Der letzte Hase

KURZGESCHICHTE | Eine Handvoll Blätter vom jungen Löwenzahn müssen genügen. Mehr hat Heinrich nicht gefunden unter der dünnen Schneedecke. Die gelben Blüten sind zum Schutz vor der Kälte dicht und stramm verschlossen, das meiste Leben für die kommende Nacht zurück in der Wurzel. Heinrich steht hinter dem alten Stall, auf dem zwei Meter breiten Rain, der nach Norden die Eichengewann begrenzt und entlang der alten Ziegelwand den Gräsern und Kräutern noch etwas Platz bietet, um das zu tun, was ihnen entspricht; die Winterkrume durchbrechen und das Licht begrüßen. Alle paar Meter verrostete Anhängegeräte, Heuwender, eine zerbrochene Egge, ein Pflug. Überbleibsel, die mindestens ein Menschenleben alt sind, von Zittergras und Haselnusssträuchern erobert. Die Vögel werden bald wieder darin einziehen. Seit ein paar Tagen blüht der Löwenzahn wie die strahlende Morgensonne; zumindest bis vorgestern. Dann kam erneut Schnee. Osterschnee, wie es bei den Bauern heißt. Ein letztes Aufbäumen des vergehenden Winters.
Heinrich zählt die Blätter. Fünfzehn an der Zahl. Völlig ausreichend. Er geht um das südliche Eck des alten Stallgebäudes auf die schmale Durchgangsstraße, die den Vier-Seiten-Hof von West nach Ost durchzieht. Aus dem Gesindehaus kommt der Melker, schlüpft in die grünen Gummistiefel, setzt sich auf den Treppenabsatz, zündet eine Pfeife an und zieht ein paar Mal. Die Flamme biegt sich Richtung Tabak. Dann pustet er genüsslich den Rauch nach oben und entdeckt Heinrich. »Nanu? Wo kommst du denn her? Warst du pinkeln?«
»Nee, hab Löwenzahn gesucht.«
»Und? Gefunden?« Er pafft drei, vier Mal und hält erneut die Flamme an die Öffnung.
»Ein paar Blätter.«
»Haste dem Chef wieder nen Hasen abgekauft?«
Heinrich nickt, setzt sich neben ihn, stützt zurückgelehnt beide Ellenbogen auf die oberste Stufe und riecht dem Honigduft des Pfeifentabaks nach. »Ich verstehe dich nicht«, sagt der Melker in eine Wolke aus Rauch. »Du kannst beim Chef essen, tust es aber nicht, weil …« Er zuckt mit den Schultern und sieht Heinrich von der Seite an.
»Weil ich mich nicht mehr mit diesen Leuten an einen Tisch setzen werde«, erklärt der. »Dabei ist es ja noch nicht mal derselbe Tisch«, fährt er fort. »Wir sitzen am Gesindetisch und bekommen die Suppenschüssel, wenn die liebe Familie sich geschöpft hat.«
»Hauptsache was zu essen«, meint der Melker lapidar. Ein tiefer Zug, dann klopft er die Pfeife am Stiefelzieher leer, legt sie vor die Haustür und steht auf. »Du solltest dir überlegen, ob du hier richtig bist. Den Alten wirst du nicht mehr ändern. Auf Dauer könnt ihr euch nicht aus dem Weg gehen.«
»Ich könnte bei euch essen, den Anteil für Kosten und Logis gebe ich dir«, schlägt Heinrich vor und der Melker lacht herzlich, klopft sich Staub aus der Hose und knöpft die Feldjacke zu.
»Du wirst überrascht sein, aber das habe ich meiner Frau vorgeschlagen. Drei Mal darfst du raten, wieso du immer noch selbst dein Essen kochst.«
»Weil sie mich nicht leiden kann?«
»Nee, Heinrich, das hat damit nichts zu tun. Wir sind hier eine christliche Gemeinschaft. Wenn du nicht mit dem Chef klar kommst, kann es also nur an dir liegen. Damit bringst du Unruhe in unser Zusammenleben. So denkt meine Frau.«
Heinrich nickt. »Ich verstehe. Und du denkst ebenso?«
»Du bist ein guter Kerl. Jung, ungestüm, mit vielen Ideen, ordnest dich aber nicht gerne unter. Aber unterordnen ist hier bei uns notwendig; und glauben. Ich beuge mich nicht zu weit aus dem Fenster, wenn ich sage, dass dein Glaube gegen null tendiert, nicht wahr?«
Unterordnen ist bei uns notwendig, wiederholt Heinrich die letzten Worte in Gedanken und erhebt sich ebenfalls. Er überragt den Melker um mehr als einen Kopf. »Also am Ende hackt eine Krähe der anderen kein Auge aus«, stellt er fest.
