Violett

KURZGESCHICHTE | Die Einladungskarte steckt im Briefkasten. Nicht mehr taufrisch. Der Länge nach mindestens einmal geknickt. Das Motiv soll einen prächtigen Strauß Blumen darstellen, wäre nicht eine bräunliche Flüssigkeit oder ähnliches drüber gelaufen. Der Stempel mit dem Absendedatum ist nicht lesbar, aber anhand der krakeligen Handschrift ist unschwer zu erkennen, dass mein Sohn sie geschrieben hat. Nur wenige Worte. ‚Wir heiraten. Wenn du kommen willst, sei am 15. Dezember vor dem Standesamt II in Kopenhagen. Ist ein Samstag. Gegen 11 Uhr wäre genau richtig. Das wirst du schaffen. Grüße! Dein Sohn‘. Standesamt II in Kopenhagen … ich habe keine Ahnung, wo in Kopenhagen das Standesamt römisch Zwei ist. Die Haustür geht auf, jemand schnäuzt in ein Taschentuch, zieht Schleim aus den Bronchien hoch und murmelt Unverständliches.
»Guten Morgen, Herr Valentin«, sage ich zum Briefkasten und nehme zwei Rechnungen raus. Vodafone und Stadtwerke.
»Tach, Herr Konstantin. Na? Mal wieder in anderer Leute Post schnüffeln?«
»Ja, is aber nur Scheiße drin. Werbung, Rechnungen. Keine Agentenberichte, nix Verdächtiges.« Er erwidert nichts, schlurft an mir vorbei, ohne nach der Post zu schauen. Mit dem Schlüssel hebele ich seinen Briefkasten auf, nehme alles raus, was drin steckt und halte den Bund vor seine Nase. »Hier! Ab und zu müssen Sie schon mal die Briefe rausnehmen. Der Briefträger stopft und stopft …«
»Sie können mich mal«, erwidert er, greift danach und wirft alles achtlos auf den Boden.
»Sie mich auch«, lasse ich ihn wissen, gehe zügig an ihm vorbei und steige in den zweiten Stock. Er wird dafür gefühlt eine Stunde benötigen und Platz macht er für niemand.
Oben angekommen, höre ich sein Röcheln von unten. Nur einmal war ich in Valentins Wohnung, die direkt an meine grenzt. Auf den Tapeten hat sich eine jahrzehntealte Nikotinschicht abgelagert. Ölig glänzend, klebrig. So muss seine Lunge aussehen. Es schüttelt mich. Mit dem Fuß kicke ich den Stopper aus dem Türspalt, schließe ab und gehe in die Küche. Die Postkarte! Fast hätte ich sie vergessen. Die beiden Rechnungen interessieren mich nicht, nur die Karte. Hochzeit in Kopenhagen. Mein Sohn heiratet. Langsam sinke ich auf den Stuhl, ziehe die halbvolle Kaffeetasse heran. Kalt geworden, aber er schmeckt. Dann lege ich die Karte auf den Tisch, Schrift nach unten. Der verfleckte Blumenstrauß erinnert mich an ein altes Romantikgemälde, blasslila Blüten einer mir unbekannten Blume, dazwischen roter Klatschmohn, viel Grünzeug. Glatthafer und Rispengras, wenn mich nicht alles täuscht. Das Ganze auf einem beigen Untergrund, aufgerauter Karton. Passt alles nicht zu einer Hochzeit. Wahrscheinlich hat er einen Stapel alte Karten in einem Second-Hand-Shop gefunden. Im Dutzend günstiger. Noch ein Schluck Kaffee. Wenn er kalt ist, trägt der Zucker darin mächtig auf. Fast zu süß. Dafür sehr stark. Der Fleck ist vielleicht Kaffee. Hat mein Sohn ihn getrunken beim Schreiben der Karten? Dann verschüttet und sich gesagt, die hier schicke ich meinem Vater. Noch gut genug für ihn. Möglich.

Vor der Wohnungstür poltert es. Der alte Valentin? Unwahrscheinlich. Er dürfte gerade im ersten Stock sein. Vielleicht sollte ich doch aufstehen und nachsehen. Die Alte von oben könnte gestürzt sein. Aber wenn ich sie anfasse oder ihr Hilfe anbiete, wird sie mich wieder verfluchen, mir die Pest an den Hals wünschen. Das habe ich schon zwei Mal durchgespielt. Also aufstehen und zum Fenster gehen. Sonst wohnt niemand mehr im Haus. Wir Alten. Valentin und ich im zweiten, über uns nur noch die alte Schmidt. Gegen die beiden bin ich immerhin noch ein junger Spund. Wieder zurück zum Tisch. Draußen ist nur Wetter. Wolken und Regen. Hauswände und dreckige Fenster. Da ist sie, die Karte. Krakelige Schrift und schemenhafte Bilder im Kopf. Krakelige Schrift bei den Hausaufgaben, Klassenarbeiten, ersten Bewerbungen, Prüfungen, dann … nur noch Schemen. Was war dann? Was kam danach? Aus der Dunkelheit tauchen keine Bilder mehr auf. Als hätte jemand für viele Jahre das Licht ausgemacht.

