasachische Steppe beschrieben, die Natur. Aufrichtig, liebreizend im Frühling, gnadenlos bei Schnee, Eiseskälte oder Dürre; sie gaukelt keinem etwas vor. Edige und die Menschen in seinem Aul haben es nicht leicht, doch für sie ist es eine Ehre, im Land der Ahnen zu leben. Ich bin tief beeindruckt von der Sprache und dass ich mich dort in der Nähe Baikonurs befinde, wenn ich die Augen schließe und an die Menschen um Edige denke.
Malo ist mit einsetzender Ebbe hinausgefahren, hat zuvor wenige Worte mit mir gewechselt, über Langusten, Seeigel, bretonische Austern und wie man sie auf keinen Fall essen darf. Der Gedanke an die Legion kreiste dabei in meinem Kopf, aber ich hielt mich an Armelles Hinweis. Zum Abschied erkundigte Malo sich nach dem Buch auf meinem Schoß. Meine Erklärung wartete er nicht ab. Mit einem Nicken und erhobener Hand begann er die wenigen Meter zum Strand abzusteigen, die Marseillaise auf den Lippen.
Ich lege Edige zur Hälfte unter meine Hüfte und den Kopf auf die zusammengerollte Jeansjacke. Möwen und anrollende Wellenkämme, die brechen, schäumen, auslaufen, Sand abtragen. Die Dünung hat an Höhe zugelegt und der Wind aufgefrischt. Mit jedem Atemzug bleiben meine Augen länger geschlossen und Armelles Bild steht deutlich vor mir. Die Haut wie von der Eiszeit geschaffene Grundmoränen, Berg und Tal, Anhöhen und dunkle Gräben. Jeden Zentimeter habe ich mit Fingern und Zunge erkundet. Die Beine jedoch haben mich in Staunen versetzt. Aus einem Guss geformt, straff, eine ebenmäßige Bräune. Keine Sekunde habe ich daran gedacht, ob Armelle schön ist oder nicht. Sie ist einfach Armelle. Was gleichbedeutend mit beeindruckender Schönheit ist. Und je tiefer man gräbt, desto perfekter wird sie. Stimme, Lachen, Atmen, Flüstern, Zuhören, Klugheit, die sanften, wissenden Hände, jedes Puzzleteil fügt sich zum anderen. Sie ist weise und ich gelehrig. Zum ersten Mal habe ich das Gefühl, die Stufe des Verliebtseins gleich übersprungen zu haben, um dort anzukommen, wo man sich zuhört, respektiert, schätzt, voneinander lernt; sich ergänzt. Diese letzte Nacht war kein Sex. Es war Übereinstimmung in allem Denken und Fühlen. Ein Bad zu zweit in der Einsamkeit des anderen. Ich bin verwirrt und schlafe darüber ein.
Der Außenborder ist laut. Selbst bei geringer Geschwindigkeit. Und er hat Fehlzündungen. Immer, wenn Malo Gas wegnimmt. Mit einer Hand greift er ins Wasser, bekommt den Schwimmer der Ankerkette zu fassen und zieht sich heran, vertäut das Boot, hängt den Motor aus und deckt alles mit einer Teerplane ab, die er nach Kräften festzurrt. Kein Korb, keine Reuse. Kein Fang. Ein Sprung und er steht bis zur Hüfte im Wasser, watet an den Strand und setzt sich. Der Wind hat noch an Kraft gewonnen und im Westen ist eindeutig eine Regenwand zu sehen. Wenn ich das richtig erkenne, ist weit draußen schon Gischt auf den Wellenkämmen erkennbar. Die Farbe des Atlantiks ist nicht sehr freundlich, durchgehend ein tiefes Grau. Es wird Zeit zu gehen. Gähnend stehe ich auf, ziehe die Jacke über und stecke das Buch ein. Die Beine hat Malo jetzt angewinkelt, sein Kinn liegt auf beiden Knien. Er ist noch ziemlich gelenkig für sein Alter. Vermutlich das dauernde Training in der Legion. Nach wenigen Metern bin ich bei ihm und beobachte das weiße Boot. Ein stetes Auf und Ab, die Wellen kommen unseren Füßen näher und näher, der Wind treibt sie in die Bucht. Es wird bald ungemütlich werden.
