Der Ausflug

KURZGESCHICHTE | Samstage sind mir die liebsten Tage, um Dienst zu schieben. Sieben Uhr das Büro aufschließen, alle Rollläden hoch, Zeitung aus dem Briefkasten nehmen und Kaffee aufsetzen. Dem leisen Gluckern und Röcheln zuhören, Kater mit Aspirin und Zitronensaft bekämpfen. Dann mit einem Becher dampfendem Kaffee beide Füße hochlegen und der Dinge harren, die an einem Samstag passieren können. Und das ist so gut wie nichts, denn alle Zivis haben ihre Wochenendaufträge am Freitag bekommen, Praxen und Behörden sind geschlossen und um Notfälle kümmert sich die Rettungsleitstelle. Gegen neun Uhr beginne ich das Fahrten- und Einsatzbuch der nächsten Woche durchzusehen, kontrolliere, ob sich überall Kollegen eingetragen haben, ob es sich überschneidende Zeiten gibt auf ein und demselben Fahrzeug, die Mobilen Sozialen Dienste alles abdecken und bin nach einer halben Stunde Arbeit zufrieden. Der Laden wird laufen die nächsten sieben Tage. Eine dritte Tasse Kaffee kann nicht schaden und eine weitere Aspirin sollte auch den letzten Brummkreisel im Kopf vertreiben. Um Punkt zehn Uhr klingelt das Telefon. Ich lasse es fünf Mal klingeln, dann hebe ich den Hörer ab.
»Fahrdienst und Mobile Soziale Dienste, Sie sprechen mit Heinrich. Was kann ich für Sie tun?«
»Ich bin’s.«
»Oh nein! Ferdinand … das fehlt mir noch zu meinem Glück.«
»Danke. Du mich auch. Ich brauch nen Fahrdienst.«
»Heute? Ist aber niemand da.«
»Nee! Nicht heute.«
»Wann?«
»Nächsten Samstag.«
»Warte kurz, ich schlag das Buch auf.« Den Hörer lasse ich auf das Holz poltern und das Buch ist schon aufgeschlagen. Ich blättere ein paar Mal sinnlos hin und her, trinke einen großen Schluck Kaffee und zünde eine Lucky Strike an.
»Hallo!?«, kommt es aus der Muschel. Die Menschen sind nicht sehr geduldig. Der nächste Samstag ist aufgeschlagen, der Hörer wieder am Ohr.
»Okay, Ferdi, sag an. Wohin und wann?«
»Nach Baden-Baden ins Casino, so früh wie möglich, damit wir lange zocken können.« Für einen Moment bin ich still. Sprachlos. Ich ahne, was kommen wird. »Ich hab schon alle beisammen«, erzählt er weiter. »Wir brauchen nur noch einen Fahrer und ein Auto.«
An diesem Samstag ist Einkaufstour mit der kompletten Daub-Familie, zwei Fahrten zum Friedhof, Grabpflege mit Zivi, Putzdienste, sonst nichts. Die Außentür geht auf, zwei der neuen Kollegen kommen herein, nicken und verschwinden im Aufenthaltsraum. »Vier Busse sind noch frei, Ferdinand. Und wer hat Dienst? Moment …« Auf dem Dienstplan der Fahrdienste stehen für das kommende Wochenende vier Rookies. »Ich sehe grad, nur neue Zivis. Unsere besten.«
Kurze Stille am anderen Ende der Leitung. »Nur neue Zivis?«
»So sieht’s aus.«
»Kommt gar nicht in Frage. Kannst du nicht fahren?«
»Ts …«, das bringt mich aus dem Konzept. Mein erstes freies Wochenende nach acht Wochen. Endlich mal wieder. Andererseits, was gibt es schon großartig zu tun? Trinken bis Montagmorgen? Mir fällt nichts ein. »Okay, ich fahre«, entscheide ich mich kurzentschlossen.
