Zinnoberrot

KURZGESCHICHTE | Mir geht nicht aus dem Kopf, dass der ICE in Basel von vorne bis hinten durchsucht wurde und die Schweizer Grenzer ausgerechnet mich kontrolliert haben. Aus meiner Sicht habe ich keine Ähnlichkeit mit einem Schwerverbrecher oder zwielichtigen Kerl. Der Spiegel über dem Waschbecken ist blitzblank, sieht aus wie vorgestern montiert. Das Gesicht darin ist müde, aber so normal wie alle anderen und sollte kein Anlass für eine Grenzkontrolle gewesen sein. Aber schließlich bin ich kein Grenzer. Wer weiß, was in deren Köpfen vor sich geht, welchem größerem Plan sie gefolgt sind, von dem ich keine Ahnung habe. Die Tür zum Waschraum geht auf. Ein breites ‚Grüezi‘ im Berner Dialekt ist zu hören. Tiefe Stimme.
»Guten Morgen«, antworte ich in bestem Hochdeutsch. Der Spiegel zeigt einen weißen Kittel hinter mir, Kugelschreiber, Spatel, Stethoskop und einen Pieper in der Brusttasche. Braune Haare, vielleicht zwischen 35 und 40. Er geht schnurstracks auf die Kabine zu und schließt sich ein. Was jetzt vielleicht folgt, will ich nicht hören, wasche Hände und Gesicht, dann verlasse ich die Toilette. Das geschäftige Treiben eines großen Berner Spitals empfängt mich wieder. Frisch fühle ich mich nicht, aber nach fünf Stunden Zugfahrt im stickigen Großraumwagen verwundert das nicht. Aus der Jackentasche hole ich das Notizheft und vergewissere mich des Wegs. Zweiter Stock, Onkologie, aus dem Fahrstuhl, nach rechts, Zimmer 248. Nichts mitbringen, das war die Ansage. Dennoch habe ich etwas im Rucksack. Nur ich und der Grenzer wissen davon. Wie er den Gegenstand einen Moment begutachtete, nach allen Seiten drehte, um ihn dann achtlos auf dem Nachbarplatz abzulegen, das war schon das Einpacken wert.

Mit mir zwei Menschen im Fahrstuhl. Besucher wie ich. Sie fahren in den vierten Stock, Kinderstation. Großeltern, daran besteht kein Zweifel. Opa sorgt sich wegen des Essens, der medizinischen Versorgung, der Dauer des Aufenthalts und wie sich das auf die Schulnoten auswirken wird. Oma verdreht die Augen. Kurz vor dem zweiten Stock hebt sie zu einer beruhigenden Rede an. Ein Gong ertönt. Zweiter Stock, dies und das. Opa nickt und schweigt. »Wiedersehen«, sage ich und bin draußen. Jetzt nach rechts. Wie still es hier ist. Ein Pfleger mit leerem Rollstuhl kommt mir entgegen. Gegenseitiges Zunicken. Schmales Lächeln. Ich habe das Gefühl, verfolgt zu werden und drehe den Kopf über die linke Schulter. Nur der Rucksack und das Fenster am Ende des Flurs. Sonnenschein schafft es herein, drei oder vier Meter vielleicht. Das Linoleum glänzt. Tür folgt auf Tür, zu beiden Seiten. Reinigungsraum, Desinfektion, Besucher-WC, Behinderten-WC, Stationszimmer und zwei Stimmen hinter der Tür. Eine Scheibe zum Aufschieben. Ich gehe vorbei, werfe einen Blick hinein, Kopfnicken. Von drinnen ein freundliches Lächeln. Erst in diesem Moment nehme ich den Geruch wahr, sehr schwer einzuordnen. Ein wenig Zimt mit Alkohol; und dann ist da noch etwas völlig Fremdartiges. Warum ist niemand auf dem Flur? Neben jeder Tür im hinteren Bereich grüne Lichter. Alles ist in Ordnung. Der WLAN-Router an der Decke blinkt und ich bin bei der 248. Kein Laut ist zu hören, nur das Gelächter aus dem Raum der Stationsleitung. Das Leben ist schön an diesem Morgen. Ich klopfe und trete ein.