»Komm, Malo, wir gehen zu Armelle und trinken einen Cidre.« Er steht auf. Keine Antwort. Ich gehe vor und bei der Pension erreichen uns die ersten Tropfen, eine Bö drückt uns durch den Türrahmen. Es riecht nach Backwerk. Schnaufend zieht Malo die Stiefel aus, drückt sich an mir vorbei und verschwindet im Gäste-WC. Armelle hat dicke Wollsocken für uns zurechtgelegt. Ich schlüpfe in mein Paar und stehe schon in der Küche. Ein einziges Durcheinander. Äpfel und Birnen, geschält, in Stücke geschnitten, jeweils in einer Schüssel und mit Cidre getränkt. Armelle knetet einen Mürbeteig.
»Henry, hallo! Du kannst alles spülen, was in den Becken liegt, bitte«
»Mach ich.« Als ich an ihr vorbeigehe, küsse ich das Stück Nacken, das nicht vom Band der Schürze bedeckt ist. Armelles Kopf dreht sich. Noch einen auf den Mund. Sie lächelt, quält den Teig mit beiden Händen. Ich entdecke einen Berg dreckiges Geschirr.
»Ist nicht wenig, aber ich habe einen Gemüseauflauf im linken Backofen. Dazu gibt es marinierte Dorade. Und einen gedeckten Apfelkuchen samt Birnenkompott.«
»Ich bin begeistert«, erwidere ich und fange an zu spülen.
»Ist Malo bei dir?«
»Er ist auf der Toilette.«
»Hat er was gefangen?«
»Nein. Seine Laune ist schlecht, so weit ich das beurteilen kann.« Armelle antwortet nicht. Kurz sehe ich mich um. Der Teig hat keine Chance. Sie teilt ihn in zwei Hälften. Ich habe keine Ahnung, ob das da tief unten in meinem Unterleib Liebe ist. Tiefe Zuneigung allemal. Und Geborgenheit. Ein Haus in der Wüste und vor einem Fenster steht immer eine brennende Kerze. Die Augen auf dem Spülwasser, muss ich immerzu an die eine Frage denken.
»Armelle? Ich weiß nicht, was Liebe ist. Bin ich zu dämlich, das zu kapieren? Vielleicht stimmt irgendwas nicht mit meinem Innenleben …« Sie lacht keinen Atemzug später. Es klingt wie das Glockenspiel im Wiener Stephansdom. Hell und klar. Die Frage eines dummen Jungen. Neben mir tauchen Teighände auf, die im Spülwasser verschwinden. Ich seufze. Jetzt kann ich neues Wasser einlassen. Doch Armelle lässt mir keine Zeit. Mit nassen Händen greift sie an meine Wangen, dreht mich ihr zu.
»Dummerchen«, kommt aus dem Mund dicht vor mir. »Es gibt Verliebtsein und danach kommt das Leben. Das ist es, was man meistern muss. Das Verlieben ist nur ein Komet, der vorbeifliegt und uns ratlos zurücklässt.«
»Könntest du mit mir das Leben meistern?« Sie nickt. Der Komet zieht seine Bahn durch ihre Kobaltaugen. Ein langer Schweif, heller als die Sonne.
»Und du, Henry? Könntest du das ebenfalls?«
»Unbedingt. Nichts hat sich jemals richtiger angefühlt.«
Sie lächelt und hält meinen Kopf. Spülwasser rinnt am Hals hinab. Ein Räuspern im Türrahmen. Malo steht schief wie eine der Zwergeichen im Wind. Er hat Tränen in den Augen.