»Super, Heinrich. Danke. Ich hab schon alles geplant. Mich holst du zuerst ab, gegen sieben Uhr. Dann Bohne, Elvira und Klara. Geld musst du keines mitnehmen, wir zahlen dir alles. Aber erzähl es nicht weiter.«
»Schon gut. Samstag um sieben Uhr. Aber ich nehme einen der Neuen mit. Meine Bedingung. Den ganzen Tag drei Rollstühle raus und rein ist eine Schinderei. Außerdem lernen sie so am schnellsten.«
»Ist mir recht, Heinrich. Bis Samstag also.«
»Jo, bis Samstag.« Ich lege auf, reserviere einen 208er für den ganzen Tag und gehe in den Aufenthaltsraum. Die beiden spielen Risiko. Das Spiel für den Zivildienstleistenden. Ich setze mich dazu. »Wer von euch hat nächsten Samstag Dienst?«
»Ich«, sagt der mit den roten Spielfiguren.
»Wie ist noch dein Name?«
»Oliver.«
»Okay, Oliver. Am Samstag machen wir einen Ausflug nach Baden-Baden. Du, ein paar Rollis und ich.« Er sieht mich überrascht an.
»Ja, äh, ist das erlaubt?«
»Aber sicher. Wir sind der Fahrdienst, du stehst auf dem Dienstplan und ein paar Rollstuhlfahrer wollen eine Tour machen.«
»Und wie lange wird das dauern?«
»Den ganzen Tag. Wir treffen uns hier um halb sieben, sammeln alle ein, und so wie ich die Blase einschätze, sind wir nicht vor Mitternacht wieder zurück.«
»Äh …«
»Freut mich, dass du so enthusiastisch bist.« Ich stehe auf und gehe wieder in die Zentrale, das Schweigen hinter mir. Sie sehen sich an, ohne den Mut, miteinander zu reden. So haben wir auch angefangen, voller Unsicherheiten, Ahnungen, Befürchtungen.

Am Samstagmorgen um sechs Uhr schließe ich das Büro auf, nehme den Schlüssel für den 208er aus dem Kasten, koche Kaffee und genieße eine erste Zigarette. In der Zeitung löse ich das Samstagsrätsel und kurz vor halb sieben erscheint Oliver. Das Abenteuer kann beginnen. Wir schließen ab und gehen zum Bus, kontrollieren Ölstand und Wischwasser, dann sitzen wir im Fahrzeug und sehen uns an. Ich sehe viele Fragen in seinen Augen.
»Was machen wir zuerst?«
»Bist du aufgeregt?«
»Und wie! Ich kenne die Leute noch nicht. Sind die in Ordnung? Auf was muss ich da achten? Da hab ich die halbe Nacht drüber nachgedacht, verstehst du?«
»Keine Sorge. Das ging uns allen so oder ähnlich.« Ich überlege kurz. »Jedenfalls den meisten. Und jetzt nimm das Fahrtenbuch und trag bitte die Anfangskilometer ein, Fahrtstrecke Pforzheim nach Baden-Baden und zurück, Zweck der Fahrt ist ‚privater Ausflug‘. Auftrag von Ferdinand Eberle. Uhrzeit bei Fahrtbeginn ist viertel vor sieben. Okay?«
»Okay, äh, wie heißt du noch mal?«
»Heinrich.«
»Okay, Heinrich. Du bist schon länger dabei?«
»Zehn Monate.«
»Hast du 20 oder 24 Monate?«
»Zwanzig.«
Er schweigt. Also hat er schon 24 Monate aufgebrummt bekommen. Ich lächle ihm zu, schiebe eine Stones-Kassette in das Kassettenfach, glühe vor und starte den Motor. Dann fahren wir Richtung Oststadt.

Bei Ferdinand angekommen, lasse ich Oliver die Hebebühne bedienen, zeige ihm die Widrigkeiten der Technik und was alles schiefgehen kann. Dann klingle ich Sturm.
»Wen holen wir hier ab?«
»Zuerst Ferdinand. Querschnitt ab drittem Lendenwirbel, Spasmen in Armen, aber noch recht fit. Bisschen über vierzig Jahre alt. Er organisiert die Tagesausflüge.« Der Öffner summt und Oliver drückt die Tür auf. Ferdinands Nachbar schiebt den Rollstuhl durch den dunklen Flur. »Moin«, rufe ich beiden entgegen und nehme Ferdinand die Tasche vom Schoß.
