Hilfe! Ich will einen Roman schreiben!

Paar Zahlen

Ist Schriftstellerei überhaupt Arbeit? Also kann man das Schreiben eines Romanes als Arbeit bezeichnen? In der Mechanik ist Arbeit = Kraft x Weg. Es kostet psychische und physische Kraft einen Roman zu schreiben (100 Tassen Kaffee tragen, eine Platte mit Stullen = Kraft); und eine gewisse Zeit (Weg) dauert es auch. In der Philosophie ist Arbeit ein Prozess der bewussten schöpferischen Auseinandersetzung des Menschen mit … ja, mit was? In diesem Fall mit dem erdachten Plot, den Figuren und mit sich selbst. Und mit dem Geschriebenen Einkommen erzielen ist ja auch nicht schlecht, also ist es auch im volkswirtschaftlichen Sinn Arbeit. Kurz zur Statistik. Mein Roman INSEL 64 umfasst 360 DIN A4-Seiten, 121.444 Wörter und 761.686 Zeichen (inkl. Leerzeichen natürlich). Im Taschenbuchformat 12 x 19 gerechnet, sind das ca. 450 Seiten (je nach Layout). Ich habe etwa fünf Monate geschrieben. An manchen Tagen zwei Stunden, an anderen mehr als acht Stunden (abhängig vom sonstigen Leben). Das Allerwichtigste ist die Disziplin. Und dann die Freude. Oder umgekehrt, denn ohne Freude sinkt die Disziplin, aber mit der Disziplin kommt auch die Freude. Eine sinnvolle Wechselbeziehung. Disziplin ohne Freude hat als Ergebnis einen schlechteren Text; so ist es zumindest bei mir. Nicht umsonst sagt man, es ist die Königsdisziplin der Literatur. Liegt auch daran, dass wenige Worte viel einfacher aufs Papier zu bannen sind, als so eine Wand aus Worten. Nach so einem Roman ist man buchstäblich wie von einem Alien ausgesaugt. Eine Luftmatratze ohne Luft. Das kann gut und gern zwei Wochen dauern. In dieser Phase der Rekonvaleszenz lässt man besser die Finger von der Literatur.

Der Plot

Kennste den Roman? Ja, hab ich gelesen. Was ein alter Hut. So oder ähnlich geht es uns allen. Egal ob mit Büchern, Filmen, Musik oder dem Rest der Kunst. Alles schon mal dagewesen. Vergessen wird dabei oft, dass Menschen nachwachsende Leser:innen sind. Eine neue Generation muss die vorhergehenden neunzehn Romane zum selben Thema gar nicht gelesen haben. Du als Autor:in schon eher, denn es ist ja dein Metier. Wer wenig kennt, schreibt niedrigdimensionaler. Und alte Hüte sind nicht schlechter. Man muss sie nur gut erzählen. Selbst wenn zwanzig Romane über ein und dasselbe Thema gleichzeitig erscheinen, kann dich die Nummer einundzwanzig vom Hocker reißen, wenn Sprache und Stil aus der Masse herausragen. Das muss keine voluminöse, poetische Erzählsprache wie im Zauberberg sein. Er kann so schlicht daherkommen wie Bukowskis ‚Hollywood‘. Sich also einen noch nie dagewesenen Plot ausdenken, ist gar nicht wirklich nötig. Aber mit der eigenen Sprache umgehen, einen breiten Horizont haben, nicht nur hinter einen Vorhang, sondern derer zehn zu sehen und Menschen in der Tiefe ihrer Beziehungen zu sich selbst und zu anderen ‚lesen‘ zu können, wird deinen Plot erhellen, deine Sprache, dein Denken erweitern.