»Scheiße« rutscht mir raus. Ich denke sofort an Verliebtsein oder eine stille Liebe, die Enttäuschung in Malos Gesicht. Oder vielleicht war es das gar nicht. Armelle küsst mich. Sie liest die Gedanken in meinem Schädel.
»Nein, es ist keine Liebe und kein Verliebtsein, Henry. Das musst du nicht denken. Höchstens auf eine bestimmte Art. Malo ist mein Bruder.«
Ich will mich setzen und tue das umgehend, bevor meine Knie nachgeben. Auf dem Tisch steht eine halbvolle Flasche Cidre. Ich trinke einen kräftigen Schluck. Es hilft nur wenig. Noch einen hinterher. So muss sich die Fliege im Spinnennetz fühlen. Unwissend, was vor sich geht, warum es kein Vorwärtskommen gibt, bis das achtäugige Monster auftaucht und die Sache klarstellt.
Malos Boot ist weg. Vor mir ist der Abhang zur Bucht. Hinunter werde ich nicht gehen. Es ist viel zu rutschig. Der Wind treibt den Regen horizontal über die Insel. Wieder und wieder wollen die Böen mich zu Boden werfen. Ich kann förmlich hören, wie sie Anlauf nehmen, mich im Visier. Warum fährt er bei diesem Wetter hinaus? Vor der Bucht ist enormer Seegang. Anrollende Wellenkämme peitschen das Wasser gegen die Klippen, Gischtexplosionen schaffen es ab und an bis zu mir. Es ist kurz vor fünf. Spätnachmittag. Flut oder Ebbe, wie ist das zu unterscheiden, wenn der Sturm das Wasser gegen die Insel treibt? So gar keine Ahnung von den hiesigen Gezeiten zu haben, ist nicht hilfreich in solchen Momenten. Am besten wird es sein, wenn ich umkehre. Armelle sorgt sich vielleicht. Mein Wegdrehen quittiert eine Bö mit enormem Druck. Ich rudere mit beiden Armen, um das Gleichgewicht zu halten. Ich habe Angst. Um Malo. Den schweigsamen Legionär, der brummelt, grummelt, kaum mehr als zwanzig Sätze an einem Tag spricht und Armelles Bruder ist. Das Gefühl, in eine sehr undeutliche Lage geraten zu sein, werde ich einfach nicht los. Am Ende ist es nur meine Angst vor all den Unbekannten in dieser Gleichung. Ich muss mit Armelle sprechen. Nicht allein wegen mir, vor allem wegen dem, was zwischen uns entstanden ist. Es ist von Bedeutung und wert, dass ich das erledige. Ein letzter Blick zurück. Kein Boot weit und breit.
In der Küche warten Kaffee, Pfannkuchen und Birnenkompott. Kaum habe ich die Hände gewaschen und mich gegenüber Armelle, die in einem Magazin liest, an den Tisch gesetzt, drängt es mich an die Pfannkuchen. Ich lasse es bleiben. Nicht jetzt.
»Armelle?«
»Hm?« Noch sind ihre Augen auf eine bunte Seite aus der Modewelt gerichtet. Fashion, Designer, karminrote und erdbraune Stoffe.
»Malo ist noch nicht zurück. Und er kommt immer um diese Zeit nach Hause, oder? Draußen ist Sturm, der an Stärke zunimmt. Sollten wir die Küstenwache rufen?«
»Er wird schon kommen. Malo ist ein erfahrener Fischer und kennt das Meer«, sagt sie in gleichmäßigem Ton, ohne aufzusehen.
»Und ab welcher Uhrzeit sollten wir diesen Satz nicht mehr sagen, sondern stattdessen Hilfe rufen und uns Sorgen machen?« Es ist der Augenblick, in dem sie den Kopf hebt und das Kobaltblau sich in mein Inneres gräbt. Eine fast schon physische Exploration in die Ursuppe meiner Existenz. Ich fühle mich nackt, durchschaut, ausgeliefert.