»Wenn du es so nennen möchtest, Heinrich, tut mir das leid. Wir sind abhängig vom Alten. Wer stellt heute noch einen Melker ein mitsamt Familie?« Er lächelt mit schmalen Lippen. »Lass es dir schmecken. Und such dir einen anderen Hof. Geselle kann man überall sein.« Zügig dreht er sich um, geht mit schnellen Schritten zum großen Stall. Zweiundachtzig Kühe wollen gemolken werden. Heinrich holt den Löwenzahn aus der Tasche und zählt nach. Immer noch fünfzehn Blätter. Welk zwar, aber ihren Zweck werden sie erfüllen.

Tief Luft holend überschaut er den gesamten Innenhof. Vergessenes Leben atmet aus allen Mauerfugen, gekalkten Wänden, Eichengebälk. Wohngebäude, Maschinenhalle, Ställe, das alte Gemäuer entlang der Straße, durch Jahrhunderte Heimat für Generationen. Heinrich stellt sich Knechte, Mägde und Stallmeister, Ochsenkarren und Gespanne auf dem Granitpflaster vor, hört deren Stimmen, Fluchen und Lachen, dann zieht er tief die minütlich kühler werdende Abendluft ein, das Bild verblasst. Er geht Richtung Kleinviehstall, entriegelt das Tor und tritt ins Halbdunkel, legt den Bakelit-Schalter um. Spärliches Licht alter Glühbirnen schafft es nur mühsam, Hühner, Hasen und Enten der düsteren Umgebung zu entreißen, sie auf dem gestampften, tieferliegenden Fußboden zu entdecken. Darüber die niedrige Decke aus geweißelten Balken, befüllt mit Lehm-Stroh-Füllung, daran kleben zahllose Spinnweben, in einen Mantel aus Staub gepackt, kaum noch die Kraft, sich zu halten.
Die Hasen dösen in den Ecken ihrer Lattenbehausungen, rostiger Maschendraht trennt deren Welt vom Rest. Ein Quadratmeter für vier Langohren. Ganz rechts die jungen, ganz links steht Heinrichs Ziel auf einem zusammengenagelten Holzregal, in dem alte Dosen voll Schneckenkorn, Lindan und E605 stehen. Zwei erdbraune Tiere und eine gescheckte Häsin sitzen im rechten Eck, aneinandergeschmiegt; dösen, schnuppern wer da kommt. Heinrich öffnet den Verschlag, holt den Löwenzahn aus der Hosentasche und legt ihn breit gefächert aufs Stroh. Wer wird zuerst kommen? Eine der erdbraunen Häsinnen hoppelt zögernd näher, riecht am Grün. Die Schnurrhaare zittern. Vorsichtig nimmt sie eines der Blätter ins Maul, beginnt zu mümmeln. Heinrich greift zu. Packt sie an den Ohren, hebt das Tier aus dem Verschlag, schließt ihn mit der anderen Hand und geht wieder ins Freie. Die Sonne ist hinter den Wohnhäusern verschwunden, der Himmel klar. Eine kalte Hand, die alles im Griff hat. Pflanzen, Tiere und Menschen an den Rand ihrer Existenz drückt, fast einer Lähmung gleich. Langsam geht Heinrich zum Waschplatz.

Im großen Stall läuft das Melkkarussell an, die Milchkühlung brummt. Die Häsin zappelt nicht. Schwarze Knopfaugen blicken umher. Niemand ist auf dem Innenhof zu sehen. Ein Metalltisch steht an der Wand des betonierten Platzes, unter den Wasserhähnen, die noch ohne Druck sind, der frostigen Nächte wegen. Heinrich packt den vorbereiteten Knüppel und verpasst der Häsin einen Nackenschlag. Die schwarzen Augen verlieren allen Glanz und eine kleine, rosafarbene Zunge hängt aus dem Maul, Reste vom Löwenzahn kleben daran. Er schlingt zwei Sisalschnüre um die Hinterläufe, bindet je einen Mastwurf dran und das Tier an die Winkel der Schlauchrollen. Die Häsin pendelt sanft hin und her. Heinrich nimmt das Jagdmesser, zieht das Tier stramm und öffnet in einem Schnitt die Kehle. Luftröhre, Speiseröhre, Adern, das Blut folgt der Schwerkraft, tropft erst, läuft dann in einem dünnen Strahl auf den grauen Boden, von dort langsam in die Senke und verschwindet in der Ablaufrinne.