Es poltert erneut und ich setze mich. Der Hausbesitzer fällt mir ein. Als er zusammen mit einem aalglatten Immobilienmakler in meiner Küche stand, mit süffisantem Lächeln, ein Ausbund an Fürsorge. Wie es mir geht, ob ich irgendwo Kinder habe, besser noch: Enkel. Und die unbedingt ihren Opa sehen wollen. Dauerhaft, versteht sich. Seine Hand hab ich ihm zerquetscht und die des Maklers gleich mit. Fester Händedruck ist fester Charakter. Ich bin ein handfester Charakter und starre auf die Karte. Kopenhagen oder nicht. Unter all den Fremden dort, hinfahren und ein fernes Leben tangieren. Ich werde abprallen und im Nirgendwo verschwinden. Und ich habe ja nicht mal ein gutes Hemd. Also aufstehen und wieder ans Fenster. Sinnlos auf die Straße starren, von links nach rechts. Von der Kreuzung bis zum Netto. Die Menschen dort unten könnten sterben, es wäre mir egal. Mein Blick kehrt zurück zu dem Geschäft gegenüber. Lorenz und Söhne, Herrenausstatter und Änderungsschneiderei steht in vergilbten Buchstaben auf einem Schild in ganzer Ladenbreite über den Schaufenstern. Gegründet 1926 neben dem Eingang. In der Häuserlücke daneben die Werbetafel, die man vergessen hat. Seit Jahren leer. Noch nicht mal Graffiti hat man ihr zugetraut. Noch einen Kaffee, denke ich, will mich umdrehen, aber mein Blick bleibt an Lorenz und Söhne haften. Ich habe nichts anzuziehen. Gegen elf Uhr in Kopenhagen, Standesamt römisch Zwei. Am Samstag. Und heute ist Donnerstag. Vielleicht ist dieses Geschäft dort unten leer? Aufgegeben vor zwanzig Jahren und ich habe es nie mitbekommen. Vor dem Brotkasten liegt mein Geldbeutel. Noch ein Blick auf die Karte. Dann rieche ich daran und suche nach dem Duft meines Sohnes. Wie soll ich etwas erkennen, an das ich mich nicht erinnere? Es bleibt nur die Schrift. Im Gehen greife ich Geldbeutel und Schlüssel. Das Bild von Lorenz und Söhne zieht mich hinaus. Das wirst du schaffen!, steht auf der Karte. Also werde ich das Treppenhaus hinabsteigen und das verbitterte Arschloch von nebenan ignorieren, falls es gerade vor der Tür steht. Mit einem Ruck öffne ich. Niemand da. Kein Röcheln. Leise zuziehen und abschließen.

Kopenhagen, flüstere ich an die holzgetäfelte Wand. Sie ist ohne Zweifel so alt wie der Laden. Über der Tür hängt eine Bimmel mit Blattfeder. Könnte glatt eine Filmrequisite sein. Im Carré gebauter Ladentisch, lang und tief, wie gemacht, um Hosen, Hemden und Jacken zu präsentieren. Die Oberflächen müssen aus Tropenholz sein, dunkel und fein gemasert. Dichtes und schweres Holz, wasserbeständig. Aus einer Zeit, als es egal war, wem man welche Bäume aus dem Wald raubte. Allerdings bin ich das einzige Lebewesen hier drin. Nach ein oder zwei Minuten gehe ich zur Tür und lasse sie ein zweites Mal bimmeln. Als ich mich umdrehe, sehe ich eine Frau. Fast so groß wie ich. Vielleicht etwas über vierzig, dunkler Teint, aber keine Sonnenbräune. Südeuropa? Langes, schwarzes Haar. Sie sieht mich neugierig an, ein Stopfei in der rechten Hand, zwei längere Nadeln zwischen die Lippen geklemmt. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ein Zucken in beiden Händen. So etwas wie das Suchen nach Worten. Sie zieht den nadelfreien Mundwinkel nach oben. Ich vermute, es ist ein Lächeln.
»Ja?«, bringt sie gepresst hervor.
»Kopenhagen«, sage ich. Warum auch immer. »Ich muss nach Kopenhagen.« Sie nickt nur. Ist ‚Kopenhagen‘ etwa eine gültige Kennung in diesem Geschäft? Hat mein Sohn ihr ebenfalls eine Karte geschickt? Sie nimmt die Nadeln aus dem Mund, steckt beide in ein Nadelkissen, das mit einem Gummiband am Unterarm befestigt ist. »Ich weiß, was Sie denken. Ein Spinner. Das hier ist offensichtlich kein Reisebüro«, schiebe ich hinterher.
»In der Tat«, bestätigt sie. »Aber Sie werden schon ihre Gründe haben, wenn Sie Kopenhagen erwähnen.«
»Ja. Mein Sohn wohnt dort. Seit ich denken kann, hätte ich fast gesagt. Nein, nein, seit …« Schweigen übermannt mich. Keine Ahnung, seit wann er dort wohnt. Ich versuche, mich zu erinnern. Zwanzig Jahre? Oder mehr?
»So lange also schon«, sagt sie lächelnd. Das formt ihr Gesicht zu einer lebenden Marmorbüste, an der ein Jahrhundertmeister Hand angelegt hat. Ich kann sie nur anstarren. Nicht mal nicken klappt, geschweige denn etwas sagen. Lorenz und Söhne. Sie ist weder der eine noch die Söhne.
»Entschuldigung. Ich habe es vergessen. Können gut und gerne zwanzig Jahre sein.«
»Macht nichts. Ich lehne mich jetzt mal aus dem Fenster. Sie wollen zu Ihrem Sohn nach Kopenhagen, haben nicht die richtige Kleidung und auf die Schnelle dachten Sie, mal einen Blick hier reinzuwerfen.«
»Stimmt«, entgegne ich konsterniert.