»Malo muss sein Leben meistern. Wie wir alle«, sagt sie und es klingt wie singender Stahl. Ich kam, sah, ging auf den vereisten See, wischte den Schnee beiseite und kratzte mit dem Nagel in die Oberfläche. Ein Riss entstand. Jetzt wandert er zügig weiter, bildet tausende Verzweigungen. Flach auf den Bauch legen, habe ich gelernt.
»Wir müssen nicht über Malo reden. Ich habe nur Angst um ihn.«
»Ich weiß. Daraus mache ich dir keinen Vorwurf. Im Gegenteil, das schätze ich sehr, aber Malo hat sich entschieden. Vor langer Zeit. Er hat uns fallen lassen und wir ihn. Mehr ist es nicht.«
»Warum beruhigt mich das nicht?«
»Weil du ein kluger Kerl bist und ahnst, wie tief das alles hinunterreicht. Dorthin will ich aber nicht.«
»Aber nachdem er die Legion verlassen hat, kam er wieder auf die Insel, oder?«
Armelle steht auf, kommt um den Tisch, zieht mich hoch und wir gehen ins Zimmer mit der Recamiere. Sie drückt mich aufs Polster, setzt sich auf meinen Schoß. In ihre Augen zu sehen, wünsche ich mir als das letzte Bild auf Erden, bevor der Tod mich holt. Ein Kuss folgt. Intensiv und fordernd. Armelles Zunge trifft meine. Sie verhandeln. Keine will nachgeben. Abrupt geht ihr Kopf zurück.
»Würdest du hierbleiben? Bei mir? Zusammen mit der alten Armelle das Leben meistern? Bis wir nicht mehr können?« Sie lacht. »Bis ich nicht mehr kann? Du bist schließlich ein junger Kerl.«
»Ja. Ohne zu zögern.« Sie wird still, rutscht etwas zurück und legt den Kopf auf meine Brust. Von rechts hole ich die rote Decke und breite sie über uns aus. Möglicherweise bin ich schon verrückt. Unzurechnungsfähig. An Armelles Hals pulsiert die Schlagader. Ein stetes Zucken. Vorsichtig öffne ich die Haarklammer, ein Zopf rollt sich auf, lang, ein paar graue Haare darin. Ihren Nacken kraulen, übers Rückgrat hinab. Sie ist schmal. Jede ihrer Rippen spüre ich. Was passiert nur mit Malo? Sein Gesicht will nicht aus meinem Kopf verschwinden. Bei dem Gedanken fallen meine Ohren zu, der Druck im Zimmer steigt und eine zornige Bö drückt gegen das Haus, lässt die Fensterkreuze knarren, die Läden schlagen. Es ruckelt im Dachgebälk. Meine Angst ist nicht vergessen. »Ich muss etwas tun, Armelle. Lass mich die Küstenwache rufen. Das Ganze wird zu einem schweren Sturm. Er kann sterben.« Es dauert ein paar Sekunden, dann steht sie auf.
»Gut. Du hast recht. Ich mache das, denn Adresse, Bootkennzeichnung und die Stelle, an der er meistens fischt, kenne nur ich.« Zügig hebe ich die Decke hoch. Armelle steht auf und ist im Nu aus dem Zimmer. Das Telefon hängt im Flur. Münzeinwurf für Gäste. Sie redet schnell und in breitem Bretonisch. Dann klickt der Hörer auf der Gabel. Ich stehe inzwischen neben ihr.