Die Dämmerung kommt schneller als erwartet. Bald wird die blaue Stunde über allem sein. Zügig führt Heinrich einen ringförmigen Schnitt um die Hinterläufe, dann senkrecht nach unten, öffnet den Wanst, entnimmt alles, was nicht in den Kochtopf soll. Mit Messerspitze und Knauf zieht er das Fell ab, trennt Kopf vom Hals und wirft alles samt Gekröse auf den Misthaufen in das vorbereitete Loch, deckt ausreichend Mist darauf. Aus der Waschküche holte er kaltes Wasser, spült den Platz und wäscht das noch warme Fleisch, wäscht das Innere aus. Dann räumt er auf. In der Ferne hört er einen Motor. Ein Auto ist auf dem Feldweg. Heinrich hängt das Tier ab und geht Richtung Gesindehaus. Kurz bevor er die kleine Treppe erreicht, fährt ein Käfer auf den Hof, parkt im offenen Unterstand. Der Meister ist zurück vom Gottesdienst und zwei Katzen lecken Reste vom Blut auf dem Waschplatz, riechen die Spur bis zum Misthaufen, verziehen sich aber angeekelt.

Kartoffelstücke, Karottenscheiben, Sellerie, alles vorbereitet. Zwiebeln und Knoblauch sind kleingehackt. Der alte Kanonenofen hat inzwischen genug Hitze. Einer unsichtbaren Wand gleich, steht sie im Raum und drückt alle Kälte gegen die Windkreuzscheiben, versetzt sogar die ergrauten Häkelvorhänge in sanfte Bewegung. Auf dem Stragulaboden liegen ein Dutzend Buchenscheite. Heinrich schiebt sie mit dem Fuß ins Eck, fegt Rinde und Dreck hinterher, dann stellt er die Emaille-Kasserole auf das Gitter des Ofens, gießt eine Bodendecke Rapsöl hinein, das Sekunden später Bläschen bildet. Die Häsin hat er zerteilt, legt sorgfältig die einzelnen Stücke in den Topf, streut Salz darüber, mit einer Blechtasse auf der Fensterbank zerriebenen, weißen Pfeffer und zwei Rosmarinzweige. Es klopft.
»Ist offen!«
Hermann, der Meister, kommt herein und bleibt wie angewurzelt stehen. »Mein Gott, was eine Hitze hier drin!« Kurzentschlossen zieht er den Pullover aus, hängt ihn über die Stuhllehne und setzt sich. Es brutzelt kräftig im Topf. Heinrich hat kaum gehört, was Hermann über die Hitze erzählt hat. Mit einer Telefonzange greift er ein Stück Fleisch nach dem anderen, dreht es, salzt und pfeffert erneut. Vorsichtig schiebt er Zwiebeln und Knoblauch vom Holzbrett in den Topf, dann folgt alles Gemüse inklusive zwei Lorbeerblättern und drei Nelken. Aus der Tischschublade nimmt er einen Lederhandschuh, packt den linken Topfgriff und rührt mit einem Holzlöffel das Gemüse wieder und wieder um. Hermann gähnt ausgiebig, streckt beide Arme in die Höhe. Fleisch und Gemüsestücke beginnen zu schmoren.
»Wie schnell die Stücke auf so einem Ofen braun werden, ist schon enorm«, stellt Heinrich fest und schließt die untere Zuluftklappe. »Hitze ist genug drin!«, sagt er. Hermann streicht die wenigen Kopfhaare nach hinten und zieht eine Flasche Rotwein aus einer mitgebrachten Tüte. »Sehr gut!«, freut sich Heinrich, nimmt ihm die Flasche ab, entkorkt sie, dann gießt er den Wein schluckweise in den Topf. Ist er verdampft, kippt er nach, wiederholt das drei Mal, dann lässt er den restlichen Flascheninhalt hineinlaufen, verkleinert die Öffnung der Abzugsklappe, verschließt den Topf und setzt sich. Hermann hat sich angelehnt, die Augen geschlossen, beide Hände flach auf dem Tisch.
»Der Melker meint, ich solle mir eine andere Stelle suchen. Denkst du genau so?« Eine Antwort lässt auf sich warten. Vielleicht hat er es nicht gehört oder will einfach nichts dazu sagen, denkt Heinrich und streckt die Beine lang. »Du musst ja nichts sagen, Hermann.« Nur Schweigen. Heinrich schüttelt den Kopf und lauscht den Geräuschen im Topf. Es brodelt und dampft. Er drückt mit dem Feuerhaken gegen den Griff der Abzugsklappe, schließt sie noch ein Stück. Dann holt er zwei Flaschen Export vom Außensims des Fensters, stellt beide auf den Tisch und öffnet sie. »Wie war es in der Brudergemeinde? Alles noch brüderlich?«, fragt er, hebt die Flasche, trinkt einen großen Schluck.