»Sie wohnen gegenüber. Zusammen mit dem hutzeligen Valentin und der alten Frau. Wie heißt sie noch?«
»Schmidt.«
»Ja, die alte Schmidt. Sie hat für meinen Großvater gearbeitet.«
Was hat sie gesagt? Sie wohnen gegenüber … »Woher wissen Sie, dass ich gegenüber wohne?« In derselben Sekunde kann ich es mir zusammenreimen. »Sagen Sie nichts. Natürlich sehen Sie mich drüben rein- und rausgehen.« Ihr Lächeln bleibt. Wird vielleicht um eine Spur breiter. Dann schaut sie auf das Nadelkissen, kontrolliert den Sitz der kleinen Stahlstifte und sieht mich erneut an. Dieses Mal genauer, exakter, als prüfe sie den Sitz jeder Naht. Was entdeckt dieser intensive Blick? Einen idiotischen Nachbarn, alt und verlegen.
»Mich haben Sie offenbar noch nie zur Kenntnis genommen, obwohl ich in diesem Haus aufgewachsen bin«, wendet sie ein. »Seltsam, nicht wahr?«
»Sie haben immer hier gelebt?«
»Nicht immer. Meine Ausbildung habe ich in Brüssel gemacht, dann in Paris und Mailand gearbeitet. Aber vor zehn Jahren kam ich zurück, um das Geschäft zu übernehmen.«
Das Gefühl, mich setzen zu müssen, drängelt sich nach vorne, von irgendwo. Ich suche einen Stuhl, rechts vergeblich, entdecke auf der linken Seite eine Sitzgruppe. Für die wartende Kundschaft. »Darf ich mich setzen?«
»Natürlich.« Zwei Falten bilden sich auf ihrer Stirn. »Ist Ihnen nicht gut? Vielleicht ein Glas Wasser?«
»Nein, vielen Dank.« Mit wenigen Schritten bin ich in der Ecke, nehme Platz, lehne den Kopf an eine Holztafel und schließe die Augen. Den Schritten nach zu urteilen, entfernt sie sich. Etwas klappert. Dann kommt sie zurück und ihre Wärme ist zu spüren. Direkt vor mir. Als hätte ich am ganzen Körper Infrarotsensoren. Lieber halte ich die Augen geschlossen. Sie anzusehen würde mich Kraft kosten. Ich weiß nicht, warum.
»Trinken Sie, bitte.«
Also doch die Augen öffnen, das Glas nehmen, ein paar Schluck kühles Nass. Es tut gut. »Danke.« Sie nimmt es mir wieder ab, stellt es aufs Holz. Ich denke an ein altes Märchen. »Kennen Sie Dornröschen?« Sie schaut mich verwundert an. »Wie lange hat sie geschlafen? Hundert Jahre? Wie muss die Welt ausgesehen haben nach hundert Jahren? Heute kommt eine Postkarte aus Kopenhagen. Am Samstag heiratet mein Sohn, den ich eine lange Zeit nicht mehr gesehen habe, auch nicht gesprochen. Können Sie mir folgen?«
»Ich weiß nicht genau«, gesteht sie.
»Ein DIN A6 kleines Stück Karton und alles ist verschoben. Nichts hat sich bewegt in all den Jahren. Nur der alte Valentin und die furchtbare Schmidt. Mit einem Mal stößt der Wind einen Fensterflügel auf und man weiß, es ist Zeit. Zeit aufzubrechen. Dann stellt man fest, dass der Kleiderschrank nichts hergibt. Alle Kleider sind älter als man selbst. Ich könnte tot umfallen und niemand würde es sehen.«
Kurzes Schweigen, dann einatmen. Habe ich etwas falsch gemacht? »Verraten Sie mir doch Ihren Namen«, kommt von ihr. Sie setzt sich neben mich.
»Konstantin.«
»Vor- oder Nachname?«
Jetzt ist es an mir zu lächeln. Sie hat recht. Das muss man bei diesem Namen immer dazusagen. »Mein Vorname ist Heinrich.«
»Dann bleibe ich beim Vornamen, Heinrich. Ich bin die Katharina.«
»Da haben wir ja die Lenker der alten Welt unter einem Dach.«
»Ich weiß, was du meinst«, sagt sie nickend. »Aber ich hätte gerne einen anderen Namen bekommen. Was moderneres. Bist du mit deinem zufrieden?«
»Sehr.«
»Na gut, Heinrich. Was kann ich für dich tun?«
»Ich brauche ein Hemd und eine Hose.«

Katharinas Hand senkt sich auf meinen Unterarm, die Finger krümmen sich. Ich spüre Kraft. Sanft, ohne Möglichkeit, mich zu wehren. Ich glaube, ich will, dass sie mich irgendwohin mitnimmt. Egal wohin. »Komm mit. Ich habe einiges an Hemden und Hosen von Kunden, die bestellt haben, vermessen wurden, anprobierten und dann einfach nicht mehr gekommen sind. Da werden wir etwas finden. Aber«, sie hebt die Hand. »C&A-Preise können es nicht sein.«
Nickend folge ich ihr hinter die Tische, durch eine im gleichmäßig getäfelten Einerlei kaum sichtbare Tür. Ein Schneiderraum. Sagt man so? Große Tische, grüne Schneidunterlagen, Bandmaße, ein abgenutzter Stabholzmeter, zwei Tuchrollen und noch viel mehr an Rollenhaltern an den Wänden. Von dezentem Grau bis zu bunt-kariertem Tweed. Es riecht säuerlich. Ein Seitenblick von ihr fängt meine schnüffelnde Nase auf.