Die Übersicht

Es gibt Romane mit einer oder zwei Figuren, einer linearen Handlung, mehr erzählt als in Dialogen aufgeführt, die sind hervorragend. Oder abgrundtief schlecht. Und es gibt hochkomplexe Konstrukte, die man nur lesen kann, wenn man Notizblock und Stift bei der Hand hat und das Gehirn von Albert Einstein. Je komplizierter also dein Plot wird (weil du ja etwas Außergewöhnliches schreiben möchtest), desto exponentieller steigt die Gefahr, unterwegs irgendetwas oder irgendwen zu vergessen. Dein Plot wird inkonsistent. Als Werkzeug gegen dieses Unglück können wir Software kaufen, die auf das Schreiben von Belletristik ausgerichtet ist, mit allem Drum und Dran. Kostet aber nicht wenig. Also ich kann mir das nicht leisten und ich würde es auch nicht nutzen. Viel zu viel Aufwand, denn ich müsste einen Teil meiner Zeit dafür verwenden, das System aktuell zu halten. Aber ich kenne Kolleg:innen, die solche Software nutzen (Papyrus, Scrivener bspw.) und das ist okay, denn jede/r muss für sich die sinnvollste Vorgehensweise herausfinden. Ich für meinen Teil habe hier einen Schmierzettel, wenn es mehr als zehn Personen werden. Bei INSEL 64 habe ich mir zum ersten Mal die Mühe gemacht, zuvor ein Exposé zu schreiben, mit allen Informationen, da die Handlung auf Aktionen 110 Jahre zuvor zugreift und es auch noch einen Folgeroman gibt. Da war ich schnell bei vierzig Personen, ein Drittel Hauptfiguren mit umfassender Charakteristik. Das Ziel aber ist die Konsistenz des Plots. Es muss nicht nur innerhalb des Plots schlüssig sein, auch Sach- und Handlungslogik dürfen nicht außerhalb unseres alltäglichen Standards liegen, sonst lesen wir und denken: Hä?! WTF! Diese Übersicht muss man über den ganzen Zeitraum des Schreibens aufrechterhalten. Da sind wir wieder bei der Disziplin. Wenn ihr nicht meine Methode anwendet, alles im Kopf zu haben, dann löst die Struktursache mit Worten oder visuell (Zeittafel, Handlungstafel, Personentafel).

Die Figuren

Da gibt es aus meiner Sicht recht wenig zu berichten, was die Auswahl angeht. Grundsätzlich jedoch gilt, dass die Figuren
a) in sich konsistent sein müssen oder
b) wenn sie sich im Laufe des Plots verändern, muss die Veränderung Teil des Plots sein und nachvollziehbar (emotionale Ereignisse etwa, Verluste von Personen).

Wer am Anfang Hunde mag und am Ende Hunde hasst, wird gefragt werden, warum auf einmal? Leser:innen sind ja nicht blöd. Die wollen so was wissen oder auch nachvollziehen können; aber … auch Leser:innen haben nicht alle den selben Bildungs- und Erfahrungshorizont. Kommt also immer wieder vor, dass es verständnislose Reaktionen gibt, Buch wird in die Ecke gepfeffert, weil das Gelesene in der Welt des/der Lesenden einfach nicht vorkommt. Aber damit muss man leben. Es ist dennoch schön, wenn Figuren Entwicklungen durchmachen, die man auch vom alltäglichen Leben kennt. Und da ist die Schnittstelle: Alle meine Figuren, egal ob Kurzgeschichte oder Roman, haben Vorbilder im echten Leben. Ich bin also im Laufe der Jahrzehnte auf Menschen gestoßen, die so sind oder zumindest Anteile einer solchen Persönlichkeit haben und das auch in allseits bekannten Situationen zeigen bzw. so reagieren, wie ich sie reagieren lasse. Nachvollziehbar. Das ist das Zauberwort. Natürlich gibt es auch völlige Ausraster – wie im echten Leben. Aber meist sind das Extremsituationen, die basale Reflexe hervorrufen. Und wichtig ist Humor. Auch wenn er sich nur dezent zeigt. Menschen brauchen Humor. Selbst spontaner Humor, die Situationskomik, ist ein dankbarer Mitspieler.