»Gut, Heinrich. Würde dir auch nicht schaden.«
»War der Chef auch da?«
Hermann trinkt und nickt dabei. »Mitsamt Familie«, sagt er nach dem Absetzen. Mitsamt Familie, wiederholt Heinrich in Gedanken. Er stellt sich den Chef mit Frau und vier Kindern vor, auf steinharten Kirchenbänken, Psalmen und Nächstenliebe im Raum, eine Orgel wird gespielt. In seiner Erinnerung sucht er ein Bild von sich in einer Kirche und findet keines. Hermann rülpst unterdrückt und der Topfdeckel klappert zwei oder drei Mal.
»Wie lange bist du schon hier auf dem Hof, Hermann?« Der Meister überlegt ausgiebig, benutzt die Finger beider Hände mehrmals zum Durchzählen.
»34 Jahre sind es jetzt.«
»34 Jahre! Nachdem du den Meister gemacht hast …«
»Stimmt. Im Jahr davor hab ich die Prüfung bestanden.«
»Und du bist kein einziges Mal auf die Idee gekommen, woanders zu arbeiten?«
»Warum?« Heinrich setzt an und trinkt die Flasche auf einen Zug leer, dann schaut er in den Topf. Einmal durchrühren. Noch genug Flüssigkeit drin. Er holt ein weiteres Export vom Sims, öffnet es und setzt sich wieder. Der Meister verfolgt all seine Bewegungen. »Warum hätte ich auf die Idee kommen sollen, woanders zu arbeiten?«, hakt er nach und Heinrich denkt an das letzte halbe Jahr. Er mag den Meister und seine ruhige Art, aber nicht diese Blindheit allem und jedem gegenüber. Das ist ihm ein Rätsel. Der Melker fällt ihm ein und was dessen Frau denkt. Der Glaube und dass Heinrich ziemlich weit entfernt ist von eben diesem; weshalb er nicht am Tisch mitessen kann.
»Du weißt, warum ich das frage, Hermann. Du weißt, wie der Alte sein kann, nein, wie er ist. Du weißt, dass Leopold für eine Siebzigstundenwoche fünfhundert Mark netto bekommt.«
»Leopold ist ungelernt, lernbehindert, fast ein Schwachkopf. Ohne den Chef hätte er gar keine Arbeit«, fällt ihm der Meister ins Wort. Heinrich rollt die Augen.
»Sind das christliche Kriterien für einen Stundenlohn? Leopold ist absolut zuverlässig. Wenn du ihn nachts anrufst, kommt er vom Dorf hoch mit dem Schrott, das er Moped nennt. Alles was du ihm sagst, tut er anstandslos. Er ist loyal, freundlich und hilft immer. Die schwersten Arbeiten erledigt er bei Wind und Wetter. Und das für fünfhundert Mark und zwei Wochen Urlaub im Jahr?«
Heinrich beugt sich zum Topf und rüttelt zwei Mal daran, dann schaut er hinein. Es ist zu viel Flüssigkeit verdampft. Er kippt eine Viertelflasche Bier dazu und hört Hermann sich räuspern, den Stuhl an den Tisch heranrücken. »Ich weiß, was du meinst, Heinrich, aber …«
»Was bekommst du eigentlich im Monat?«
Hermann setzt die Flasche an, schielt über den Hals zu Heinrich, setzt wieder ab. Dann schüttelt er den Kopf. »Warum willst du das wissen? Das ist doch egal.«
»Ich wette, du hast nicht mehr als 1.800 netto. Nach 34 Jahren Hintern aufreißen, wohnst du in einem abgenutzten Zimmer und wartest auf die Rente.«
Der Meister hebt die Hand und Heinrich schweigt. »Leopold ist dankbar, dass er hier arbeiten darf. Fünfhundert Mark sind ein Haufen Geld für ihn. Und ich …« Er stockt von einer Sekunde auf die andere. Als würde ihm jetzt erst auffallen, an was er 34 Jahre lang nicht gedacht hat. Heinrich wartet und lauscht dem Köcheln der Sauce. »Ich habe niemand, Heinrich. Das Zimmer, im Winter Eisblumen am Fenster … das ist in Ordnung für mich.«
Heinrich drückt den Rücken durch und dreht sich samt Stuhl zum Tisch, trinkt einen weiteren Schluck. Ich habe niemand, hat Hermann gesagt. Niemand ist da. Lediglich sonntags in den Gottesdienst und seit einem halben Jahr an Wochenenden beim Gesellen sitzen, zusammen essen, trinken, über dies und das reden. Heinrich weiß keine Erwiderung. Keine Antwort auf 34 Jahre niemand um sich haben außer Chef, Melker, Geselle, Lehrling und dem armen Leopold. Und das soll es gewesen sein? Die Stille ist so drückend wie die Hitze. »34 Jahre«, wiederholt Hermann nach einiger Zeit. »Ich wusste nicht, wie lange 34 Jahre werden können und jetzt stelle ich grad fest, dass ich das Meiste schon wieder vergessen habe«, sagt er und schaut auf die Export-Flasche, schüttelt sie.