Ein Bett vor sandfarbener Wand. Einzelzimmer. Wie angenehm. Die anderen Wände sind mit einem sehr hellen Holz getäfelt. Vielleicht Birke oder Ahorn. »Schick«, sage ich. Das Bett ist leer, die Decke zurückgeschlagen. Ich denke an eine Untersuchung und schaue auf die Uhr. Kurz nach elf. In einer halben Stunde wird sicherlich mit dem Austeilen des Mittagessens begonnen, also werde ich warten. Vor dem Fenster stehen ein Tisch und zwei bequem aussehende Ohrensessel. Ich stelle den Rucksack auf den Boden und setze mich, strecke die Beine unters Bett und muss tief durchatmen. Ein Bedürfnis. Und noch einmal. Das leere Bett. Damit habe ich nicht gerechnet. So muss es bei Feueralarm sein. Nur raus! Aufgesprungen und geflohen. Falten, Wellen, krumpelig, unordentlich. Auf der anderen Kopfseite eine Infusionspumpe nebst Monitor. Das Nachttischschränkchen ist aus demselben Holz wie die Wand. Hell, freundlich, fein gemasert. Drei Schubladen und die ausklappbare Ablage. Obenauf eine halbvolle Flasche Stilles Wasser, zwei Bücher, Brille, eine Tafel Schokolade, 80% Kakao und Papiertaschentücher. Kein Handy. Ich schließe die Augen und denke an mein Mitbringsel, als Geschenk möchte ich es nicht bezeichnen. Ein Begleiter vielleicht, ein Stück Vergangenheit. Das hätte auf keinen Fall im Rucksack landen dürfen. Höchstens Schokolade, etwas zu lesen oder am besten gar nichts, denn die Bitte lautete: Nichts mitbringen! Fast schon ein Befehl. Es war mir nicht möglich, ihm zu entsprechen. Ein helles Piepen ist vom Flur zu hören. Sicher der Alarm in einem der umliegenden Zimmer. Das grüne Licht wird auf Rot gewechselt sein, die Schwester ist unterwegs. Mit geschlossenen Augen versuche ich zu hören, was draußen passiert, aber Zimmertür und Wände sind ausgesprochen solide. Hier hat man seine Ruhe im Sinne des Wortes. Langsam entfernt sich die Außenwelt. Mein Denken wird leicht, schwebt fast, ist auf einem Trip in längst vergangene Tage, bis eine Traumperson Heinrich sagt.


Schwer, wieder zurückzukommen. Das will ich gar nicht. Zurück heißt nur, es wird endgültig. Alles ist endgültig, fällt mir ein. Da sind Geräusche am oder unter dem Bett. Ein Rascheln, Gemurmel, Knopfdruck und E-Motor. Ich öffne die Augen und muss blinzeln. Es ist viel zu hell. Über ein Gestänge stellt sich die Rückenlehne des Betts auf und da sind ihre Augen.
»Hallo«, sage ich.
»Hallo.«
»Warst du bei einer Untersuchung?«
»Blut abgezapft, EKG, das Übliche.«
Es klopft zwei Mal und die Tür geht auf. Eine der Schwestern aus dem Zimmer der Stationsleitung kommt herein, sieht mich und lächelt. Die Welt ist ein einziges Lächeln. »Muss nur eben schnell die Infusion anlegen und starten, dann bin ich wieder weg. Möchten Sie etwas essen?« Infusionspumpe. Ein grünes Ding mit Touchscreen. Sehr modern. Die Technik schreitet voran, der Mensch nicht. »Möchten Sie etwas essen?«
»Sie meint dich«, sagt Claudia. Mein überraschtes Gesicht lässt die Stimmung steigen. Die Schwester kommt aus dem Lächeln gar nicht mehr raus. Ich bin perplex. Warum sollte das Krankenhaus mir ein Essen geben? »Er möchte etwas essen. Bringen Sie ihm doch die Platte mit dem Grillgemüse«, antwortet Claudia an meiner Stelle und ich nicke mit vorgestülpten Lippen.