»Morgen, Heinrich!«, dröhnt seine Stimme. »Nüchtern?!«
»Immer.«
Er zeigt einen erstaunten Gesichtsausdruck und ich stoppe seine Fahrt mit dem Knie, nicke dem Nachbar zu und winke Oliver herbei, der sofort Gewehr bei Fuß steht und Ferdinand die Hand entgegenstreckt. »Du kannst mir den Ellenbogen schütteln«, sagt der, »den kann ich noch gut bewegen.« Oliver starrt einen Atemzug lang auf den sich vorschiebenden Ellenbogen, dann packt er vorsichtig zu. »Bist du der neue Zivi?«, will Ferdinand wissen und Oliver nickt eifrig.
»Los jetzt!«, drängle ich. »Zeit ist Geld!« Oliver schaut mich überrascht an und erkennt hoffentlich mein Lächeln. Mit hochgezogenen Augenbrauen schiebt er den Rollstuhl auf die Hebebühne, arretiert das Gefährt auf der Plattform, betätigt die Hydraulik, bis Ferdinand auf Höhe des Wagenbodens ist und schwenkt um neunzig Grad. »Oliver, fahr ihn rein. Du kannst ihn auf die Zweierbank setzen und anschnallen, den Rollstuhl klappst du zusammen und machst ihn am Seitenkasten fest.«
»Auf die Zweierbank? Aber …«
»Er sagt dir, wie du was machen musst. Hör genau zu. Und keine Angst. Ein bisschen Schmerzen müssen sein.«
»Ich protestiere …«, höre ich Ferdinands Stimme.
»Zur Kenntnis genommen«, erwidere ich, klappe die Bühne ein und verriegele die Flügeltüren, kontrolliere Olivers Werk und bin zufrieden. »Gut gemacht, Oliver. Wen holen wir jetzt? Bohne?«
»Genau«, bestätigt Ferdinand. »Bohne.«
»Bohne?« fragt Oliver und sieht mich fragend an.

Ich fahre auf den Bürgersteig und aktiviere den Warnblinker. Bohne steht schon im Hauseingang auf eine seiner Krücken gestützt. Speckhut, ausgeleiertes, erdfarbenes Jackett, ein Hosenbein leer, zusammengefaltet und mit einer großen Büroklammer an den Bund geheftet. Er schwingt seine hundert Kilo behände per Krücken zur Beifahrertür. Oliver starrt ihn an. »Oliver! Bohne sitzt immer auf dem Beifahrersitz. Du musst auf die Zweierbank, neben Ferdinand.«
»Aber … schafft er das alleine hier hoch?«
»Kein Problem, das ist eine seiner leichtesten Übungen.«
»Wenn er nüchtern ist«, kommentiert Ferdinand.
»Jo«, sage ich. Bohne öffnet die Beifahrertür und Oliver drückt sich zwischen den vorderen Sitzen nach hinten durch.
»Guten Morgen, Männer!«, ruft Bohne vergnügt. »Kaiserwetter, was!?«
»Guten Morgen, Erwin«, begrüße ich ihn.
»Bohne!«, schreit Ferdinand. »Hast du genug Geld dabei?«
»Natürlich!« Er reicht mir die Krücken, stützt sich auf die Armlehne der Beifahrertür, greift an den oberen Handlauf und schwingt sich hoch. Fast wie im Zirkus. Zwei Schwünge und es reicht bis auf den fünfzig Zentimeter höheren Beifahrersitz. Mit einem kräftigen Ruck schlägt er die Tür zu und schnallt sich an. Ich lege die Krücken auf den Boden. Bohne dreht sich nach hinten. »Ah! Ein neuer Zivi! Wie heißt du, mein Sohn?«
»Äh, Oliver …«
»Oliver? Das klingt aber süß!« Ich beobachte Olivers Gesicht im Rückspiegel. Der heutige Tag wird ihm im Gedächtnis bleiben, dessen bin ich mir sicher. Wir lachen und ich starte den Motor.

Elvira bleibt im Rollstuhl sitzen. Kinderlähmung mit sieben Jahren. Sie ist jetzt siebzig und ein Bündel an Lebensfreude. Ich schiebe sie neben die Zweierbank und zeige Oliver, wie man einen überbreiten Rollstuhl mit den Laststreben an den Bodenösen befestigt. »Wenn das Auto auf dem Kopf liegt, und Rolli samt Inhalt sich keinen Millimeter bewegen, hast du einen guten Job gemacht«, kläre ich ihn auf. Er sieht mich entgeistert an.