»Möchtest du noch eine?«
Hermann nickt. Heinrich holt das letzte Exemplar vom Sims, öffnet und stellt sie auf den Tisch, kippt den Rest seines Biers in den Topf und mustert die aufsteigenden Bläschen. Die Kartoffeln haben eine aufgeraute Oberfläche. Sie sind gar. Zufrieden legt er den Deckel ins Waschbecken. »Jetzt lassen wir die Sauce ein wenig eindicken«, sagt er. »Fünf Minuten noch, dann können wir essen.« Hermann nickt, holt aus der Hosentasche Messer und Gabel.
»Hermann, ich wette, du hast nie um eine Lohnerhöhung gebeten oder mehr Urlaub, weil du ja nun auch schon was älter bist und die Arbeit schwer. Und ebenso wird Leopold nie nach so etwas gefragt haben. Dem Melker trau ich es zu, schließlich hat er zwei Kinder, aber auch der ist hier zufrieden mit allem. Solange ihr still seid, ist alles gut.«
»Es ist ja auch gut«, erwidert der Meister.
Heinrich seufzt. »Als du angefangen hast, kostete ein Laib Brot fünfzig Pfennig, heute drei Mark. Leopold wohnt in einem Haus mit seinen kranken Eltern und vor zwei Wochen kam die halbe Wohnzimmerdecke runter, erinnere dich. Seither sitzen sie im Dreck. Der Melker hat ein Auto, das man getrost als Schrott bezeichnen kann. Da ist also jemand, der entscheidet, was ihr bekommt, ohne euch zu fragen, ob ihr damit zufrieden seid. Ohne sich zu interessieren, was in eurem Leben passiert. Er wohnt fürstlich, entscheidet nach Gutsherrenart, egal ob das Leben da draußen hinter dem Wald immer teurer wird.« Heinrich macht eine Pause und spürt Wut kommen. »Vor drei Wochen habe ich einen Wochenendplan vorgeschlagen und ihr wart einverstanden, dass wir uns alle zwei Wochenenden abwechseln, mehr Freizeit haben. Der Alte hat ‚Nein‘ gesagt, erinnerst du dich?« Hermann nickt. »Zu fünft standen wir in seinem Büro und ihr habt geschwiegen, als er ablehnte mit der Begründung, er wolle jeden zu jeder Zeit auf dem Hof wissen.«
»Ich weiß …«
»Und wen hat er mitten in der Nacht geholt, ihn fünf Kilometer durch Regen fahren lassen, nur weil zwei Kühe sich losgerissen haben? Er klingelt lieber Leopolds kranke Eltern raus, anstatt dreißig Meter an unsere Tür zu laufen, um zu fragen, ob wir die Viecher einfangen. Wir könnten ja dann verschlafen! Und dann hockt Leopold durchgefroren im Stall, weil er sich nicht hereintraut und arbeitet noch den ganzen Tag.«
»Ich weiß …«
Heinrich schaut an die zerschundene Decke, eine Bakelitlampe mit einer Glühbirne, die vermutlich noch den letzten Weltkrieg erlebt hat.
»‚Ich weiß‘ ist das, was dir dazu einfällt?«
»Was soll ich sonst sagen?«, bestätigt der Meister. Heinrich seufzt kopfschüttelnd, holt zwei alte Emailleteller aus dem Wandschrank, stellt sie auf den Tisch, legt das Schneidebrett mittig aufs Holz und hebt den Topf vom Ofen.
»Wir essen jetzt.«
»Ich habe schon Mordshunger«, sagt Hermann und zieht aus der anderen Hosentasche ein weißes Tuch, stopft es mit einer Ecke in den Kragen, breitet es auf der Brust aus. Heinrich reicht ihm den Schöpflöffel und schaut zu, wie er seinen Teller fast bis zum Rand füllt, den Löffel Heinrich gibt, die Hände faltet und ein paar unverständliche Worte murmelt. Nur das ‚Amen‘ ist zu verstehen. Erst jetzt füllt Heinrich seinen Teller und Hermann fängt an, die Sauce Löffel um Löffel zu schlürfen, bis kaum noch was übrig ist. Dann erst schneidet er ein Stück vom Fleisch ab, steckt es in den Mund, kaut und sieht Heinrich an. »Du kannst wirklich kochen! Alle Achtung! Besser als die Chefin.«
»Danke, Hermann. Ist nicht so schwer. Das geht fast von alleine.«
»Du hättest auch Koch werden können«, sagt der und nagt einen Knochen ab. Heinrich legt die Gabel beiseite und mustert das braun gegerbte Gesicht ihm gegenüber.