Der Zweifel

Der Zweifel haftet Autor:innen an, wie ein Schatten. Man wird ihn nicht los. Kann ich schreiben? Bin ich gut genug? Werde ich gelesen? Finde ich einen Verlag? Ist das nur ein Hobby? Warum kann ich keinen Roman schreiben und breche immer ab? Zehntausend Fragen und nirgendwo Antworten. Lasst euer Manuskript von zehn Leuten lesen, es wird zehn verschiedene Meinungen geben. Die Anzahl der Lesenden = die Anzahl der Meinungen. Gerade ein Roman stellt das Selbstbewusstsein vor enorme Herausforderungen. Aber wo ist eigentlich der Unterschied zwischen einem Roman und den 100 Meter in 10,1 Sekunden? Es gibt keinen. Es ist eine Frage des Trainings. Vor allem ist erst mal nicht wichtig, ob ihr die 100 Meter in 10,1 lauft oder nur in 16,8 Sekunden. Ihr müsst ankommen. Das ist das wichtige Ziel. Den Weg zuende gehen. Habt ihr das geschafft, geht es weiter. Dieses Weiter ist eine Person, von der ihr meint, dass sie objektiv sein kann – zumindest näherungsweise. Die muss mehr Ahnung haben von den Werkzeugen des Schreibens als ihr. Gut, wenn es keine Vertrauensperson ist, dann ist es egal, ob es zum Streit kommt. Gebt dieser Person das Manuskript ohne groß zu labern, wie … ist mein Erstling … seien Sie nachsichtig … Abgeben. Fertig. Nix ist schlimmer als zu jammern. Denkt an den vorigen Abschnitt: Bildungs- und Erfahrungshorizont. Wenn ihr komplexe emotionale Situationen beschreibt, die im Leben vorkommen, und der/die Korrigierende hat null Ahnung davon und bezweifelt, dass es so was gibt, dann bedankt euch und nehmt das Manuskript wortlos an euch. Sagt Auf Widersehen. Zweifel sind dazu da, euch zu überwachen, reflektieren zu lassen, zu evaluieren, ob das Geschriebene gewissen Vorgaben standhält. Die meisten Fehler werdet ihr selbst übersehen. Und das zwanzig Mal hintereinander. Egal, wie sehr ihr euch konzentriert. Ihr werdet Fehler machen. Auch noch nach dreißig Jahren. Schließlich seid ihr Menschen.

Profikoch

Ab wann wird aus Mamas Spaghettisauce ein Produkt der Haute Cuisine? Die Zutaten, okay, aber ihr werdet feststellen, dass die Profiköche auch nur mit Wasser kochen. Was verdichtet den Geschmack der Sauce? Reduzieren, reduzieren, reduzieren. Vorher Röstaromen ansetzen, glasieren, deglasieren, aber das Reduzieren ist der Punkt auf dem ‚i‘. Meinen ersten Roman von 2010 hatte ich nach acht Monaten fertig und vor mir lagen 750 DIN A4-Seiten. Ich dachte mir schon, dass niemand ein solches Monster lesen würde. Also reduzieren. In einem ersten Anfall habe ich 300 Seiten gekillt. Und zwar restlos, denn ich ahnte, dass ich es bereuen würde und dann dies und jenes wieder reinkopiere und am Ende ist der rote Faden in tausend Teile zerfallen. Also löschen. Nach einem halben Jahr habe ich ihn mir erneut vorgenommen. Es sind noch mal siebzig Seiten rausgefallen. Ein ganzes Kapitel, das zwar interessant und ereignisreich war, aber sein Fehlen hat der Geschichte und den Protagonisten nicht geschadet. Bei Insel 64 bin ich anders vorgegangen. Ich habe das erste Kapitel geschrieben und bekam 50 DIN A4-Seiten. Das Kapitel bin ich wieder und wieder durch. Am Ende waren es zehn Seiten weniger. Dann habe ich mir vorgenommen, noch neun Kapitel zu schreiben und jedes Kapitel sollte 40 DIN A4-Seiten umfassen – 38 war auch okay. Diese Methode gefiel mir, ich kam gut zurecht und seither verfahre ich immer so. Ich setze mir eine Seitenzahlgrenze. Erreiche ich sie nicht und das Kapitel ist auserzählt, reduzieren sich alle Folgekapitel auf die reduzierte Seitenzahl. Rahmen abstecken, Grenzen festlegen, ein ganz wichtiges Werkzeug beim Schreiben.

Verlag? Der Ruhm!