»Wir sollen nachsehen, ob das Boot in der Bucht liegt. Sie fahren raus.« Mehr erfahre ich nicht. Sie bückt sich, zieht die Stiefel an, eine gelbe Öljacke, nimmt eine Lampe aus dem Schuhschrank und stapft hinaus. Hastig ziehe ich den Regenoverall über, steige in die Stiefel und folge ihr. Vor dem Haus erwartet mich etwas, das ich noch nicht erlebt habe. Die Gewalt ist einzigartig. Äste, kleine Sträucher samt Wurzeln, irgendwelches Holz, das alles segelt mit dem Sturm über uns hinweg. Nur nicht getroffen werden. Beide Arme nach oben und geduckt gehen. Nach wenigen Metern treffe ich auf Armelle, die keinen Meter mehr vorwärts kommt. Sie ist schlicht zu leicht. Ich gehe vor ihr, sie in meinem Windschatten, beide Arme um meine Hüfte. Über der Abbruchkante ist kein Stehen mehr möglich. Wir legen uns zwischen die Büsche, Sand prasselt gegen unsere Kleider, kleine Schläge im Gesicht. Es brennt. In der Bucht kann nichts mehr sein. Das Wasser ist an die zwei Meter höher, so sehr drückt der Sturm es in den Einschnitt. Hier gibt es keine Boote. Wir robben einige Meter zurück. Ein zersplitterter Stamm fliegt vorüber, morsches Holz, eine halbe Tür folgt. »Unten bleiben!«, schreie ich, aber wer soll das hören? Jetzt kniend kriechen wir zurück. Es dauert Ewigkeiten. Endlich wieder im Haus, stellen wir den Schuhschrank vor die klappernde Haustür. Armelle geht zum Telefon, horcht in den Hörer und hält ihn mir entgegen. Die Leitung ist tot.
»Sind diese bretonischen Häuser stabil?«, ist die einzige Frage, die ich stellen kann. Armelle lächelt nicht. Sie hat Angst. Ebenso wie ich. Über uns rappelt und schlägt etwas hin und her. Vor dem Küchenfenster segeln Dachziegel Richtung Garage. Meine Maschine steht dort drin.
»Komm.« Armelle packt meine Hand und zieht mich mit zur Treppe. Eine Tür unter der Stiege gibt einen Abgang zu einem Keller frei. »Ich gehe vor. Ist steil. Pass auf!« Es wäre jetzt sehr unpassend zu erwähnen, dass ich in einem Keller noch mehr Angst haben werde, als draußen im Sturm zu stehen. Ich folge ihr dennoch. Der Strom fällt aus. Armelles Taschenlampe leuchtet auf. »Hier unten haben wir früher Kohlen aufbewahrt und Fisch geräuchert«, sagt sie und bückt sich unter einem Querträger durch. Es ist also ihr Elternhaus, geht mir durch den Kopf. Und Malos Elternhaus. Vor uns öffnet sich ein einziger, großer Raum, knapp einen Kopf niedriger als ich groß bin. Er ist aus Kalkstein gemauert, hat einen gestampften Boden, die Wände hat man vor langer Zeit weiß gekalkt. In der Mitte steht ein Tisch, auf jeder Seite ein Stuhl, keiner wie der andere und sicher aus dem letzten Jahrhundert. Wir setzen uns. Durch eines der schmalen Lichtöffnungen kommt ein kühler Luftzug. Armelle greift meine Hände, umklammert sie. Im Schein der Taschenlampe sehe ich die kobaltblauen Augen. Darauf werde ich mich konzentrieren.