»Ich wette, du hättest auch viel werden können. Stattdessen hast du hier 34 Jahre verstreichen lassen und weißt nicht, wo sie geblieben sind. Jetzt bist du wie alt? Sechzig? Noch ein paar Jahre arbeiten, dann kommt die Rente. Wo gehst du dann hin? Da ist doch niemand, wie du sagst.«
Hermann hebt den Kopf, schluckt und legt den Löffel in den Teller. Eine fast vollkommene Stille inmitten der Hitze. Prasselt das glimmende Holz? Etwas drängelt sich nach vorne, stetig lauter werdend. Ein Ticken. Heinrichs Wecker, der Sekundenzeiger wird zu einem Klöppel und schlägt immer gieriger gegen die Bronze. Dann hustet Hermann und nimmt den weißen Latz ab, tupft über den Mund und legt ihn auf den Tisch. Das Ticken ist weg, wieder nur das Prasseln und Knistern im Ofen und Heinrich entdeckt eine Träne in Hermanns linkem Augenwinkel. Sie wird größer und er wartet darauf, dass sie zu rollen beginnt, den Nasenflügel hinab, über den Mund, aber nichts. Sie bleibt, wo sie hängt. Hermann blinzelt nicht, stattdessen isst er schweigend weiter, holt noch ein Stück der Häsin aus dem Topf. Also widmet Heinrich sich ebenfalls seinem Essen, leert den Teller und wartet, was Hermann tut. Die Träne hat sich zurückgezogen, verteilt zu einem feinen Streifen Glanz. Endlich ein Blinzeln und bald ist sie weg. Vielleicht verdampft oder wieder an ihrem Platz in Hermanns Innerem. Ob er in diesen 34 Jahren jemals geweint hat? Heinrich will diese Frage stellen, hält sich aber lieber zurück.

»Heinrich, das war wirklich gut«, lobt ihn Hermann stattdessen. »Das Fleisch schön zart, das Gemüse perfekt. Danke für das gute Abendessen!«
»Gerne. Noch einen Schnaps?«
»Wenn du Schnaps hast …«
»Immer.«
Heinrich holt aus dem Wandschrank zwei Korngläser und eine Flasche, stellt alles auf den Tisch. Der Meister greift danach und schenkt ein. »Ist irgendwie gelblich. Was ist das?«
»Cidre, aus der Bretagne. Hab ich vor zwei Jahren mitgebracht.«
Der Meister riecht am Glas und nickt anerkennend. »Duftet wirklich nach Äpfeln. Du warst schon in der Bretagne?«
»Mit dem Motorrad, ja. Nach meinem Zivildienst bin ich ein bisschen durch Europa getourt.« Beide heben ihr Glas hoch, stoßen an und trinken in einem Zug aus. Der Cidre entfaltet in Heinrichs Mund eine ganze Landschaft aus Hügeln, Wiesen und Gerüchen. Hermann macht große Augen, nickt anerkennend. »Mh!«
»Freut mich, wenn er dir schmeckt. Noch einen?«
»Nein, danke. Es war schon genug Alkohol für heute Abend. So was riecht der Chef am nächsten Tag. Und du weißt ja, das hat er nicht so gerne.«
Heinrich macht eine Schnute, zuckt mit den Schultern. Er kann sich Hermann gut in Frankreich vorstellen. Gesicht und Gemüt passen dorthin. »Warst du schon mal in der Bretagne?«
»Nein, war ich noch nicht. Ich war noch nirgends, wenn du es genau wissen willst. Mit dem Chef auf der DLG in Frankfurt, ein paar Mal auf der Viehauktion in Stuttgart, in Karlsruhe auf einer Fortbildung«, er überlegt kurz. »Einmal in Maulbronn, im Kloster. Das war schön«, sagt er dann und lächelt.
Heinrich schenkt sich nach, trinkt aus und stellt das kleine Glas langsam auf den Tisch. Im Ofen knallt ein Lufteinschluss. Frankfurt, Stuttgart, Karlsruhe, Maulbronn, Heinrich schüttelt den Kopf. »Ich komme mir mehr und mehr vor wie in einem anderen Jahrhundert. Aber nicht wie im letzten, eher das vorletzte.«
»Ist das schlimm?«, will Hermann wissen und Heinrich denkt an einen Witz, entdeckt aber nichts Spöttisches im Ton.