»Ist das schon mal passiert?«
Ich grinse. »Aber ja, das passiert andauernd.« Wir lachen und Oliver wird rot. Kopfstützen an den Rollstuhl, Gurte für den Passagier, ein bisschen viel auf einmal für einen Neuling, aber er stellt sich geschickt an. Ich klopfe ihm die Schulter und als wir die Hecktüren zumachen, stimmen unsere Fahrgäste das erste Lied an. Wir steigen ein und fahren zu Klara. Sie wohnt auf dem Haidach in einem der Wohnsilos. Ich parke auf dem Rondell vor dem Haus. Klara kommt aus der Tiefgarage mit ihrem Elektrorollstuhl, auf ihrem Schoß eine weiße Plastiktüte, in der es klickert und scheppert. Sie sitzt grundsätzlich schief im Sitz, den linken Ellenbogen immer auf die Armlehne gestützt, den Kopf in der Handfläche abgelegt. »Pass auf, Oliver. Was jetzt kommt, ist wichtig.« Er nickt und Klara rollt heran. Ich stelle mich ihr in den Weg.
»Morgen, Klara. Halt mal kurz an bitte.« Sie stoppt unmittelbar vor mir und blickt über den Rand ihrer Sonnenbrille.
»Gestapo?«
Ich nicke und deute auf die Plastiktüte. »Ist es das, was ich denke?«
»Frühstück, Mittagessen und Wegverpflegung, alles in einem«, erklärt sie.
»Also Schnaps.«
»Chantré.«
»Bleibt trotzdem hier!«
»Mein Gott, ich bin ’ne erwachsene Frau und kann mitnehmen, was ich mitnehmen will!«
»Und ich bin der Fahrer. In meinen Wagen kommt kein Alkohol! Sonst musst du hier bleiben.«
»Erpresser!«
Ich erwidere nichts, mustere den wunderschönen, blauen Himmel und pfeife die Melodie von Gimme Shelter. »Ist das der Neue?«, fragt sie und zeigt auf Oliver. Der springt sofort auf ihre Frage an und reicht Klara die Hand. Sie drückt ihm Plastiktüte und Schlüsselbund hinein. »Achter Stock, Wohnung 84. In der Tiefgarage ist rechts der Fahrstuhl. Stell es im Flur auf die braune Anrichte. Danke.« Dann setzt sie zurück und rollt zur Hebebühne.

Ich warte, bis er zurück ist, und zeige ihm, wie man schwere Elektrorollstühle korrekt fixiert, ohne dass sie sich bei einer Vollbremsung in ein Geschoß verwandeln, dann fahren wir los und unsere Passagiere stimmen „Hoch auf dem gelben Wagen“ an. Kurz vor dem Nöttinger Gefälle auf der A8 denke ich an das Casino in Baden-Baden und drehe Mick Jagger leiser. »Ihr wollt also zuerst ins Casino, richtig?«, rufe ich nach hinten.
»Ja!«, kommt es wie aus einem Mund. »Wir knacken die Bank!«, setzt Klara nach.
»Dann geh ich davon aus, dass jeder seinen Personalausweis dabei hat?« Die plötzliche Stille im Wagen ist Antwort genug.
»Ausweis?«, höre ich Ferdinands unsichere Stimme. »Wieso Ausweis?« Niemand hat einen Ausweis dabei, wie sich herausstellt.
»Und jetzt?«, fragt Oliver.
»Wir müssen zurück. Oder wir können das Casino vergessen. Wollt ihr ins Casino?« Alle wollen ins Casino. Kurz nach der Talsenke kommt eine Schwarzausfahrt, in der sich besonders gerne die Autobahnpolizei versteckt. Ich schalte den Warnblinker ein und fahre langsamer werdend auf den Standstreifen. »Klara, wenn die Bullen uns sehen, musst du sagen, du hättest Angst vor einem epileptischen Anfall gehabt und wir wollten ihn nicht auf der Autobahn erleben.«
»Na gut, Heinrich«, ruft sie von hinten, »aber nur, wenn ich in Baden-Baden einen Weinbrand bekomme.«
»Ein Pils.«
»Meinetwegen.«
Wir verlassen die Autobahn und holen die Personalausweise.