»Das sind die Farben. Einige der Stoffe sind erst vor ein paar Tagen eingetroffen. Das duftet sich aber aus.« Mehr als Nicken kann ich nicht. Das ist nicht meine Welt. Und war es nie. Als würde ich ein neues Universum betreten mit anderen physikalischen Gesetzen. Sie ahnt meine Gedanken oder liest einfach meinen Gesichtsausdruck. »Ist was anderes als von C&A, nicht wahr?«
»In der Tat …«
Katharina nutzt mein Beeindrucktsein und schiebt mich zu einem hölzernen Drehstuhl. Schon ist ihre Hand auf meiner Brust. Ein leichter Druck. Okay, einfach hinsetzen, denke ich. Sie geht zu einer Holzwand und schiebt ein Viertel davon nach rechts. Dahinter sehe ich Regale bis zur Decke. Noch ein Viertel weiter kommen zwei Stangenfächer, an denen unzählige Hemden hängen. »Toller Schrank. Vermutet man gar nicht von außen.«
»Hat mein Großvater extra bauen lassen«, erklärt sie und steigt mit einer fahrbaren Leiter zum obersten Fach, legt fünf Hemden über die Armbeuge, kommt wieder runter und breitet sie auf dem Arbeitstisch aus. Ärmel leicht abgewinkelt, die Kragen ausgerichtet, eines neben dem anderen. »Unterschiedliche Längen an Bund und Ärmeln, zwei oder drei Kragenweiten, aber ich würde mal sagen, es wird eines dabei sein, dass dir passt. Kleine Anpassungen kann ich noch heute machen.«
Ich weiß nicht, was ich sagen soll, höre mich aber tief ein- und ausatmen.
»Was sind deine Farben?«
»Meine Farben? Ich weiß nicht. Mir eigentlich egal …«
Sie schüttelt kurz den Kopf. »Tsts! Genau das sollte dir nicht egal sein. Die Farbe kommt von innen.«
»Von innen?«
Katharina tippt mit dem Finger auf meine Brust. Also von innen. Die Frage nach der Farbe trifft mich. Ich ahne, dass sie vielleicht recht hat, dass ihr Finger nicht meine Brust meinte, mehr auf ein Loch deutete, in dem Bilder, Gerüche und Stimmen meines Sohnes verschwunden sind. Das Loch muss die Zeit sein. Vor mir liegen ein dunkles Grau, makelloses Schwarz, dunkles Violett, blasses Rot und das intensive Orange einer frühen Morgensonne. Katharina nimmt einen Bleistift vom Tisch, schreibt etwas auf den Abriss eines Etiketts, steckt es ein und ich trete einen Meter zurück. Grau, Schwarz, Violett, seltsames Rot und die Sonne. Irritiert bleibe ich immer wieder an dem Violett hängen. Dunkelviolett. Die Knopfreihe ist verdeckt von einem etwa drei Zentimeter breiten Streifen, was es sehr elegant aussehen lässt. Die Nähte sind mit schwarzem Faden angelegt. Das Hemd erinnert mich an etwas. Nur ein Schemen in meiner Erinnerung.
»Ich nehme das«, sage ich entschlossen und lege den Finger auf das Violette. Katharina zieht das abgerissene Etikett aus der Tasche, hält es vor mein Gesicht. ‚Violett‘ steht drauf. Ich sehe sie an, begegne den schwarzen Augen und hole tief Luft.
»Also anprobieren.«
»Ich sehe keine Umkleidekabine«, erwidere ich suchend.
»Hab ich keine. Aber ist ja nicht das erste Mal, dass ich das mache.«
»Für mich schon.«
Sie grinst. Ein mitleidiges Grinsen? Alter Trottel wird vorgeführt. Also ziehe ich das Hemd aus. Wie immer, habe ich nichts drunter. Unterhemden sind mir seit der Jugend verhasst. Katharina interessiert es nicht. Geschickt öffnet sie die verdeckte Knopfreihe des Violetten, tritt hinter mich. Rechter Ärmel, etwas beugen, linker Ärmel, an den Schultern zurechtrücken.
»Kinn hoch. Erst oben zumachen.« Ich folge ihrer Anweisung. Es klappt mühelos. »Die Kragenweite ist richtig. Fast ein bisschen zu weit.« Ob sie das zu mir sagt oder nur Selbstgespräche führt, ist unklar. Knopf für Knopf schließt sich, dann folgen die Ärmel. Überraschenderweise sind dort zwei Knöpfe längs zum Arm. Dann tritt sie einen Schritt zurück. Ich schweige lieber. Mit dem rechten Daumen reibt sie einen Nasenflügel, kneift ein Auge zu und greift das Bandmaß. Alles geht so schnell. Unter der Achsel zur Hüfte, Armlänge auf beiden Seiten.
»Drück bitte beide Schultern nach vorne und streck die Arme.«
Das tue ich.
»Und jetzt beide Arme nach oben strecken.« Beide Arme nach oben und strecken. Ein bisschen Gymnastik kann ja nicht schaden. »Setz dich bitte auf den Stuhl.« Als ich mich setze, spüre ich eine leichte Einschränkung um die Hüfte. »Ich sehe schon, ein wenig mehr Weite kannst du vertragen«, merkt sie an.
»Ich bin alt«, sage ich zu meiner Entschuldigung. Sie stellt sich vor mich, beugt den Oberkörper und sieht mir in die Augen.
»Ich sage das nicht, weil es mich stört, sondern weil es so ist.« Schweigendes Nicken und das tun, was sie sagt. Mit einem seltsamen Werkzeug zeichnet sie Linien auf den Stoff. Erinnert mich an Kreide oder Magnesium.
»Okay. Bitte ausziehen«, sagt sie nach kurzer Zeit. »Willst du hier warten? Oder später wiederkommen?«
»Ich warte«, lasse ich sie wissen und schlüpfe in mein C&A-Hemd.