Zwei Männer der Gendarmerie maritime stehen bei Armelle und zeigen Fotos. Sie nickt. Ich beobachte alle drei hin und wieder, steige über allerlei Unrat, der um das Haus liegt. Die Garage hat es überstanden, ebenso die Yamaha. Nicht auszudenken, wenn sie was abbekommen hätte. Vom First hat eine Bö vier Abschlussziegel gerissen, aber alles in allem ist das Haus glimpflich davongekommen. Es wird größere Schäden auf der Insel geben. Sorge macht mir Malo. Die Männer salutieren stramm. Der Sinn erschließt sich mir nicht, bis ich an die Legion denke. Ich meine gelesen zu haben, dass, wenn man einmal bei der Legion war, man immer ein Legionär ist. Bis zum Tod und darüber hinaus. Also geht die Küstenwache davon aus, dass Malo tot ist. Armelle gibt beiden die Hand, sie steigen in ihren Peugeot und fahren davon. Sie bleibt einfach stehen, mit den Fotos in der Hand. Langsam nähere ich mich und stelle mich gegenüber. Auf den Bildern sind Reste von weißen Außenplanken zu sehen, verteilt auf einem Laken an Bord eines grau lackierten Schiffes. Reste einer Öljacke und … die Schiebermütze. Armelle drückt mir die Bilder in die Hand und geht ins Haus. Ich bin ratlos. Wüsste ich doch nur ein wenig mehr über beide, über die Eltern, wie sie ihr Leben gemeistert haben, dann wäre ich vielleicht in der Lage, die richtigen Worte zu finden. Ich folge Armelle und finde sie in der Küche sitzend, die Flasche Absinth vor sich, der Korken ist gezogen. Getrunken hat sie noch nichts, das würde ich riechen. Nichts in diesem oder anderen Räumen zeigt etwas von der Vergangenheit des Hauses oder der Familie. Keine Fotos an der Wand, keine Fotoalben, keine Tischdecken mit gestickten Namen, selbst die Möbel wirken zusammengewürfelt. Unsicher nehme ich gegenüber Platz und lege die rechte Handfläche neben ihre.
»Sie werden ihn nicht finden. Der Atlantik gibt nichts zurück«, sagt sie leise. Das wäre furchtbar. Einen leeren Sarg beerdigen. Armelles Kopf sinkt auf die Armbeuge. Ich greife ihre linke Hand und will sie nur halten. Mehr nicht. So vergeht die Zeit. Ich bin sicher, dass ich nichts mehr erfahren werde von ihr. Weder vom vierzehn Jahre älteren Bruder Malo, noch von Armelles Verhältnis zu ihm, den Eltern oder was schiefgelaufen ist. Es wird ihr Geheimnis bleiben. Ich bin mir ebenso sicher, keine Geheimnisse vor ihr zu haben, ihr alles sagen zu können, sogar sagen zu wollen. Zusammen das Leben meistern. Und doch frage ich mich, warum Malo bei diesem Wetter rausgefahren ist?
Sie ist tatsächlich am Tisch eingeschlafen und ich habe sie eine Stunde später ins Bett getragen, zugedeckt und in der Küche aufgeräumt. Ein Radio hat sie nicht, dafür die Tageszeitung aus Quiberon, allerdings reicht mein Französisch für den normalen Tagesbedarf. Interessante Artikel über die Weltlage sind eine Nummer zu groß für das, was ich kann. Also habe ich mit Aitmatow weitergemacht, nach zwei Stunden das Buch weggelegt und bin durchs Haus gelaufen. Jeden Winkel habe ich genau untersucht. Es gibt nichts, was auf eine Familie mit Mama, Papa, Sohn oder Tochter hinweist. Das alles existiert möglicherweise nur noch in Armelles Kopf. Und bis heute Nachmittag noch in Malos Kopf, der wohl irgendwo auf dem Atlantik treibt oder schon untergegangen ist. Vielleicht leben Armelles Eltern noch. Rein rechnerisch durchaus möglich. Aber wie kann ich das herausfinden? Wie erfahre ich überhaupt etwas von ihr? Gar nicht. Mir bleibt nur das Abwarten. Vielleicht, eines Tages, öffnet sie sich und beginnt zu erzählen. Es ist bald Mitternacht. Vor dem Haus ist es seltsam still, kein Vergleich zum Sturm. Der Zweifel nagt an mir. Der Zweifel, ob ich nicht einem Hirngespinst hinterherlaufe, mir alles so schön ausmale. Mit Armelle die Pension führen? Wirft das genug ab? Ich müsste irgendwo auf der Insel arbeiten gehen. Da wird es kaum Möglichkeiten geben. Acht Quadratkilometer ist nicht gerade viel Platz. Die meisten Bewohner werden Fische fangen oder mit der Fähre aufs Festland übersetzen und in Quiberon oder sonst wo arbeiten. Die Müdigkeit kommt und ich ziehe die Kleider aus, lege mich neben Armelle ins Bett und fahre die Linien ihres Gesichts mit dem Zeigefinger ab. Die blauen Sonnen sind hinter den Lidern verschwunden und damit auch die Kraft, der Wille, ab und an Wut oder Neugier. Jetzt schaut sie aus wie vom Leben hin und her geworfen, in der Ecke vergessen und niemand hat sich die Mühe gemacht, nach ihr zu sehen. Es ist gut, dass sie schläft und nicht meine Tränen entdeckt.