Klaras Ausweis landet als letzter vorne in der Ablage. Als ich den Motor starte, erzählen sie im Verkehrsfunk was von einem Stau am Karlsruher Dreieck, weil die Schlange auf der A5 Richtung Rastatt schon zehn Kilometer lang ist. Ich drehe mich zu meinen Passagieren. »Ihr habt es gehört. Stau auf der A5 und deshalb auf der A8. Jetzt ist es schon halb neun. Entweder wir nehmen eine Alternativstrecke oder wir blasen die Sache ab.« Ich blicke in sprachlose Gesichter.
»Was ist denn eine Alternativstrecke?«, meldet sich Elvira zu Wort.
»Na ja, es gibt mehrere, aber bei diesem Wetter wäre eine schöne Strecke doch sehenswerter. Schließlich ist es ein Ausflug. Ich schlage den Schwarzwald vor, Dobel, Herrenalb, Gernsbach und rüber nach Baden-Baden.«
»Schwarzwald!«, ist der einhellige Tenor. Also machen wir uns auf den Weg ins Enztal. ‚Kein schöner Land in dieser Zeit‘ erklingt und ich versuche etwas von ‚Paint It Black‘ zu verstehen. Bis Herrenalb halten sich alle ganz gut. Aber nach Loffenau hinunter verteilt Ferdinand sein Frühstück auf dem Boden und Oliver bekommt seine Einweisung im Beseitigen von körperlichen Ausscheidungen jeglicher Art mittels Katzenstreu. Jedes unserer Fahrzeuge führt immer einen Sack Katzenstreu und Desinfektionsmittel mit. Ferdinand hält sich zurück, aber die anderen drei stimmen ‚Das Wandern ist des Müllers Lust‘ an und ich steuere auf die letzte Steigung zu, hoch nach Ebersteinburg. »Was meint ihr«, rufe ich nach hinten, »wollen wir zuerst was essen? Ne fette Currywurst mit Pommes und Mayo? Geht’s wieder, Ferdinand?«
»Oh Gott«, sagt er und schluckt ein paar Mal.
»Nach nem Schnaps wird es schon unten bleiben!«, ermuntert Klara ihn. Aber es wird keine Currywurst. Wir finden ein bürgerliches Lokal mit Parkplatz vor dem Haus, einer Rollstuhltoilette die den Namen verdient und annehmbaren Preisen. Durch die Bank verputzen wir Zwiebelrostbraten mit Spätzle oder Jägerschnitzel mit einem Rösti. Klara bestellt ihr versprochenes Pils und Oliver versucht, mit einem Dauerlächeln seine Unsicherheit zu überstrahlen. Nach einem Kaffee nicke ich Ferdinand zu.
»Und jetzt ab ins Casino«, sagt er laut. Die Blase juchzt und meldet einen letzten Toilettengang an. Oliver muss herhalten. Ich gehe hinaus und fahre den 208er direkt vor die Tür, bereite die Hebebühne vor. Das Einladen und Sichern geht spürbar schneller und wir sind auf dem Weg zum Casino. Schon bei der Anfahrt ist zu sehen, dass Parken nicht ganz einfach wird. Ich will auf die Fläche vor dem Kurhaus, aber ein Kerl mit obskurer Uniform hebt die Hand, stellt sich direkt vor die Motorhaube, und als ich stehe, kommt er auf meine Seite. Die Scheibe schon unten, setze ich ein freundliches Grinsen auf. »Guten Tag«, sage ich. Er nickt nur, schaut mich an, Bohne, dann den Rest von uns. Ein langer Blick.
»Was denken Sie, was Sie hier tun?«, will er wissen.
Nach was sieht es denn aus, möchte ich ihm entgegenhalten. »Behindertenfahrdienst. Diese Damen und Herren im Auto möchten das Casino besuchen, und ich hatte vor, sie dort vorne am Kurhaus aussteigen zu lassen. Danach werde ich das Fahrzeug woanders parken.«
Ein erneuter Blick nach hinten. Terroristen wird er dort nicht entdecken. »Also gut! Ausladen und wieder raus.« Er tritt zwei Schritte zurück.
»Besten Dank. Gott vergelt’s!« Scheibe hoch und im Schritttempo weiter.