Vergesst nie: Ihr schreibt für euch. Für sonst niemand. Es ist euer Dialog mit der Welt. Euer Spieglein, Spieglein an der Wand! Wenn es jemand liest und sich darin wohlfühlt: umso besser. Schön. Die Welt hat jedoch nicht auf euch gewartet. Sie wartet auf keine/n. Trefft ihr zur richtigen Zeit am richtigen Ort die richtige Person mit dem entsprechenden Gesuch in der Tasche, dann schlägt die Wahrscheinlichkeit zu. Doch ihr könnt zwanzig gute Heimatromane abgeben, wenn der Markt für Heimatromane gesättigt ist (außer in einem dunklen Alpental), dann sagt eine Agentur/ein Verlag: Super. Danke. Toll geschrieben, aber … haben sie keinen Krimi? Mit Lokalkolorit? Oder Fantasy? Gedruckt wird, was Gewinn verspricht. Zuschussverlage könnt ihr komplett vergessen! Zahlt niemals nie Geld für solche Methoden. Und Selfpublishing bei BoD oder epubli lohnt sich aus meiner Sicht nur, wenn ihr viel von der Vorarbeit selbst leisten könnt, also Covergestaltung und den Buchblock als PDF/X3 selbst machen. Da braucht man dann Erfahrung in der Umsetzung drucktechnischer Begriffe. Ihr werdet feststellen, dass Insel 64 noch im Buchhandel zu kaufen ist, obwohl hier online lesbar. Bisher habe ich bei BoD dreizehn Bücher rausgebracht, aber sechs davon gekündigt. Sie laufen im Mai 2024 als Print aus. Mein Ziel ist ausschließlich die Veröffentlichung auf meiner Website. Aber das sind persönliche Gründe. Für eine Agentur/einen Verlag braucht ihr zwingend ein Exposé. Viele Verlage schreiben auf ihrer Website, wie das aussehen soll. Haltet euch unbedingt an diese Vorgaben, ansonsten fliegt alles in die Tonne. Doch denkt daran: die Wahrscheinlichkeit, nicht angenommen zu werden, ist sehr groß. Ihr schreibt für euch. Für sonst niemand.

Der Stil und die Vorbilder

Das schwierigste Element, deswegen am Ende. Stil, das ist so eine Sache. Der Stil ist wie ein langer, breiter Strom. Dauernd verändert er den Lauf und damit die Landschaft. Die Wortlandschaft. Auch hier wieder: Bildungs- und Erfahrungshorizont. Je breiter angelegt, je mehrdimensionaler ihr Menschen beobachtet, desto breiter wird das Tal, in dem dieser Strom fließen kann, um letztlich wieder die Landschaft zu verändern. Und auch euch. Je weniger ihr kapiert von der Welt, desto mehr Worte wollt ihr machen, um sie euch und anderen zu erklären. Je mehr ihr die Mechanik des Lebens verinnerlicht, desto weniger Worte sind nötig. Sie werden präziser, lassen den Leser:innen Luft zum Atmen, nehmen Rücksicht auf Handlung und Figuren. Wenn ihr mit zwanzig eine Geschichte schreibt und sie mit dreißig noch okay findet, habt ihr keine Fortschritte gemacht in eurem Stil. Die Zahlen könnt ihr austauschen. Reduzieren ist auch ein Teil des Stils. Die gewählte Zeitform, die Erzählperspektive … probiert alles durch. Denkt dran, ihr seid auf einem Floß, treibt auf dem Strom. Steuert, um an keiner Untiefe hängenzubleiben. Werdet knapp, wo ihr Unmengen schreiben wollt. Beschreibt, wo ihr drüber hinwegstolpert, weil ihr euch nicht auskennt. Versetzt euch in eure Charaktere, seht durch ihre Augen, fühlt mit ihren Herzen. Aber löst euch wieder. Vorbilder > sind wichtig! Lieblingsautor:innen werden zu Beginn nicht selten kopiert. Aber bald werdet ihr merken, dass es zwar schön zu lesen ist, aber nicht zu schreiben, weil ihr nicht John Steinbeck oder Hertha Müller oder Ernest Hemingway seid. Ihr seid ihr. Und damit müsst ihr leben. Ich bin jetzt 60 Jahre und zufrieden mit meinem Stil. Es hat also 40 Jahre gedauert, diese Zufriedenheit zu erreichen. Klar, da gab es Jahre, da habe ich gar nichts geschrieben, weil zu viel los war im Leben. Kinder, Beruf, aber das Schreiben holt dich wieder ein. Unweigerlich. Und du musst dich auf den Strom begeben, dich von ihm forttragen lassen.

Macht es gut!
Heiko

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