Die phosphoreszierenden Punkte und Zeiger auf dem Wecker zeigen drei Uhr. Mitten in der Nacht. Ich bin allein im Bett. Meine Hand tastet auf der kühlen Matratze vergeblich nach Armelle. Sie wird ins Bad gegangen sein oder trinkt ein Glas Wasser in der Küche. Schon während ich daran denke, wird mir klar, wie falsch ich liege. Im Haus herrscht absolute Stille. Kein Lichtschein im Flur, kein knarzender Stuhl, kein geöffneter Wasserhahn. Die Welt ist leer. Die Menschen haben sie geräumt. Eine benommen machende Müdigkeit im Kopf, versuche ich aufzustehen, schwankend. Wo ist Armelle? Vor dem Haus? Vielleicht hat sie irgendwo ein paar Fotoalben versteckt und betrachtet abwesend alte Bilder, als alles noch in Ordnung war, die Welt noch kein Flickwerk aus wenig erbaulichen Vorfällen. Es muss kalt sein draußen, also ziehe ich lange Unterhose und Wollunterhemd an, als würde ich später mit der Yamaha den Heimweg antreten. Die ausgestreckte Hand vor mir, taste ich mich zur Tür und schalte das Licht an. Niemand im Flur, kein Licht in der Küche. Da ist Nervosität im Anmarsch. Sie treibt mich zur Eile. Vollends angezogen eile ich durchs Haus, sogar in den Keller wage ich mich. Nichts und niemand. Also hinaus in die frische Nacht mit der Taschenlampe in der Hand. Die Garage ist abgeschlossen, der Renault steht zwischen Haus und Blumenbeet. Ich gehe wieder hinein, nehme den Schlüssel vom Board an der Wand, schließe die Haustür ab und wähle den Weg zur Bucht. Im sandigen Weg sind Spuren zu erkennen. Tiefere Abdrücke an der Ferse. Jemand ist mit weit ausladenden Schritten Richtung Abhang. Rennen werde ich nicht. Viel zu gefährlich. Ein Leuchtturm im Norden, einer im Süden, die Lichtkegel wandern durch die mit Meeresrauschen gefüllte Nacht.
Es geht nach unten. Mehr rutschend als kontrolliert bin ich zügig unten. Es ist Ebbe. Keine Boote zu sehen. Die Besitzer haben sie woanders hingefahren. Die Spuren enden am Strand, das ablaufende Wasser hat sie beseitigt, mit Sand gefüllt.
»Armelle!«
Darauf habe ich gewartet. Dass ich zu rufen beginne. Warum ist mir das nicht früher eingefallen? Wie weit kann ich mich durch den Schlick vorwagen? Kleines Krebsgetier, Würmer, Pfützen mit grünem Tang, im Licht der Lampe ist viel zu sehen, aber nicht Armelle.