»Gute Frage, Hermann. Aus meiner Sicht ja. Du siehst das sicher nicht so.«
Der kratzt seine fast kahle Kopfhaut, legt dann die Handfläche drauf und reibt ein paar Mal darüber. Dabei fixiert er den Topf. »Vielleicht … wenn ich jemanden gehabt hätte, eine Liebe oder so, vielleicht hätte ich auch die Welt sehen oder mit dieser Liebe zusammen erkunden wollen, aber …« Er beendet den Satz nicht und Heinrich wartet, trinkt noch einen Cidre.
»Du hast dich nie in ein Mädchen verliebt? In der Schule, in deinem Dorf, wo immer du auch herkommst …«
»Aus einem kleinen Weiler in der Nähe von Zwiefalten.«
»Zwiefalten …«, wiederholt Heinrich gedehnt. »Das kenne ich. War ich schon mal mit dem Motorrad. Ziemlich einsame Gegend.«
Hermann lächelt oder verzieht zumindest die Mundwinkel. »Einsam, ja, das kann man wohl sagen. Und in ein Mädchen hätte ich mich nie verliebt.«
Heinrich runzelt die Stirn. »Wieso? Sag bloß, da gab es keines.«
»Doch, mehr Mädchen als Jungs. Aber …« Erneut die Stille. Heinrich spürt das Gewicht hinter dem Schweigen und denkt an ein 34 Jahre altes Geheimnis. Und daran, nicht tiefer zu gehen, dem Menschen ihm gegenüber die Mauer zu lassen, die ihn schützt. Aber vielleicht muss die Kruste genau jetzt aufbrechen.
»Aber?«
Hermann schaut durch seine Hände, auf den Boden, doch selbst der ist kein Hindernis für das Suchen des Vergangenen, den Blick über die Schulter. Zurück in alte Dörfer mit knarzenden Türen und verwehten Menschen. »Es waren nicht die Mädchen, mit denen ich gerne die Welt erkundet hätte.«
Heinrich starrt auf den Tisch. Der Topf, schmutzige Teller, Export-Flaschen. Noch einen Cidre trinken. Bretonische Äpfel, die salzige Luft, eine Idee taucht aus der schweren Dünung des Atlantiks ins Licht der Gedanken und beschleunigt seinen Puls. Hermann starrt ihn an. »Du hättest lieber mit einem Jungen die Welt erkundet«, sagt Heinrich und erwidert den Blick. Ein unmerkliches Nicken bestätigt seine Annahme. »Und warum hast du es nicht getan?«, setzt er nach und schimpft sich einen Narren. Die Antwort liegt schon ausgebreitet auf dem Tisch.
»Die Zeit, Heinrich. Die Umgebung. Schwarzgekleidete schwäbische Frauen mit Kopftuch, Herren in Sonntagsanzügen, lateinische Messen, Nächte ohne Licht. Also habe ich beschlossen, Priester zu werden, um der Welt zu entkommen, aber aufs Gymnasium durfte ich nicht, zu weit weg, zu wenig Geld. Blieb nur Kloster oder Bauer. Dauerte nicht lange und ich bin hier gelandet, bei Christen, die mich in ihre Kirche mitnehmen, mit mir beten und mich vielleicht hier wohnen lassen, wenn die Rente kommt.«
Heinrich schiebt Hermanns Worte hin und her, kaut sie durch und findet den Haken nicht. Er trinkt den Cidre lieber gleich aus der Flasche, einen tiefen Zug, denkt an die alten Männer und buckligen Frauen in der Bretagne, kurz hinter Saint-Renan und begegnet Hermanns Blick. »Du hast dich bestraft dafür, dass du auf Männer stehst. Deswegen keine Welt, deswegen 34 Jahre beten und sich menschenunwürdig behandeln lassen. Eine Art Zölibat für dich …«
Hermann nickt. »So kann man es nennen.« Heinrich lehnt sich an, streckt die Beine aus und starrt an die Decke. Hermann löffelt die Reste vom Gemüse aus dem Topf, kaut genüsslich und schlürft die Sauce.
