Weiß

KURZGESCHICHTE | Alles ist so weiß. Die Wände. Eine Gardine, dicht gewebt und in Wellen vor dem Fenster. Und ich. Hinausschauen ist möglich. Aber nicht gesehen werden von draußen. Auch nicht von Heinrich, der zwei Stockwerke tiefer vor dem Haus stehenbleibt, heraufschaut und darüber nachdenkt, ob er klingeln soll oder nicht. Mir die Hausaufgaben bringen, das wird man ihm aufgetragen haben. Vielleicht denkt er auch daran, mit mir zu spielen. Schach auf seinem Brett, das er mindestens einmal in der Woche in die Schule schleppt. Meist gewinnt er. Sein Denken ist nicht weiß. In seinem Kopf existieren unzählige Farben. In mir ist nur Weiß. Das Ticken des Sekundenzeigers wird lauter. Heinrich überlegt lange. Zwanzig Sekunden sind so viel. Und es werden mehr. Die Tür geht auf.
»Was stehst du da am Fenster rum?!«
»Guck nur raus, Papa.«
»Geh deiner Mutter helfen in der Küche!«
»Mach ich, Papa.«
Ein dumpfes Geräusch. Wie kann eine Tür so dicht schließen? Das Ticken ist weg, lautlos. Da ist Druck in meinen Ohren und der Vorhang hat sich bewegt. Keines der beiden Fenster ist offen. Luftdruck. Aus dem Flur. Papa hat ihn mitgebracht und durch die offene Tür hereingelassen. Sind es vierzig Sekunden? Heinrich geht einen kleinen Schritt, dreht sich um, schaut einem Lastwagen nach, blickt ein letztes Mal zu mir hoch und sieht nur den weißen Vorhang hinter weißen Fensterrahmen in einem Haus, das auch mal weiß war. Es wird Zeit, Mutter zu helfen.


Ich war schon in einer Autobahn-Raststätte. Dort war alles Geschirr weiß. Ein reineres Weiß hatte ich noch nie gesehen. Ich wollte damals nichts essen, denn dieses Weiß mit Spaghettisoße oder dunkelbraunem Gulasch zu beschmutzen, empfand ich als widersinnig. Papa stellte meinen Teller wieder auf den Stapel und lud sich eine doppelte Portion Kartoffelbrei und Gulasch auf seinen. Vom weißen Rand war nichts mehr zu sehen. Mutter weinte. Ich weiß gar nicht mehr, warum. Weiß ist wie geschaffen, um zu vergessen.
»Wo bist du mit deinen Gedanken? Die Suppenschüssel gehört doch in den rechten Schrank.« Mutters Stimme. In meinen Händen sehe ich die Suppenschüssel. Beige mit einer seltsamen Landschaft. Alles in blassem Grün gehalten. Steinmauern die Felder trennen, ein altes Bauernhaus, Obstbäume. So muss es früher ausgesehen haben auf der Welt.
»Entschuldigung, Mama.«
Sie nickt. Mutter ist nicht weiß. Sie ist alles andere, aber nicht weiß. Die Suppenschüssel passt gerade so in den rechten Schrank. Zwischen den erdbraunen Römertopf und die Kristallglaskaraffe. Mit einer Hand reicht sie mir das Besteck. Sortiert nach Messer, Gabel und Löffel. Fischmesser haben ein eigenes Fach. Gestern gab es Fisch, denn Fisch ist gut fürs Hirn, sagt Papa. Und wenn alle anderen ihren Fisch am Freitag essen, dann tun wir das am Donnerstag, denn wir sind nicht alle anderen. Und der Fisch war gut. Mutter ist nicht weiß, aber sie kann wirklich kochen.