»Armelle!«
Viel lauter kann ich nicht brüllen. Und gegen den Atlantik ankommen, ist vermessen. Vielleicht ist sie bei einem Verwandten oder Bekannten? Mitten in der Nacht? Ohne eine Nachricht zu hinterlassen? Ich weiß nichts. Und bin allein. Es dauert eine Sekunde, dann steigt mein Puls. Eine Art Erkenntnis. So schnell es geht, renne ich zurück. Nur nicht umknicken. Endlich wieder beim Haus, öffne ich die Garage, werfe die Yamaha an und versuche im Dunkeln den Weg nach Le Palais nicht zu verlieren. Nichts ist in der Nacht wie am Tag. Dankenswerterweise ist in Frankreich der Weg zur Gendarmerie recht ordentlich ausgeschildert. Am Hafen entlang, über die kleine Brücke, rechts den Hang hinauf. Ein schmuckloses Gebäude, das mich an ein Gefängnis erinnert. In einem Fenster brennt Licht. Dass ich ohne Helm gefahren bin ignoriere ich, stürme auf das Rolltor zu und klingle. Es dauert. Dann eine bretonische Frage. Ich erkläre, eine verschwundene Person melden zu wollen. Das Tor geht auf und nach ein paar Metern stehe ich vor dem Gendarm. Er ist mindestens so müde wie ich.
Sie haben die Vorschriften ignoriert, die besagen, dass 24 Stunden vergangen sein müssen, bevor jemand als vermisst aufgenommen wird. Vielleicht kennen sie Armelle oder nehmen an, in der Folge von Malos Verschwinden sei Eile geboten. Mir soll es recht sein. In der Küche sitzt ein älterer Gendarm und nimmt meine Aussage auf, sieht sich um, geht in jedes Zimmer. Es ist bereits Morgen. Das Funkgerät auf dem Tisch quäkt vor sich hin. Ab und zu verstehe ich sogar ein paar Brocken. Was kann ich tun? Die Hautfetzen von den Fingernägeln reißen. Mehr nicht. Ich mache Kaffee und reiche dem Monsieur eine Tasse. Er lächelt und schlürft, dann wird er angesprochen, nimmt das Walkie Talkie, nickt, hört zu, nickt und sieht mich an.
»Wir müssen los, Monsieur.«
»Wohin?«
»Zum Plage de Donnant, nördlich von hier.« Die Tasse stellt er auf den Tisch, nimmt alle Formulare und wir gehen zu dem kleinen Peugeot. Als er startet, fällt mir ein, dass ich nicht abgeschlossen habe. »Sind nur zwei Kilometer«, erklärt er. Mir ist es recht. Sein Fahrstil ist nicht vertrauenerweckend und mancher Weg ist eine Sandpiste. Doch er hat recht. Im Nu sind wir an einem Parkplatz. Vier Polizeifahrzeuge stehen dort aufgereiht und ein Krankenwagen. Mit geballten Fäusten warte ich, dass der Motor ausgeht, dann steige ich aus. Schon von hier ist ein flatterndes Absperrband zu sehen und im Licht der Sonne ein kobaltblauer Atlantik.
»Kommen Sie, Monsieur.« Er geht vor. Ich will nicht. Der kühle Wind treibt Tränen in meine Augen. Einmal sieht der Gendarm sich um, schaut mich an und lächelt. Zwei Sanitäter bücken sich über einen Körper am Strand, der so breit und wunderschön ist. Fußspuren im fast weißen Sand. Eine Person richtet sich auf und dreht sich zu mir um. Kobaltblaue Augen überstrahlen die Sonne. Auf dem Boden liegt Malo, aufgedunsen, Seetang in den Haaren. Ich sinke auf die Knie.
Diese Geschichte
Entstanden im Jahr 2024 als eine der Farbengeschichten. Wie in allen diesen Geschichten, geht es um Abschied. Wir erfahren nicht, in welchem Jahr der Besuch in der Bretagne spielt, aber es ist zweifelsfrei die internetlose Zeit, ohne Handy oder gar Smartphone. Was aber nicht wichtig ist. Ohne es zu planen, ohne es zu ahnen, findet man sich in Situationen wieder, die alle Register ziehen. Alles von uns fordern. Entscheidungen sind zu treffen, von denen wir nicht wussten, sie je treffen zu müssen. Das Leben ist ein Abenteuer. Viel Spaß beim Lesen und lasst mich in den Kommentaren wissen, was Ihr dazu meint.