»Sehr freundlich, vielen Dank.« Mehr fällt mir nicht ein.
»Kein Problem«, erwidert die Schwester, aktiviert die Pumpe, drückt ein paar Befehle auf dem Bildschirm und geht.
»Geht das einfach so?«
»Klar. Heute Morgen sind zwei Leute nach Hause. Das kann man nicht mehr abbestellen, weil es von außerhalb geliefert wird.«
»Also könnte ich auch zwei Portionen bekommen?«
Sie lacht und greift mit beiden Händen in die Decke. Kleine, bleiche Fäuste. Aus den Mundwinkeln des lachenden Mundes ziehen sich Falten über Claudias Gesicht, hinauf zu Ohren und Schläfen. Schmal ist sie geworden. Schmäler noch als damals. Die Erde dreht das Krankenhaus der Sonne entgegen. Ihr Licht verfängt sich am Fußende des Betts.
»Du hättest nicht kommen sollen.«
»Doch«, erwidere ich und stehe auf, setze mich auf die Bettkante und löse behutsam ihre linke Faust von der Decke. Wie kalt sie ist. Langsam lege ich sie zwischen meine Hände. Aus mir fließt die Wärme ab in dünne Finger, knochige Handrücken. Dass ich die Kälte nicht besiegen kann, wurmt mich.
»Du fragst mich nichts, einverstanden?«
»Einverstanden.«
»Ich dich aber schon«, setzt sie nach. »Wie lange bist du gefahren?«
»Etwas über fünf Stunden. Kam mir gar nicht so lange vor.«
»Ich werde nach dem Essen ausgiebig schlafen. Verdauen strengt an. Und die Chemo macht mich sowieso enorm müde. Wir essen was, dann wirst du wohl wieder gehen …«
»Ich bleibe über Nacht. Vielleicht auch zwei Nächte«, unterbreche ich sie. »Hab eine kleine Pension gefunden. Recht günstig und ganz in der Nähe.« Wir sehen uns an. Die blauen Augen muss sie nach der Geburt von einer Göttin bekommen haben, die ihrer Schönheit überdrüssig wurde. Zwei Magier in der Aschewüste, tief in den Höhlen liegend, mit der Leuchtkraft blauer Riesensonnen. Die Erinnerungen rollen heran wie schwere Dünung.
»Nicht weinen«, ordnet Claudia an. »Wer weint, bekommt kein Grillgemüse.«
»Weiß nicht, ob ich es verhindern kann.«
»Mir zuliebe.«
Ihr zuliebe schließe ich die Augen und atme tief ein. Ich denke an die Zeit. Kein Diktator, kein Imperium hatte jemals auch nur ansatzweise so viel Macht wie die Zeit. Ihr müssen wir uns ergeben. Nicht mal der Schmerz überlebt.
»Ich hab versucht, zu schreiben«, sagt sie leise. »Tagebuch erst, aber meine Disziplin … dann habe ich mich an Poesie probiert …« Ich höre, dass sie kichert. »Der Versuch endete kläglich im Papierkorb«, fährt sie fort. »Aber ich habe zwei gute Bücher in der Spitalbibliothek gefunden. Schau hier.« Sie zieht an meinen Händen. Ich öffne die Augen und folge ihrem Blick, nehme die beiden Bücher vom Beistellwagen. Reichlich zerlesen, abgegriffen. Murakami, alle beide. Kafka am Strand und Naokos Lächeln.