»Du kannst mir helfen, den Rehrücken zu marinieren.«
»Klar, Mama, kann ich.«
»So, noch das hier. Dann ist die Maschine leer.« Ich nehme ihr die beiden Servierplatten ab. Alle Küchenschränke sind weiß. Ich glaube, immer noch so weiß, wie nach dem Kauf der neuen Küche vor drei Jahren. Ich muss mich bücken, direkt vor die Schwingtür des Unterschranks und direkt vor den Augen habe ich rote Spritzer. Eine Linie roter Spritzer, nach unten breiter werdend, wie ein Fächer. Und dünner, in die Länge gezogen. Genau jetzt muss ich die Augen schließen. Die Uhr in der Küche ist nicht zu hören. Papa hat Mutter eine moderne LCD-Uhr gekauft. Flüssigkristalle sind das, hat er gesagt. Von Sanyo. Mit Timerfunktion. Damit sie keinesfalls das Ende der exakten Garzeit verpasst; was ihr auch ohne Uhr nicht passiert ist, da bin ich sicher. Noch habe ich die Augen zu, das Weiß kommt nicht durch die geschlossenen Lider. Doch das Rot kann ich sehen. Ein Foto hinter der Stirn, das ich nicht ausblenden kann.
»Mama?«
»Was ist, mein Schatz?«
»Hier ist Blut.«
Heftiges Einatmen. Die Luft bleibt drin, das kann ich hören. Sanft schiebt mich eine Hand auf die Seite, dann rieche ich den nassen Lumpen und Mutters Parfüm. Jasmin von Papa. Zu Weihnachten hat er es ihr geschenkt. Damit du immer gut riechst für mich, sagte er und Mutters weiße Zähne waren zu sehen.
»Hol du zwei Flaschen Rotwein aus dem Keller, bitte. Ich mach das weg.«
»Ist gut, Mama.«
Augen auf. Der rote Blutfächer verschmiert, löst sich im Wasser, krustige Ränder bleiben hier und da zurück. Mutters Fingernagel entfernt sie. Immer von unten nach oben. Vorsichtig, damit das Weiß nicht beschädigt wird. Noch bin ich in der Hocke. Wie Mutter. Ihr Knie berührt meines. Ich rieche das Blut. Nein, das Eisen. Wenn der Alteisenhändler kommt, riecht es genau so. Und noch etwas anderes habe ich in der Nase. Keine Ahnung, was das ist. Ein wenig Schweiß vielleicht. Mutter schwitzt. Auf der Stirn glänzende Stellen, einen Augenaufschlag später werden Tropfen daraus, dann sinkt sie aufs kühle Linoleum, drückt sich mit beiden Händen ab, rutscht zurück und lehnt am Backofen. Mutter ist nicht weiß. Sie ist bleich, presst den Ellbogen in die rechte Hüfte und stöhnt. Immer noch in der Hocke, bewege ich mich zur Tür, schließe sie und setze mich neben sie.
»Du sollst doch den Rotwein holen. Tu es, bevor es zu lange still ist in der Küche. Bitte, Schatz! Lass mich einfach. Wird gleich wieder.« Sie zwinkert mir zu. Zwei Mal und nickt dabei. Ich kann das Weiße in ihren Augen sehen, durchzogen mit feinen roten Äderchen, wie Blitze eines entfernten Gewitters am Nachthimmel. So nah bei Mutter, wird aus der Farbe ihrer Haut ein Meer aus Grün, Blau und Lila. Ein Regenbogen, verdeckt vom bunten Kragen, Blümchenmuster. Sie packt meinen Unterarm und drückt zu.