»Sehr gerne. Wo wir uns jetzt schon so gut kennen, geh bitte dort durch die Tür und koch eine Kanne Kaffee.«
Es ist sicher mein Gesichtsausdruck, der sie zum Lachen bringt. Ein Lachen, wie ich es nur selten im Leben gehört habe. Vogelstimmen in frühmorgendlicher Aue, genau dieses Bild fällt mir dazu ein. Verwundert gehe ich durch die kaum sichtbare Öffnung.

Ob diese Kaffeemaschine noch guten Kaffee kochen kann, möchte ich bezweifeln. Dass sie überhaupt noch funktioniert, grenzt an ein Wunder. Schon Katharinas Vater wird mit dem Gerät seine morgendliche Brühe gekocht haben. Sie gluckert wie ein verstopfter Waschbeckenabfluss. Alle Sekunde ein Tropfen. Genug Zeit, mich umzusehen nach Fotos, Bildern mit Gesichtern, kleinen Dingen, die Einblick geben, in die große, schwarzhaarige Frau im Nebenraum. Aber es gibt nichts zu entdecken. Also spähe ich um den Türrahmen. Erneut hat sie Nadeln im Mund, ein kleines Werkzeug in der rechten Hand, mit dem sie Nähte auftrennt. Und sie misst ausgiebig. Aus einer breiten Schublade unter der Tischplatte holt sie Stoff derselben Farbe. Neben ihrer rechten Hand liegt der Etikettenabriss. Violett. Woher konnte sie das wissen? Eine Ahnung? Beobachtung? Vielleicht. Als Schneiderin muss man eine Menge beachten, einen Körper rundherum erfassen, ihn sich in diesem oder jenem Stoff vorstellen.
Katharinas Hände sind flink, konzentriert, zielgenau und wunderschön. Lang und schlank, sehnig. Wie ihr Hals. Sie selbst ist es. Schön. Beeindruckend schön. Aber nicht wie das Gesicht auf einem Magazin. Eher wie ein Schwarzes Loch. Es ist nichts zu sehen, aber du spürst die Kraft. Ich muss husten und sie dreht den Kopf. Lächelt und fingert aus einer Tasche eine Rolle Faden, hält ihn ans Hemd. Gleiche Farbe. Hinter mir gluckert es in allen Tonlagen. Dann beginnt das letzte Röcheln.
»Milch?! Zucker?!«, rufe ich ihr zu.
»Ein Teelöffel Zucker, bitte.«
»Kommt!«
Auf einer Tasse entdecke ich das tapfere Schneiderlein, das gerade sieben Fliegen auf einen Streich erwischt hat. Sicher ihre Lieblingstasse. Dort hinein gieße ich die wirklich schwarze Brühe. Sie riecht stark und bitter. Einen Löffel Zucker dazu, umrühren. Die zweite Tasse ist leicht angestaubt. Ich reibe sie mit einem Tuch aus, das hoffentlich nicht irgendeinem Kunden gehört und fülle nur zur Hälfte Kaffee hinein. Wenn er wirklich so stark ist, muss ich zu oft auf die Toilette. Zwei Löffel Zucker für mich. Mit beiden Tassen gehe ich nach vorne, stelle das tapfere Schneiderlein in die Mitte des Tisches und setze mich auf einen Stuhl an der Wand.
»Danke«, murmelt sie. Die Nadeln bewegen sich auf und ab. Wie oft sie sich schon gepiekt hat? Ins Zahnfleisch, die Zunge … es schüttelt mich bei der Vorstellung. »Darf ich dich mal was fragen?«, sagen die Nadeln. Die Lippen bleiben fast geschlossen und mit einer recht groben Schere schneidet sie einen breiten Streifen vom violetten Stoff ab.
»Durchaus.«
Abrupt beendet sie alle Tätigkeiten und schaut mich an, steckt die Nadeln ins Kissen und schlürft einen Schluck aus der Schneidertasse. Die Augenbrauen heben sich. »Überraschend gut«, lobt sie das Gebräu.
»Danke.« Ein zweiter Schluck folgt. Dann stellt sie die Tasse ab und legt den Streifen Stoff an die Knopfreihe.
»Warum hast du deinen Sohn so lange nicht mehr gesehen?« Mit dieser Frage habe ich nicht gerechnet. Eher etwas zu Beruf oder Alter oder wie man es mit der alten Schmidt in einem Mietshaus aushält. »Ist die Frage zu persönlich?«, ergänzt sie und arbeitet weiter.
»Nein. Vielleicht nur schwer nachzuvollziehen. Und ich habe noch keinen Testfall damit gehabt.«
»Du meinst, du hast noch nie jemandem davon erzählt und deshalb keine Ahnung, wie die Menschen reagieren.« Sie zeichnet eine Linie entlang der Knopfreihe.
»Das stimmt. Es ist eine Art Geheimnis. Ich kann mir nicht vorstellen, dass vernünftige Menschen damit etwas anfangen können.«
»Probier es aus«, fordert sie mich auf, ohne herzusehen. Dafür trennt sie die komplette Knopfreihe einfach vom restlichen Hemd. Mein Gesichtsausdruck bleibt ihr nicht verborgen. »Keine Angst. Ich säume es beidseitig. Die Deckleiste wird breiter, man wird das eingesetzte Stück nicht mehr sehen.«
Eine Verlegenheitsgeste mit dem Kopf. Mehr schaff ich nicht. Sie ist die Schneiderin, und offensichtlich eine sehr erfahrene. Ihre Frage drängt sich ins Licht. Wie kann ich das erklären? Vielleicht überhaupt nicht. Es ist, wie es ist. »Hast du schon mal jemanden so tief und intensiv geliebt, dass sein Verschwinden dich auf der Stelle aus der Bahn geworfen hätte?«
Katharina richtet sich auf, stemmt beide Hände in die Hüften und überdehnt sich. Dann zieht sie einen Drehstuhl heran, öffnet eine Klappe im Tisch und holt eine Nähmaschine aus der Versenkung. Auf einem Brett montiert, drunter ein Federmechanismus. Irgendwo rastet es mit einem Klacken ein. Sie hat gehört, was ich gesagt habe, aber möglicherweise war meine Antwort zu knapp.