»Ja, das ist in der Tat großartige Literatur. Sie nimmt dich auf einfache Weise mit in ein fernes Land, wo du gerne bleiben würdest.«
»Hab mit Naoko angefangen. Bin erst bei der Hälfte.«
»Ich werde nicht spoilern.«
»Sehr freundlich. Hast du schon alles von Murakami gelesen?«
»Alles, ja. Manches mehrfach.«
Claudia wendet die Bücher ein paar Mal, schlägt irgendeine Seite auf, liest ein paar Worte. Es klopft wieder. Dieses Mal wesentlich sanfter. Die Tür wird geöffnet. »Essen!«, ruft eine dunkle Stimme. Metall bollert draußen gegen ein Hindernis, dann trägt ein junger Mann zwei Tabletts herein, schaut kurz unter einen Deckel und stellt das gegrillte Gemüse auf den Tisch. Routiniert zieht er das Brett vom Beistelltisch heraus, arretiert es in der Horizontalen, stellt das Essen drauf und platziert es über dem Bett. »Guten Appetit!« Lächelnd hetzt er wieder raus.
»Warum brüllt er so?«
»Er ist schwerhörig. Kommt aus Syrien. Eine Mine hat seine Trommelfelle zerstört.«
»Hörgeräte?«
»Muss man sich leisten können«, sagt Claudia und hebt den Deckel vom Teller, legt ihn auf die Decke und mustert intensiv, was da liegt. »Sieht aus wie Omelette. Ist Omelette. Und bei dir?«
Ich lege den Deckel beiseite. Gegrilltes Gemüse. Erwartbar weich und nicht mit den besten Haltungsnoten. Daneben Reis und ein Schälchen mit roter Sauce. Vorsichtig probiere ich.
»Und?«
»Tomate en conserve sans sel ni poivre.«
»Egal. Es wird gegessen, was auf den Tisch kommt!«
»Oui, ma capitaine!«
Claudia grinst breit. Mit der Gabel zerteilt sie das Omelett und schiebt sich Stück für Stück in den Mund. Ich blicke zwischen ihr und meinem Teller hin und her, versuche zu beobachten, ob das mit dem Essen klappt und gleichzeitig die rote Sauce nicht neben den Reis kippen. Geschafft! Nun noch untermischen, das Gemüse dazwischen, dann hebe ich den Teller vom Tisch, drehe mich Claudia zu und esse; sie beobachtend. Nach jeder Bewegung wird ihr rechter Arm um ein kleines Stück langsamer, verliert an Treffsicherheit, bald sinkt er auf die Decke. Sie lässt rechtzeitig die Gabel los. Es klappert. Claudia lehnt sich zurück. Mein Gemüse kann warten. Kalt wird es ebenso nicht schmecken. Schweigend stehe ich auf, hebe ihren Teller an und schiebe den Beistelltisch an die Wand. Vorsichtig nehme ich auf der Bettkante Platz.
»Was jetzt?«
»Ich helfe dir.« Ein kurzes Aufblitzen der blauen Riesen. Schwach nur. Das war mal anders. Wie lange ist das her?
»Vergiss es! Bin ja kein Baby.«
»Nein, aber du brauchst Hilfe.«
»Bin satt.«
»Satt? Oder zu stolz?« Ihr Blick heftet sich an mich, folgt jeder meiner Bewegungen. Mit ihrer Gabel rücke ich Omelettestücke zurecht, probiere eines. Es schmeckt besser als mein Gemüse. »Gar nicht schlecht.« Sie presst die Lippen aufeinander. Ich versuche mir vorzustellen, wie es in ihr arbeitet. Satt oder Stolz?
»Also los«, sagt sie und öffnet demonstrativ den Mund so weit, dass eine Kartoffel durchpassen würde. Ich fange an.