»Geh! Alles in Ordnung.«
»Okay, Mama.«


Im Keller ist spärliches Licht an schwarz gepuderten Wänden. Kohlestaub aus Jahrzehnten. Über Rutschen nach unten geschaufelt. Heute steht an der Stelle der Heizöltank, doch der Staub ist noch immer da. Zwei Flaschen Rotwein und drei Flaschen Bier. Hat zwar keiner gesagt, aber das ist die Regel. Gehst du in den Keller, bring immer drei Flaschen Bier mit. Papas Liturgie. Unabänderlich. Nur der Tod kann dieses Gesetz kippen. Bis jetzt ist niemand tot. Mutter packt den Rehrücken in eine Lasagneform und schneidet kleine Schlitze hinein. Alle paar Zentimeter. Dutzende davon. Ich stecke Knoblauchstücke in die winzigen Taschen, nicht überall, ab und zu ist es ein Stück Orangenschale, dann mal eine Nelke, etwas Sternanis, schwarzer Pfeffer, drei zerstoßene Pimentkörner. Mutter ist zufrieden. Sie gießt den Rotwein an, kippt noch zwei Schnapsgläser Balsamico dazu und rührt vorsichtig um. Dann deckt sie den Rehrücken ab.
»Heinrich war unten vor dem Haus. Aber er hat nicht geklingelt. Nur hochgeguckt und ist dann weiter. Wie komme ich jetzt an die Hausaufgaben, Mama?«
»Ich gehe später zum Edeka, Kartoffeln und Möhren kaufen. Dann schaue ich bei ihm vorbei und bring sie dir mit.«
»Kannst du denn die Strecke gehen?«
Sie sieht mich an, setzt sich dann an den Küchentisch. Ich hole ein Glas, gieße Wasser ein und gebe es ihr. Mutter trinkt auf einen Zug leer und atmet tief ein. Leise rücke ich den zweiten Stuhl vom Tisch ab und setze mich neben sie. Meine Hand auf ihrer. Mit der anderen deute ich auf meinen Hals. Sie nickt. Schritte im Gang, ein Husten. Mutter steht auf, strafft das Hauskleid und hebt den Deckel von der Lasagneform, schaut interessiert hinein. Papa kommt. Zwei leere Bierflaschen in der linken Hand, die er routiniert im Kasten hinter der Tür verschwinden lässt. Dann legt er die rechte Hand auf Mutters Rücken. Er hat Pranken.
»Mh, das sieht wirklich gut aus. Ich habe es gut getroffen. Einen Cousin, der uns mit Wild versorgt, eine Frau, die vorzüglich kochen kann, und eine Tochter, die mal Schönheitskönigin wird.« Mutter versucht ein Lächeln. Ihr Mutterlächeln. So weiße Zähne. Kaum zu unterscheiden von den weißen Küchenschränken. Vaters Hand schiebt Mutter an die Tischkante. Und gleich noch ein Stück. Das Kleid spannt sich am Bauch, das weiß lackierte Holz gräbt eine Furche in ihren Leib. »Du willst noch weg?«
»Kartoffeln kaufen, mehlig kochende, für Kartoffelbrei. Und ich wollte Buttermöhren dazu machen.«
Papa dreht den Kopf nach rechts, was bedeutet, er denkt nach, stellt sich vor, was Mutter gesagt hat. Das Bild von Rehrücken an Kartoffelbrei und Buttermöhren formt sich in seinem Kopf. »Und Preiselbeeren?«, merkt er an.
»Preiselbeeren haben wir noch ein ganzes Glas«, versichert Mutter. Er grinst.
»Also der Doc hat gesagt, ich soll mich ausruhen und ausgewogen ernähren, dann wird das wieder. Ich hab ihm von deinen Kochkünsten erzählt. Ich glaube, er war neidisch. Und ich denke, ich sollte die nächste Woche noch krank feiern. Bei der Verpflegung ist das wie Urlaub. Was denkst du, Katharina?« Er sieht mich an. Für ihn bin ich nicht weiß. Ich bin seine Schönheitskönigin. Katharina die Große. Obwohl ich lange nicht Papas körperliche Größe habe. »Schick Katharina. Die hat junge Beine und das schnell erledigt. Außerdem war sie heute nicht in der Schule. Von irgendwoher muss sie ja Hausaufgaben bekommen, nicht wahr?«
»Aber …«
»Katharina wird gehen«, sagt Papa langsam und deutlich. Die Hand auf Mutters Rücken schiebt er hoch zur Schulter, das Kleid strafft sich. Ein paar Mal krallt er sie in Mutters Schlüsselbein. Ich sehe einen Regenbogen auf dem rechten Oberschenkel. Verblassende Farben, ineinanderlaufend, dunkle Pigmente dazwischen. Jetzt zu gehen, ist das Beste, was ich tun kann.