»Als mein Sohn auf die Welt kam, hat dies mein Leben mit einem Meer aus Angst gefüllt. Bis zum Anschlag und oftmals darüber hinaus. Minute um Minute, Stunde um Stunde, Tag für Tag, all die Jahre, bestand mein Leben daraus, meine Angst zu kontrollieren, im Zaum zu halten. Als er auszog, wurde es nicht besser. Im Gegenteil. Also beschloss ich, zu implodieren. In mich selbst zu fallen, hinter Türen und Rollläden zu verschwinden, unsichtbar zu werden. Das hat meine Frau nicht ausgehalten. Sie ging. Und auch mein Sohn verstand nicht, was mit mir geschah. Das reduzierte seine Besuche von wöchentlich auf monatlich auf jährlich und eines Tages bin ich hinter Türen und Rollläden alt geworden. Jetzt, mit sechzig, kommt eine Karte. Wenn ich wissen will, wie er aussieht, müsste ich ein Foto anschauen, aber leider habe ich alle Fotos in den Müll geworfen und selbst wenn ich noch einige besäße, sie bestünden aus vergangenen Gesichtern. Nur noch an seine Schrift kann ich mich erinnern.«

Mein Mund ist trocken wie die Gobi. Ich stehe auf, hole ein Glas Wasser aus dem Pausenraum, trinke es komplett leer und gehe wieder zu Katharina, die das Hemd unter der Maschine hat und einen Faden einfädelt. Sie sagt nichts, also setze ich mich wieder, denke an meine Worte. Ich habe Jahre benötigt, um mein eigenes Puzzle zusammenzusetzen. Als es fertig war, wusste ich nichts damit anzufangen. Es war niemand mehr da, dem ich es zeigen konnte.
»Darf ich dich noch etwas fragen, Heinrich?« Es summt, dann ein Brummen. Die Geräusche kenne ich von Mutter. Das Fußpedal der Nähmaschine, ein Elektromotor fängt an, sich zu drehen, die Maschinennadel bewegt sich langsam auf und ab, stoppt. Katharina dreht nach, legt den Faden auf eine besondere Weise um den Ansetzpunkt.
»Alles.«
Sie lächelt mich an. Dann drückt sie das Pedal und legt los. In einem einzigen Zug führt sie Hemd und Streifen bis zum Ende durch. Es sieht perfekt aus.
»Warum bist du hier? Bei mir? Wie hast du es geschafft, Türen und Rollläden hinter dir zu lassen?«
»Du wirst es mir nicht glauben: der Laden. Knapp fünfzehn Jahre wohne ich jetzt hier und er ist mir nicht aufgefallen, wie viele andere Dinge mir ebenso nicht aufgefallen sind. Vorhin jedoch blieb mein Blick an ihm hängen. Der Fensterflügel, ein Luftzug … du erinnerst dich?«
Sie nickt konzentriert und betrachtet ihr Werk, schneidet überschüssigen Faden ab. »Das ist vielleicht ein kleiner Tritt gewesen«, erwidert sie, »aber war das der Auslöser? Vielleicht hast du nur auf so etwas wie diese Karte gewartet. Vielleicht warst du schon längst bereit, diesem Tal Adieu zu sagen.«
Jetzt trinke ich doch einen großen Schluck Kaffee. Kalt und ziemlich süß. Ich könnte mich an diese tapfere Schneiderin gewöhnen. Sie sieht mich an. Telepathie? Nein, so was gibt es nicht. Das Etikett fällt mir ein.
»Darf ich dich auch etwas fragen?«
»Gerne.«
»Woher wusstest du, dass ich das violette Hemd auswähle?«
»Ein Gefühl, mehr nicht.«
»Hat dich dein Gefühl schon mal in die Irre geführt?«
Sie wiegt den Kopf hin und her. »Meistens. Bei dir war ich mir aber sicher.« Ich schweige. Wir schweigen. Dafür schauen wir uns an. Das schwarze Loch und ich. Ich habe vergessen, wie schön Schönheit ist. Etwas fällt auf meinen Handrücken. Bis ich verstehe, dass ich weine, reicht Katharina mir ein Taschentuch, steht auf, drückt mich und geht in die Küche. Mit einer vollen Tasse Kaffee kommt sie zurück. Ich habe mich beruhigt. Sie steht neben mir, legt eine Hand auf meine Schulter. »Was ist gerade passiert?«
»Ich weiß nicht«, gestehe ich. Mit einem Seufzer nimmt Katharina Platz und arbeitet weiter. Das Hemd wird wieder zu einem Hemd. Stück für Stück. Ich denke an die Karte. An Kopenhagen. Mitten im Winter in einer nassen dänischen Stadt, es wird Dänisch geredet. Ganz sicher sogar. Ich werde kein Wort verstehen, niemand wird mich kennen. Dann Kaffee und Kuchen, abends Tanz und Party. Viele Menschen. Bisschen Small Talk. Ich kenne ja noch nicht mal seine werdende Ehepartnerin. Oder Ehepartner? Ich weiß nichts. Und es wird eine Heimreise geben, zurück nach Köln. Was dann? Der nörgelnde Valentin, die alte Schmidt und ein Hausbesitzer, dem wir nicht zu früh sterben können.