Der Teller ist leer. Claudia reibt ihren Bauch durch die Decke, kippt den Kopf nach rechts. Vielleicht hört sie in ihren Körper hinein. Lauscht dem, was vor sich geht. Der Infusionsbeutel ist zur Hälfte leer. Was auch immer in den schmalen Körper fließt, Omelette ist es nicht. Die blauen Sonnen verschwinden hinter den Lidern, der Kopf sackt auf die Brust. Die Fernbedienung der Anstellmotoren ist auf der anderen Seite. Leise stelle ich den Teller auf den Tisch, suche das Gerät an Claudias rechter Hüfte und finde es unter der Decke. Keine Ahnung, wie tief ich es stellen kann. Summend fährt das Rückenteil nach unten. Claudia seufzt. Als ich denke, es ist angenehm, lasse ich den Knopf los, stopfe die Decke auf allen Seiten unter den schrecklich leichten Körper und esse mein gegrilltes Gemüse. Gute Küche in einem Krankenhaus, das müsste sich doch irgendwie umsetzen lassen. Auf jeder Station eine Kochstation, die Zutaten werden online frisch bestellt. Wer kann, kocht, ein gemeinsamer Essensplan wird gemacht. Man hilft sich, das soziale Miteinander wächst. Ich rieche eine Marktlücke. Allerdings bin ich da wohl alleine auf dem Markt. Fantasie auf die Seite schieben und die Tabletts raustragen, in den Servierwagen stellen. Irgendwo muss es so was wie eine Trinkstation geben. Am Ende des Flurs sehe ich Kannen auf einem hohen Wagen. Auf dem Weg dorthin zähle ich die Zimmer. Zwanzig Patientenzimmer. Alle belegt? Und alles Einbettzimmer? Nein, das kann ich mir nicht vorstellen. Die Schwester überholt mich, schickt mir ein Hallo von der Seite und ist schon bei den Kannen. Als ich ankomme, gießt sie Kaffee in eine Tasse, die mich stark an Autobahnraststätte erinnert.
»Das ist Espresso«, sagt sie nickend. »Der ist wirklich gut. Wenn Sie möchten?«
»Nein, vielen Dank. Ich trinke lieber Fencheltee. Ich hoffe, so was gibt es hier?«
»Klar.« Sie zieht die oberste Schublade bis zum Anschlag aus dem Schrank. Unmengen von Teepackungen liegen darin. Aufwachtee, Entspannungstee und ganz hinten ordinärer Fencheltee.
»Bestens. Danke.«
»Ich kenne niemand, der Fencheltee freiwillig trinkt«, stellt sie fest.
»Jetzt schon.« Sabine steht auf dem Namensschild. »Darf ich Sie was fragen?«
»Zu Ihrer Bekannten?«
»Ja. Ich weiß, Datenschutz und so, aber … keine Ahnung, wie ich Ihnen vermitteln kann, was mir das alles bedeutet. Vielleicht blinzeln Sie mit den Augen. Bei Hoffnung viermal und wenn … wenn es bald so weit ist, nur einmal. Wäre das okay? Dann haben Sie nichts gesagt.« Sie trinkt einen Schluck, sieht mich lange an und nickt dann. Kleine, schwarze Augen sind das in ihrem Gesicht. Sie stehen zu eng, was den Eindruck eines Schielens erweckt. Die Stupsnase ist süß und die Lippen schmal. Sie ist sicher eine gute Schwester. Dann blinzelt sie einmal und senkt den Kopf. Das war ein Schalter und dicke Tränen bahnen sich einen Weg ans Licht, rollen meine Wangen hinab, schnell, so schwer sind sie. Schwester Sabine legt die warme Kaffeetassenhand auf meinen Unterarm, drückt einmal fest und macht sich auf den Rückweg. Da ist sie wieder, die Zeit. Eine Walze aus Geburt, Leben und Tod, zermahlt alles, was sich ihr in den Weg stellt. Ich muss mich setzen und gehe zügig in Zimmer 248. Claudia schläft tief und fest.


»Heinrich?«
»Hm?« Das Licht der Sonne hat schon die hintere Wand erreicht. Es ist nicht stark genug, die blauen Riesen zu überstrahlen. Ein Blick auf die Uhr an der Wand. Kurz vor drei. Und völlig schmerzfrei. Ein sehr guter Ohrensessel. Ich strecke mich, mache den Körper lang, Beine unters Bett. Claudia gähnt. »Du bist auch gerade aufgewacht, oder?«
»Die Schwester kam gerade und hat die Infusion gewechselt. Nix mitbekommen? Wir haben über dich geredet.«
»Über mich?«
»Ja, woher ich dich kenne und so. Tratschzeug halt. Bisschen Smalltalk. Und was hast du so gemacht?«
»Geträumt.«
»Von mir?«
Ich spüre noch die Tränen. Sicher sind meine Augen rot und die Tränensäcke angeschwollen. Von Claudia geträumt … ich meine ja. Schwer zu sagen, was die verblassenden Bilder noch zeigen. Eines aber ist ganz deutlich. Das Ding in meinem Rucksack. Ich kontrolliere, ob er noch unter dem Tisch steht. Das tut er. Die beiden Clips sind zu. Niemand hat ihn berührt. Claudias Wahrnehmung entgeht nichts.