»Bin schnell wieder da. Heinrich wohnt nur paar hundert Meter weiter. Ich wette, er hat mir die Hausaufgaben mitgebracht.«
Er nickt und gräbt in Mutters Schulter nach Befriedigung. Sein Gesicht zeigt Glück, wenn er sie gefunden hat. Ich will es nicht sehen, schaue lieber auf den Rehrücken.
»Ist das nicht der, in den du mal verliebt warst?«
»Er in mich«, verbessere ich ihn. Papa löst die Hand von Mutters Schulter und geht zum Kühlschrank, holt die dritte Flasche Bier aus dem Türfach, blickt noch einen Moment in die Regale. Käse, Eier, Salat, Wurst. Alles gut gefüllt. Weißes Licht in einem strahlend weißen Innenraum. Das Leben im Kühlschrank muss außerordentlich sein. Ruhig und kühl. Behütet.
»Ich erinnere mich. Er war in dich verliebt, hat deine Mutter gesagt. Ziemlich gewagt, oder wie sehe ich das?«
»Sie sind beide fünfzehn, das kann mal passieren. Wir haben uns im selben Alter verliebt«, sagt Mutter und nickt schwach. Mein Zeichen. Ich stehe auf. Papa öffnet die Flasche. Ein wenige Sekunden dauerndes Zittern beherrscht seine Hände. Der Kronkorken fällt auf den Boden. Mit glänzenden Augen schaut er mich an.
»Bin in einer halben Stunde zurück«, erkläre ich und verschwinde zügig aus der Küche. In den weißen Flur. Weiße Zimmertüren. Selbst Mutters Buddhafigur neben dem Telefon ist weiß. Warum habe ich ihr ausgerechnet einen Buddha in dieser Farbe zu Weihnachten geschenkt? Papa sagt etwas, trinkt, das Gluckern kann ich hören, während ich die Schuhe anziehe. Was er sagt, ist nicht zu verstehen. Ein Flüstern nur. Das Regenbogenflüstern. Er wird Mutter einen neuen Regenbogen auf den Körper malen. Darin ist er ein Künstler.


Kartoffeln, mehlig kochend, Möhren, Butter und für mich zwei Tüten Chips. Bei Heinrich klingle ich, laufe in den dritten Stock. Den Rucksack lasse ich unten in einem Kinderwagen zurück. So bin ich schneller. Und schneller wieder unten. An einer Wohnungstür im zweiten Stock sind Kinderbilder außen angebracht. Zwei mit Regenbogen. Klara und Stephanie steht drauf. Ich muss sie nicht kennenlernen, die beiden. Einen Augenblick lang will ich die Zeichnungen abreißen, bin aber schon oben angekommen und stehe hechelnd vor Heinrich, der mich mit großen Augen anstarrt.
»Katharina?«
»Warum hast du nicht geklingelt? Bist einfach weitergelaufen.«
»Ich …«
Ein Hund könnte nicht betretener schauen. »Du hast Angst. Ein Feigling.« Er antwortet nicht. Was auch? Was kann er sagen? Was würde ich sagen?
»Nein, keine Angst. Ich kann nicht neben dir sitzen, stehen, gehen, dir die Hausaufgaben bringen, wenn es mir weh tut!«
»Wie kommst du darauf, dass ich nichts für dich empfinde?« Im Flur sehe ich seine Mutter. Sie winkt und ich hebe kurz die Hand. Eine Mutter ohne Regenbogenfleisch. Heinrich zittert.