»Katharina?«
Sie reagiert nicht sofort. Der Kragen leistet Widerstand, hochheben, umdrehen, beide Hände hat sie im Einsatz, dann piekt sie sich, flucht kurz und sieht her. »Tschuldigung, Heinrich. Der Kragen ist immer eine komplizierte Sache. Was gibt es?«
»Ich wollte nur … ich meine …«
Hemd samt Kragen fällt auf den Tisch. Sie dreht sich mir zu. »Na, raus mit der Sprache.«
Ich habe das Gefühl, rot zu werden und möchte im Boden versinken. »Hast du Kinder? Ich meine, hast du eine Familie?« Wieder die zahllosen Vögel in der Aue. Dieses Lachen ist Medizin. Und ich schätze, es ist ein eindeutiges ‚Nein‘.
»Ich weiß gar nicht, wo ich da anfangen soll? Keine Zeit. Paris und Mailand waren kein Zuckerschlecken. Ein Entwurf jagte den nächsten, Modemessen, Modeausstellungen, Laufstege, eitle Kunden, unzufriedene Kundinnen, mehr als ein Techtelmechtel war nie drin. Und als ich den Laden übernommen habe, gottseidank schuldenfrei, musste ich mit der sterbenden Kundschaft zurechtkommen. Einen neuen Kundenstamm aufbauen. Weniger, aber längerfristige Geschäftsbeziehungen.« Sie hat sich in Stimmung geredet und mustert mich. Vielleicht, ob ich noch folgen kann.
»Sprich ruhig weiter. Du hast eine angenehme Stimme. Zuhören macht Spaß.«
Das quittiert sie mit einem Stirnrunzeln. »Na ja, am Ende bin ich auch nicht die schönste Blume im Strauß«, sagt sie nach einer kleinen Pause und beginnt, die Knöpfe anzunähen. Warum sagt sie das?
»Das finde ich nicht. Im Gegenteil.«
»Das Ganze hier wird nicht billiger, wenn du mir schmeichelst«, kommt es kühl, ohne dass sie aufschaut. Die Nadel von unten durch den Stoff an der markierten Stelle, durch eines der Löcher im Knopf, zwei Mal den Faden drum wickeln, dann in die entgegengesetzte Richtung.
»Zu niemandem war ich in mehr als zwanzig Jahren so ehrlich wie zu dir und du denkst, ich wollte dir schmeicheln?« Keine Antwort. Der nächste Knopf. Ich mag schwarze Knöpfe auf violetten Hemden. Keinen Kaffee mehr in der Tasse. Ich bin seit mehr als einer Stunde hier. Und warum denkt sie, dass ich ihr schmeicheln will? »Wenn ich dir schmeicheln wollte, würde ich sagen, in einem Museum mit tausend Gemälden, bist du das einzige, vor dem ich ein Leben lang stehenbleiben könnte.« Sie hebt den Kopf, hält die Nadel still. »Was im Übrigen sogar stimmt«, setze ich nach.
Katharina legt alles auf die Seite, steht auf und verschwindet nach vorne. Ganz schwach höre ich eine Toilettenspülung, dann kommt sie zurück und nimmt eine Hose aus Großvaters Wunderschrank. »Hier. Anthrazitfarben, ein Denim-Stoff. Wirkt eher lässig und passt zu dir und dem Hemd. Probier sie mal an. Geh aber in den Pausenraum.«
Das tue ich schweigend. Die Hose passt wie angegossen. Keine Ahnung, was sie kostet, aber selten hatte ich beim Anprobieren ein solches Wohlgefühl. Stoff und Schnitt, alles wunderbar. Ich darf gar nicht daran denken, was ich gerade zu ihr gesagt habe. Dass sie mir gefällt. Und wie. Dass ich sogar drauf und dran bin, mich Hals über Kopf in sie zu verlieben, habe ich lieber weggelassen. Die Nähmaschine rattert erneut. Mehrmals kurz hintereinander. Kopfschüttelnd gehe ich zurück zu meinem Drehstuhl. Was bin ich doch für ein Narr.
»Passt die Hose?«
»Als wäre sie für mich gemacht worden.« Katharina nickt und schneidet die überflüssigen Fäden ab. Das war es mit der Konversation. Unsicher lehne ich mich an, starre an die Decke. Ebenfalls holzgetäfelt. Würde man das heutzutage so gestalten, käme man aus dem Bezahlen gar nicht mehr raus. Aber was ist diese Decke schon gegen Katharinas Gesicht. Herb, immer wieder mit unnahbaren Zügen, ein breiter und voller Mund. Die Nase recht spitz und schmal. Nichts an ihr passt in irgendein Schema. Sie steht außerhalb jeglicher Wertung. Ist das, was sie ist zu einhundert Prozent. Und verletzt. Von was auch immer. Techtelmechtel, na, die haben wir alle mehr oder weniger gehabt.
»Darf ich dich fragen, wie alt du bist?«
»In zwei Wochen werden es 47 Jahre.«
Vor meinem Auge komme ich in zwei Wochen mit einem Strauß Blumen und einer Einladung zum Essen ins Geschäft, lasse die Tür drei Mal bimmeln und überrasche sie. Ja, und was dann? Alle Türen und Rollläden wieder öffnen? Ich träume, sie sagen zu hören, dass es keine blöde Idee wäre, mit mir zusammen zu sein, im Park zu flanieren, abends zu kochen, um sich dann nackt gegenüber zu liegen, die Hände auf der Suche nach Stellen auf der Haut, die uns weich werden lassen. Ich seufze spontan. Ein tiefer Seufzer. Sie schaut kurz her.