»Ich kann dich noch sehen, in meinem Kopf. Ja, ich habe von dir geträumt. Aber das muss lange her sein. Mein Gefühl sagt mir, dass sicher ein halbes Leben zwischen den Traumbildern und heute liegt. Kennst du das? Im Traum in die Vergangenheit reisen und nach dem Aufwachen ist noch ein Teil von dir dort? Wie ein starker Sog reißt es dich wieder zurück ins Jetzt, denn eigentlich möchtest du dort bleiben.«
»Wer kennt das nicht?« Claudia zuckt mit den Schultern. Die Schlüsselbeinknochen sind wie Vulkankegel unter dem dünnen Schlafanzug. »Was ist eigentlich in dem Rucksack?« Die Frage überrumpelt mich. Sekundenlanges Zögern. Antworten suchen. Lügen oder Ausflüchte? Es ist zu spät. Sie hat entdeckt, dass es nicht nur Kleider für zwei Tage sein können. »Und? Was ist es? Du solltest doch nichts mitbringen.«
»Ich weiß. Aber das war mir mehr als wichtig.«
»Was?«
Augen schließen, nicken. So muss sich Napoleon bei Waterloo gefühlt haben. Ein lächerlicher Gedanke. Wer weiß schon, wie es dem Korsen zumute war? Vielleicht war er erleichtert. Ich nehme den Rucksack hoch, öffne die Clips, ziehe eine längliche Box zwischen Hemd und Unterhosen raus und lege sie auf den Tisch. Der Rucksack landet unsanft auf dem Boden.
»Jetzt bin ich aber doch gespannt«, erklärt Claudia und richtet sich ganz auf, rutscht ein Stück nach hinten. Die Box hat fast die identische Farbe wie ihr Inhalt. Einige würden Terrakotta sagen, ein erdiges Rot. Für mich ist es Zinnober. Langsam ziehe ich den Deckel ab. Da liegt sie. »Ich glaub’s ja nicht! Du hast sie noch?«
»Natürlich.«
Sie nickt schweigend. Schweigen. Das ist das Beste, was wir jetzt tun können. Ich nehme Claudias Hand. Die Stille und das Licht im Zimmer. Und die Flasche anstarren. Schmal und zinnoberrot, verkorkt, mit einem Siegelwachs verschlossen. Vielleicht fünfzehn Zentimeter lang und fünf im Durchmesser. So habe ich sie vor vierzig Jahren bei einem südfranzösischen Glasbläser gekauft. Warum auch immer. Ich war fasziniert und musste das unscheinbare Glas mitnehmen.
»Und du meinst, das Wachs ist noch dicht?«
»Ich denke schon. Siegelwachs ist ja dafür gemacht. Solange es nicht der direkten Sonne oder zu viel Feuchtigkeit ausgesetzt ist, sollte es den Inhalt bewahren.«
Die blauen Riesen flackern. Wie eine Spiegelung. Ich nehme die Flasche aus der Box. Das Zinnober fühlt sich körnig an, wie feinstes Schleifpapier. Vorsichtig gebe ich sie Claudia, die meine Hand loslässt, um eine Schale zu bilden. Dort hinein lege ich die kleine Besonderheit.
»Wir waren betrunken«, sagt sie.
»Nur ein bisschen. In erster Linie waren wir verliebt.«
Claudia nickt. »Das waren wir.«
»Ich möchte, dass du sie nimmst. Ich habe sie lange genug gehabt. Jetzt gehört sie dir. Es würde mich sehr freuen, die Flasche bei dir zu wissen.«
»Meinst du, er ist noch da drin?«
»Ich bin mir ganz sicher«, sage ich mit Überzeugung.