»Ich weiß nicht. Hab ja ein paar Mal angerufen, aber dein Vater war ziemlich deutlich am Telefon. Ich solle die Finger von seiner Tochter lassen und so …«
Ich seufze. »Ja, mein Vater … hast du die Hausaufgaben?« Das Treppenhaus ist in einer Pastellfarbe gestrichen. Eine Art gelbliches Orange. Fast angenehm. Heinrich trollt sich. Schweigend. Er ist so groß wie mein Vater und ich glaube, ich könnte ihn lieben oder tu es vielleicht schon. Seine Mutter kommt her.
»Katharina, schön dich zu sehen. Heinrich hat gesagt, du warst krank?«
»Meine Mutter. Hab mich um sie gekümmert.«
»Ach du je, dann sag ihr alles Liebe und gute Besserung. Ich hoffe, es ist nichts Ernstes.«
»Ich glaube, nur Eisenmangel oder so was.« Sie nickt ein paar Mal wissend.
»Gibt viele Frauen, die das haben. Roten Saft trinken, Fisch essen, auch Leber ist gut. Da wird man ziemlich schnell müde und schlapp. Hat was mit dem Sauerstoff zu tun.« Heinrich kommt zurück, drückt sich an seiner Mutter vorbei.
»Ich geh ein paar Meter mit Katharina. Bin gleich wieder zurück.« Sie hebt eine Augenbraue und lächelt. Ein echtes Lächeln. Ich mag sie. Bestimmt hat sie keine Regenbogengemälde auf sich und muss die schönen Farben verstecken.
»Tschüss«, sagt sie und winkt. Ich bin schon auf der Treppe.
»Nicht so schnell, Katharina.«
»Heinrich, deine Welt ist bunt und meine ist weiß. Ist dir das klar?«
»Wie?« Er bleibt stehen und runzelt die Stirn. Ich gehe weiter, lege an Geschwindigkeit zu.
»Wer erster unten ist«, rufe ich und hab schon den halben Weg hinter mir. Heinrich rennt nicht, lässt sich Zeit. Der Kinderwagen ist weg. »Scheiße«, platzt es aus mir raus. Das mit der halben Stunde kann ich vergessen.
»Was ist Scheiße?«
»Ich habe meinen Rucksack in einen Kinderwagen gelegt. Mit dem Einkauf. Das waren doch jetzt nur ein paar Minuten, oder?«
»Welche Farbe hatte der Kinderwagen?«
»Er war blau mit einem grauen Verdeck.«
»Warte hier.« Er rennt ein Stockwerk höher, klingelt und redet mit jemand. Gleich darauf kommt er mit dem Rucksack zurück und strahlt wie ein Honigkuchenpferd. Könnte schon sein, dass ich ihn liebe. Zwischen all dem Weiß müsste ich allerdings lange suchen nach irgendwelchen anderen Farben. »Frau Thünnes hat ihn mit in die Wohnung genommen, weil sie dachte, er würde nur geklaut.«
»Und wenn jetzt niemand geklingelt hätte? Dann hätte Frau Thünnes Kartoffeln, Möhren, Butter und meine Chips. Deine Frau Thünnes hat dir Scheiße erzählt, Heinrich. Sei nicht immer so leichtgläubig.«
»Bin ich nicht«, sagt er und öffnet die Tür, lässt mich nach draußen und folgt mir.
»Was tust du?«
»Ich gehe mit. Ich habe keine Angst vor deinem Papa. Auch wenn er mich alles geheißen hat. Ich liebe dich und irgendwie meine ich, du mich auch.« Das ist alles, was er sagt. Und mir fällt nichts ein. Wo sind die weißen Häuser, wenn man sie braucht? Die weißen Worte, die leeren Sätze ohne Sinn. Mein Blick ist auf dem Bürgersteig, dann auf Heinrichs Schuhen. Adidas Samba. Schwarz mit nur drei kleinen weißen Streifen. Gehe ich schneller, tut er es auch. Verlangsame ich, dann er ebenso. Sein Arm strahlt Wärme aus. Heinrichs Hand ist keinen Zentimeter von meiner entfernt. Ich muss nur den kleinen Finger strecken und tauche in eine Welt voller Farben. Das Weiß kann ich hinter mir lassen. Mein Fleisch wird nicht geknetet, gefaltet, geschreddert, durch den Wolf gedreht. Meine Ohren werden rein bleiben. Saubere Worte.