»Was ist? Langweilig?«
»Nein, gar nicht. Ich sehe dir gerne bei der Arbeit zu. Das ist etwas völlig Neues für mich, dieses Handwerk. Ich finde, du bist eine sehr gute Schneiderin.«
Sie zuckt mit einer Schulter. »Danke. Was macht dir dann zu schaffen?«
»Kopenhagen«, lüge ich.
»Verstehe. Die Angst.«
»Ja, die Angst.«
»Dabei kann ich dir nicht helfen.«
»Nein, kannst du nicht. Ich weiß.«

Das Hemd ist fertig und steckt zusammen mit der Hose in einer braunen Papiertüte. Die Uhr zeigt kurz nach Mittag. »Wenn ein Knopf verloren geht, komm einfach rüber. Ich habe noch genug von dieser Sorte. Und bitte wasch das Hemd heute. Vierzig Grad und keinesfalls in den Trockner. Bügeln musst du es nicht unbedingt, aber wenn, dann nur mit zwei Punkten.« Ich nicke dauerhaft. »Und jetzt bekomme ich 560 € glatt.«
Mir wird kurz heiß. Aber ja, das ist nur angemessen. »Geht auch mit Karte?«, frage ich und lege sie auf den Tisch.
»Klar. Kein Problem.«
Katharina drückt die Karte ins Lesegerät, lässt mich die PIN eingeben, bestätigen, reißt den Bon ab und steckt ihn in die Tüte, gibt mir das Stück Plastik zurück. Das Gefühl, unbedingt den Laden verlassen zu müssen, wird übermächtig. Ich will hier bleiben, bei diesem einzigartigen Gemälde unter tausenden. Sie festhalten. Stattdessen greife ich die Tüte und ihre Hand landet auf meiner. Ich erstarre in der Bewegung.
»Es lohnt nicht, sich in mich zu verlieben, Heinrich. Ich kann nicht lieben. Niemanden. Seit ich denken kann – oder in dem Fall – seit ich fühlen kann. Ich habe es probiert. Aber ich danke dir für deine Worte. Sie haben Bedeutung für mich.« Ertappt und nass bis auf die Knochen. Meine Tränen laufen. Was für ein Tag. Zwei Mal schon weinen. Zügig drehe ich mich weg, sage ‘Danke, tschüss‘ und bin draußen im kühlen Dezember.

Leeres Treppenhaus, kein Röcheln. Dafür sehe ich kaum was durch die nicht enden wollenden Tränen. Türen und Rollläden sind weit geöffnet. Ich bin wohl ins Licht getreten und kann nicht mehr zurück. Oben angekommen, lege ich die Tüte auf den Küchentisch und greife das Telefon. Die Nummer des Vermieters ist gespeichert. Es klingelt nur kurz.
»Wallraff?«
»Konstantin hier.«
»Ah, schau an. Mein Lieblingsmieter. Was gibt es?«
»Wenn ich morgen ausziehe, was bekomme ich dann von Ihnen?«
Totenstille im Hörer. Dann ein tiefes Einatmen.
»Sie wollen mich mal wieder auf den Arm nehmen …«
»Ich ziehe morgen aus. Mit meinen Sachen können Sie machen, was Sie wollen. Verkaufen, dann fällt noch ein gutes Sümmchen ab für Sie. Aber ich will was fürs Ausziehen.«
»Wie viel?«
»5.000 Euro.«
»Abgemacht.«
»Okay, morgen früh um acht Uhr! Bar auf die Hand! Tippen Sie die Kündigung. Ich unterzeichne. Keine Klauseln, nix Kleingedrucktes!«
»Bis morgen früh«, sagt er und legt auf. Ich schätze, der alte Valentin und die Schachtel von oben werden bald das Zeitliche segnen. Dann kann er alles in Eigentumswohnungen umwandeln und teuer verkaufen. Mir egal. Meine Tasse auf dem Tisch ist leer. Noch einen Kaffee ertrage ich nicht, also köpfe ich zur Feier des Tages ein kühles Reissdorf, schalte das Tablet an und suche nach einer Zugverbindung. Ich weiß noch nicht mal, nach was ich suchen werde. Wie viele besuchte Orte sich im Laufe der Jahre in meiner Erinnerung in Nebel aufgelöst haben, kann ich nicht abschätzen. Einsamkeit macht vergesslich und man wird vergessen. Tief unten, auf dem Grund meines Schachtes, werde ich etwas entdecken. Mit dem Reissdorf in der Hand stehe ich auf, gehe die wenigen Schritte zum Fenster. Lorenz und Söhne. Mein Herz klopft, wenn ich an Katharina denke. Und mein Magen grummelt beim Anblick der Karte. Kopenhagen. Ich bin schon zu weit weg, um dort je anzukommen. Und der Angst werde ich nicht entgegenfahren. Mit einer schnellen Bewegung landet die Einladung im Papierkorb. Griechenland fällt mir ein. Morgen von Köln nach Brindisi, auf die Fähre nach Patras, quer durch Griechenland und nach Naxos übersetzen. Ich würde sie lieben, die tapfere Schneiderin. Mit ihr zärtlich sein am Strand. Vielleicht die Angst vergessen.

Dieses Geschichte

Entstanden im Jahr 2023 und spielt auf jeden Fall in Köln. Alter Mann, was nun? Gewohnheit, der Trott, Ängste, freiwillige Vereinsamung. Und doch ist da noch Widerstand. Erfolgt der Ausbruch in den Aufbruch? Man kann noch alles ändern, wenn man sich traut. Viel Spaß beim Lesen!

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