»Gut gemacht, Heinrich«, lobt Ferdinand. »Was bildet der sich ein. Wir sind ja nicht irgendwelche ordinäre Reiche.« Die anderen geben ihm recht und ich irgendwie auch, muss mich aber aufs Fahren konzentrieren, denn es ist viel los und die meisten Menschen knipsen, flanieren, schlecken Eis oder tragen teure Hüte, wollen aber nicht überfahren werden. Ein paar Meter vor dem Casinoeingang bleibe ich stehen, schalte den Motor ab und steige aus, strecke mich und will gerade zum Heck gehen, als ein Mann mich anspricht. So groß wie ich, breit, im schwarzen Zweireiher. Die Schuhe glänzen wie Bohnes Glatze. »Entschuldigung«, spricht er mich an und ich bleibe stehen.
»Ja?«
»Liefern Sie etwas an?« Ich lache spontan los, kann kaum an mich halten, was er offenbar nicht sehr amüsant findet. »Machen Sie sich über mich lustig?«
»Aber nein«, erwidere ich und versuche mich zu konzentrieren. »Mein Kollege und ich sind vom Behindertenfahrdienst Pforzheim und haben eine Besuchergruppe im Auto.«
»Besuchergruppe?« Sein Gesichtsausdruck ist bedenklich kritisch.
»Ja. Die Damen und Herren möchten heute ein wenig von ihrem Geld bei Ihnen loswerden. Verstehen Sie? Zocken!«
Er atmet tief ein aber nicht wieder aus, blickt über die linke und rechte Schulter, als stünde da irgendwo sein Chef. »Leider muss ich Ihnen mitteilen, dass wir heute eine Veranstaltung mit geschlossener Gesellschaft haben.«
»Also nix mit Zocken?« Er schüttelt langsam den Kopf, presst die Lippen zu einem dünnen Strich aufeinander. »Moment«, sage ich und öffne die Tür.
»Der Gute sagt, heute ist geschlossene Gesellschaft. Und wir gehören auf jeden Fall nicht dazu. So viel steht fest …«
»Was?!«
»Scheiße!«
»Das ist doch eine Ausrede!«
Das Durcheinanderreden ist massiv und die Wortwahl nicht förderlich. Ich mache die Tür zu und lächle den Zweireiher an.
»Wie ich höre, sind Ihre Fahrgäste ein wenig pikiert«, stellt er fest und zieht auf beiden Seiten die Sakko-Ärmel lang. »Als Alternative gebe ich Ihnen den Tipp, die Caracalla-Therme zu besuchen. Die hat neu eröffnet und es gibt eine Menge Sonderangebote im Gastro- und Wellnessbereich. Sie werden sehen, es ist sehr schön dort.«
»Klingt gut«, entgegne ich. »Hier bei Ihnen würde ich mich auch nicht wirklich wohlfühlen.« Er lächelt gequält. »Wie komme ich dorthin?«, will ich wissen. Ruhig und freundlich beschreibt er den Weg inklusive Geheimtipp, wo ich den 208er am besten parke. Ich bedanke mich und wir machen wieder kehrt.

Der Parkplatz ist perfekt. Wir stehen unter einer großen Kastanie unweit des Rondells vor der Therme und ich verschließe alle Türen. »Haben alle ihren Geldbeutel dabei? Noch sind wir am Auto.« Zustimmung von allen Seiten.
»Aber ich habe keine Badesachen«, sagt Ferdinand. »Hätte ich das gewusst …«
»Hör auf!«, unterbricht ihn Klara. »Wer will dich schon in Badehose sehen!«
»Erlaube mal«, empört er sich. »Ich war früher Schwimmer und ein Hingucker!«
»Jetzt siehst du aus wie en nasser Sack«, stellt sie fest und beschleunigt den E-Rolli. Ferdinand schnaubt und ich schiebe ihn Richtung Eingang.
»Wir setzen uns am besten gleich ins Café«, erklärt Bohne. »Ich habe ziemlich Durst.«
»Ob es hier Käsekuchen gibt?«, fragt Elvira und sieht mich an. Ich denke an ein schönes Stück Käsekuchen. Mit Rosinen oder Mandarinen.