»Heinrich, du kannst nicht mit zu mir. Mama ist krank.«
»Eisenmangel, hab ich gehört. Ist nicht ansteckend, glaube ich.«
»Nein, ist es wohl nicht.«
»Und du bist fünfzehn, zwei Tage nach mir hast du Geburtstag und ich werde nächste Woche sechzehn. Da ist es wohl erlaubt, wenn wir mal ins Kino gehen oder dem neuen Thai-Restaurant am Chlodwig-Platz einen Besuch abstatten, oder?«
Nur den Finger ausstrecken. Und dann werde ich weinen.
»Kino und Thai-Restaurant … klingt gut. Aber das gibt es nur in der Welt der Farben. In deiner Welt, Heinrich. Meine Welt ist weiß. Darin wurde ich geboren und dort werde ich sterben. Glaub mir das.« Er bleibt stehen. Und ich muss das auch. Heinrich weint. Ich fasse es nicht. Die Menschen gehen an uns vorbei. Warum jetzt? Im Glotzen sind sie großartig.
»Ich verstehe das nicht mit der weißen Welt. Was meinst du damit?« Ein schniefender, schluchzender Junge, so groß wie mein Vater, also einsneunzig, mit zitternden Händen, direkt gegenüber von Mustafas Teppichladen, und ich weiß nicht, was ich ihm sagen soll. Nichts. Denn kaum etwas kann das Weiß besiegen. Doch, etwas muss ich ihm sagen, sonst wird seine Welt vielleicht ebenso weiß oder er begibt sich auf den Pfad dorthin und klaut allen anderen auch die Farben. Nur den Finger ausstrecken. Mehr muss ich nicht tun. Also passiert es jetzt. Ich nehme Heinrichs Hand.
»Komm.«


Vor dem Haus bleiben wir stehen. Er bleibt stehen. Warum? Meine Hand in seiner. Ich kann förmlich sehen, wie seine Farben in meine Hand strömen, den Unterarm hinauf kriechen, von mir Besitz ergreifen. Nie mehr will ich loslassen.
»Du bist vorhin hinter der Gardine gewesen, stimmt’s?«
»Stimmt.«
»Was hat es mit der weißen Welt auf sich, Katharina?« Ich hebe unsere Hände hoch, fast auf Höhe unserer Nasen.
»Danke, Heinrich.«
»Gerne. Aber für was?«
Ein Kuss auf seinen Handrücken ist erlaubt. Selbst in der weißen Welt. Also küsse ich die warme, leicht gebräunte Hand. In der Autoscheibe hinter ihm sehe ich mich lachen. Farbe fließt aus meinem Mund.
»Dass du jetzt mit hoch gehst. Ich schiebe dich in die Küche. Setz dich an den Tisch und sei still. Ich schau nach, wie es Mama geht. Okay? Sei einfach ruhig.«
»In Ordnung.«
Aus dem Rucksack hole ich den Schlüssel, schließe die Haustür auf. Sogar weiße Briefkästen, weißes Geländer. Ich bin wieder ich. Gefangen. Das Weiß presst mich, quetscht das wenige Leben in eine Schachtel, in die nicht mal ein Hamster passen würde. Ein letztes mal Luft holen, Wohnungstür öffnen. Geschwind ziehe ich Heinrich hinter mir her in die Küche. Es knirscht unter den Schuhen. Scherben. Heinrich schweigt. Dafür bin ich dankbar. Auf den Stuhl mit ihm, meinen Zeigefinger auf den Mund, dann bin ich wieder im Flur. Haare auf dem Teppich. Nur wenige, aber lang und blond. Die Schlafzimmertür ist einen Spalt offen. Das Wohnzimmer zu. Der Fernseher läuft. Fünf Schritte. Vorsichtig luge ich durch den Spalt. Mutter liegt auf dem Bett. Sie ist wieder krank. Der schönste Regenbogen des bisherigen Jahres. Wie ein Fanal klebt er mitten in Mutters wunderbarem Gesicht. Lautloser als ich kann sich niemand auf der Welt bewegen. Hinein in den Raum, Tür muss wieder fast geschlossen sein.