»Da gibt es doch so Mönche, die sich kasteien. Was du tust, ist so was ähnliches.«
»Ich kann dir nur recht geben, Heinrich. Die Einsamkeit ist eine Prüfung. Das tut manchmal weh. Einen habe ich aber doch, auch wenn es mitunter schwer ist, sich diesen Einen vorzustellen.«
»Und wen?«
»Jesus. Er ist immer bei mir, selbst wenn ich ihn mal vergesse. Und er ist ein junger Mann. Ihn kann ich lieben, wann und wie ich will.« Heinrich atmet tief ein, kratzt das rechte Ohr und hält die würzige Luft in den Lungen. Sauce, das Buchenholz, der Cidre und die Wärme drücken bleierne Müdigkeit in alle Knochen. Er gähnt ausgiebig, streckt sich und steht auf. Die Glut kann jetzt ausgehen. Mit dem Feuerhaken verschließt er Zu- und Abluft. Bis morgen früh wird die Hitze weg sein. Hermann räumt zusammen, stellt alles Geschirr in den Topf. »Du hast gekocht, ich spüle und stelle dir morgen alles vor die Tür.«
»Danke.«
»Ich habe zu danken für das gute Essen und die …« Hermann schweigt für einen Augenblick. Dann nickt er, wie um sich zu bestätigen, dass es richtig ist, was nun folgt. »Danke, dass ich dir das erzählen durfte. Wie so eine Beichte war das und schwer genug nach all den Jahren.«
»Du hast das noch keinem erzählt?«
»Nein, um Gottes willen. Und ehrlich gesagt, weiß ich nicht, was in mich gefahren ist vorhin. Aber es fühlt sich richtig an. Vielleicht habe ich gehofft, dass du mich verstehst.« Heinrich schiebt die Stühle unter den Tisch und Hermann dreht sich der Tür zu.
»Ich weiß nicht, ob ich verstehe, wie man sich selbst so zurücknehmen kann. Darüber werde ich nachdenken. Aber eines kann ich dir jetzt sagen. Ich werde hier aufhören …«
Hermann erstarrt und mustert Heinrichs Gesicht ganz genau. »Hörst du wegen mir auf? Wegen der … wegen der Männer?« Hermann schwankt oder zittert. Seine Schultern sinken einige Zentimeter tiefer.
»Setz dich, bitte.«
Er folgt Heinrichs Aufforderung. Den Topf auf dem Schoß, schaut er zum Fenster. Vor dem Glas ist alles in Schwärze gehüllt. Keine Außenbeleuchtung. Jahrhundertealte Dunkelheit. Nur der Chef kann das Licht einschalten. Heinrich lässt sich auf den zweiten Stuhl fallen, klopft einen Rhythmus mit zwei Fingern.
»Vielleicht hast du sogar recht, mit deiner Annahme, dass ich wegen dir aufhöre, aber in einem anderen Sinn. Mir ist egal, wen du magst.« Heinrich macht eine Pause. Der Cidre steht noch offen auf dem Tisch. Er trinkt einen Schluck. Hermann sieht ihn schweigend an. »Es ist falsch, hier zu bleiben«, sagt er. »Klar unterbreche ich mittendrin ein Gesellenjahr, aber ich kann es begründen. Der Chef ist ein Egomane, intolerant. Sein Wohl zählt, nicht das der anderen. Ich bin kein Christ, Hermann, aber du wirst mir zustimmen, wenn ich sage, er noch weniger. In der Kirche beten und nach unten treten. Ich hasse scheinheilige Menschen.«
Hermann greift nach der Flasche und trinkt einen ordentlichen Schluck, stößt auf und einen zweiten hinterher. »Und was mache ich jetzt?«, will er wissen. Heinrich zuckt mit den Schultern.
»Aufhören.«
»Und dann?«
Heinrich überlegt, denkt an die mehr als drei Jahrzehnte. »Wenn du 34 Jahre nicht im Urlaub warst, keine Familie, nur gearbeitet hast, auf einem Hof weitab vom Schuss wohnst, nix ausgeben kannst, dann muss es irgendwo ne Menge Geld geben. Sehe ich das richtig?« Hermann nickt. »Was hält dich noch hier? Schau dir die Welt an, die Bretagne. Such dir eine günstige Wohnung, setz dich in irgendeinen Zug und lass dich überraschen, was es da draußen alles gibt.«
Es wird still im Zimmer. Der Wecker tickt. Hermann rutscht auf dem Stuhl hin und her. »Wann wirst du uns verlassen?«
Heinrich zuckt mit den Schultern. »Morgen Abend fange ich an, die Betriebe abzuklappern in der Gegend. Mal sehen. Irgendwo werde ich was finden.«

Diese Geschichte

Entstanden im Jahr 2023. Eine Szene aus der Landwirtschaft. Wir sind in den 1980ern. Nicht selten ist das Leben auf einem außerhalb liegenden Hof etwas komplett anderes, als man es sich in belebteren Gefilden vorstellt. Zumal zu dieser Zeit. Welten prallen aufeinander in dieser Geschichte. Und Ungerechtigkeiten bleiben immer Ungerechtigkeiten, egal welche Ideologie dahinter steht. Man muss sie nicht hinnehmen. Lasst gerne einen Kommentar da. Ich freue mich.

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