»Wir machen sie nicht auf.«
»Nein, Claudia, wir werden sie nicht öffnen. Nur dran denken, was drin ist.«
Sie nickt. »Nur dran denken«, flüstert sie, nimmt die Flasche in eine Hand und schließt die Finger um sie. Die Haut kann kaum bleicher werden und ich mein Weinen nur schwer zurückhalten.
»Ich hole mir einen Fencheltee. Möchtest du auch einen?« Irritiert gibt sie mir die Flasche und starrt aus dem Fenster. Bäume, Krankenhaus, Ärzte, Schwestern, Pfleger, Monitore, alles hinter einer Menge Fenster.
»Einen Pfefferminztee, bitte.«
»Kommt gleich.« Mit der Flasche in der Hand gehe ich auf den Flur. Zwei Patienten, eine Frau, ein Mann. Infusionsgestell neben sich. Eine andere Schwester steht am Getränkewagen. Schichtwechsel. Sie sieht mich kommen, lächelt, knabbert einen Keks und schlürft Kaffee dazu. »Hallo«, begrüßt sie mich. Ich stelle die Flasche auf den Wagen und greife zwei Tassen.
»Hallo. Schmeckt wohl gut, der Kaffee, was?«
»Sehr.« Ich folge ihrem Blick, der an der Flasche haftet. »Das ist aber eine schöne Flasche. Und die rote Farbe …«
»Zinnober.«
»Echt? So sagt man dazu?«
»Es ist in der Tat eine Zinnobermischung. Ein Glasbläser in Südfrankreich hat sie gemacht. Ist schon ziemlich alt das Ding.« Sie kneift die Augen zu und geht ein paar Zentimeter näher heran.
»Und was ist das am Flaschenkopf?«
»Siegelwachs. Das, was drin ist, soll nicht entweichen. Und von außen darf nichts hineinkommen.« Schwester Jeanette steht auf dem Schildchen. Jeanettes Augenbrauen gehen ruckartig hoch. Außergewöhnlich kräftige Falten entstehen auf der Stirn.
»Jetzt bin ich aber gespannt. Was ist denn drin? Ein guter Likör?«
»So ähnlich. Ein Kuss.« Jetzt lächle ich und Jeanettes Augen werden groß.
»Ein Kuss? Wie das?«
»Gar nicht so schwer. Wir haben uns geküsst, die Münder zugemacht, Luft angehalten und mit einem Strohhalm den Atem in die Flasche gepustet. Ganz vorsichtig. Korken drauf und versiegelt.« Wie deutlich doch dieses Bild vor meinem geistigen Auge steht. Da liegt es in einem Kahn auf dem Strom der Zeit.
»Und das war ihr erster Kuss?«
»Nein, aber der, als wir uns unsere Liebe gestanden.«
»Wow! Jetzt bin ich aber platt. Wer ist es denn? In welchem Zimmer liegt denn der Kuss?«
»248.« Jeanettes Mimik entgleist für einen Moment. Dann fängt sie sich wieder, nippt am Kaffee. »Ich weiß«, sage ich, nehme zwei Teebeutel aus der Schublade, hänge sie in die Tassen und gieße heißes Wasser hinein. Da steht sie, die Flasche. Zinnoberrot und versiegelt.

Diese Geschichte

Entstanden im Jahr 2024 und Teil der Farbengeschichten. Wie in allen diesen Geschichten, geht es um Abschied. Ungeachtet aller mächtigen Götter und deren Werkzeuge, ist Chronos derjenige, der die meiste Macht besitzt. Er muss nur warten. Die Zeit beendet alles. Und sie marschiert nur in eine Richtung. Hin zum Ende. Es stellen sich für alles und alle nur zwei Fragen: Was tun wir mit unserer Zeit? Wie kommen wir mit der wenigen Zeit zurecht? Der Rest ist Kokolores. Viel Spaß beim Lesen. Und wenn Ihr Gedanken dazu habt, lasst es mich in den Kommentaren wissen.

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