»Mama?«
Um das Bett herum und der rote Fächer ist wieder da. Winkt mir zu, halb unter der Decke. Aus Mutters rechter Schläfe macht er sich auf den Weg. Langsam aufs Bett knien. Es knarrt. Es knarrt, wenn Papa Mutter beglückt und hat bestimmt geknarrt, als ich entstand, zwischen weißen Bettlaken, vor dem weißen Kleiderschrank. Der rote Fächer wird zu feinen Nadelströmen, aufgesogen vom Weiß. Ich höre sie atmen. Ein Gedanke ist da hinten, neben dem Ohr. Guten Tag, denkt er. Da bin ich wieder. Du weißt, wer ich bin.
»Ja, ich weiß«, flüstere ich. Was kann ich tun? Eine Schale Wasser, etwas Gaze aus dem Verbandskasten, das wird fürs Erste gut sein. Die Polizei rufen. Aber die waren schon da. Anzeige? Nein, nein, Kind. Was wird dann aus uns? Mutter stöhnt. Langgezogen und lauter werdend. Dann schlägt sie die Augen auf. Ich blicke ins Weiß und sehe, davon ist nichts mehr vorhanden. Blutrot. Die englischen Hunde fallen mir ein. Ich muss bescheuert sein und stehe auf. Wasser muss her. Und Licht. Und Heinrich. Er ist so ruhig. Was hat er für einen Vater? Könnte der helfen? Ich sehe nicht das einfallende Licht, den Schatten, nur Vaters Hausschuhe, gestreifter Stoff. Brauntöne. Einen Kopf größer als ich. Mutter ächzt. Im Augenwinkel sehe ich ihren Arm, unkontrolliertes Winken. Zurückweichen. Nur das bleibt. Zwei Schritte. Jetzt entdecke ich Heinrich hinter Vater, der die Hand hebt und weiße Zähne sehen lässt. So langsam. Wie kann er so langsam die Hand heben? Muss er Kraft sammeln für mich?
»Du hast mich lange genug gefickt«, rutscht mir raus. »Und auch Mama.« Hab ich das gesagt? Aber wie leise! Warum? Hat er mich gehört? Die Hand ruht im Zenit ihrer Gewalt. Gleich fährt sie nieder. Heinrich kommt ihr zuvor. Die Buddha-Statue landet auf Vaters Kopf. Er fällt vor meine Füße. Stille im Raum. Atme ich? Mutter auf dem Bett. Heinrich dreht sich um, geht raus. Ich höre ihn telefonieren. Den Notarzt, die Polizei. In dieser Reihenfolge. Vater wird farblos.

Diese Geschichte

Entstanden im Jahr 2024. Sie gehört mit ihrer Überschrift zu einer Art Serie von ‚Farbgeschichten‘. Dazu zählt auch VIOLETT und es werden noch mehr. In diesem Text ist das Thema Häusliche Gewalt präsent. Meist nur angedeutet, versteckt in Sätzen, zwischen den Worten. Häusliche Gewalt ist für Außenstehende nicht selten nur über sekundäre oder tertiäre Hinweise erahnbar, ersichtlich, spürbar. Wir gehen immer davon aus, dass alles okay ist, normal. Mir persönlich ist das Thema ein Anliegen. Sich darüber ausgiebig zu informieren, ist wichtig, denn ein falscher Verdacht kann die verdächtigte Person in den Abgrund treiben. Deshalb ist das Hinzuziehen von fachlicher Hilfe ein unbedingtes Muss.

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