»Das will ich mal hoffen, Elvira. Ein Ausflug ohne Käsekuchen ist ein Reinfall.« Sie legt den Kopf nach hinten und schaut Oliver unters Kinn, der ihren Rollstuhl schiebt und sichtlich Mühe hat, geradeaus zu fahren. »Du musst unbedingt deine Reifen aufpumpen, Elvira. Ist viel zu wenig Luft drin«, rate ich ihr.
»Ich glaube nicht, Heinrich. Möglicherweise habe ich zugelegt in den letzten Wochen. So fühlt es sich zumindest an. Immer nur essen und sitzen, das macht fett.«
»Ach was«, wiegle ich ab. »Du siehst wie immer gut aus.« Sie lächelt bis zum Haupteingang. Ein großes Foyer erwartet uns, lichtdurchflutet, voller Menschen allen Alters, Lautsprecherdurchsagen, dutzende Hinweistafeln, ein leichter Duft nach Chlor.
»Um Gottes willen«, entfährt es Ferdinand. »Wer soll sich denn hier zurechtfinden?«
»Ihr geht erst mal nach rechts zur Fensterfront. Ich kümmere mich um die Orientierung«, kommt meine Anweisung. Oliver reagiert sofort und nimmt alle vier mit an einen ruhigeren Platz in diesem Ameisenhaufen. Ich gehe zur halbkreisförmigen Empfangstheke, frage nach einem gedruckten Wegweiser und lächelnd wird mir einer gegeben.

Wir sitzen auf einer Empore an zwei Tischen. Das freundliche Servicepersonal hat umgehend auf unser Heranrollen reagiert, uns Freiraum außerhalb des Cafés geschaffen, Tische und Stühle hin und her gerückt und war erst zufrieden, nachdem wir entspannt lächelten. Jetzt haben wir alles, was das Herz begehrt. Käsekuchen, Cappuccino, Kännchen Kaffee, Apfelstrudel mit heißer Kirschsauce und das alles unter einer blau hinterleuchteten, filigranen Kuppel über einem wahrlich schönen Becken, in dem nicht mehr viel Platz ist. Es ist schwül, ziemlich warm, tropisch, Namen werden gerufen, ein Jauchzen, wildes Durcheinanderreden, alles andere als ein ruhiger Samstagnachmittag.
»So lässt es sich leben«, sagt Ferdinand und schmatzt genüsslich. Er linst durch die gläserne Balustrade auf die Menschenmenge. »Fast nur alte Schachteln«, stellt er fest. Ich seufze und sehe, dass Oliver eindöst, den Kopf an einen Pfeiler gelehnt. Er tut mir ein wenig leid.
»Ich gehe mal eine rauchen«, teile ich allen mit und stehe auf. »Dass mir keine Beschwerden von der Hausverwaltung kommen«, lasse ich als Abschiedswort zurück.
Endlich im Freien, suche ich eine Bank, nehme Platz, fische eine Lucky aus der Schachtel, zünde sie an und entdecke ein Schild vor dem älteren Gebäude gegenüber, ‚Klosterschule vom Heiligen Grab‘ steht da. Sicher ein Gymnasium für spezielle Schüler, denen man eine besonders christliche Ausbildung angedeihen lassen möchte. Ich ziehe tief an der Lucky und ein Mann setzt sich neben mich, starrt die ganze Zeit her. Bis ich zurückstarre und ihm die Schachtel vor die Nase halte. »Auch eine?«
Er nickt. »Gerne. Aber ich darf nicht«, winkt er ab. »Zusehen ist beruhigend, und dabei Tabakrauch einatmen macht meinen Tag besser.«
»Aha. Tun Sie sich keinen Zwang an. Ich puste in Ihre Richtung.«
Er lächelt mit einem glücklichen Gesichtsausdruck. »Danke. Wissen Sie, manchmal gehe ich in der Fußgängerzone hinter Leuten her, die sich grad eine angezündet haben.«
Ich lasse mir die Verwunderung nicht anmerken. Rauchenden Menschen auf Schritt und Tritt folgen, eine seltsame Vorstellung. »Und Sie wohnen hier in Baden-Baden?«, frage ich stattdessen. Er schüttelt den Kopf.
»Mitnichten. Ich habe Lungenkrebs, die Hälfte der rechten Lunge ist jetzt raus und ich mache hier Reha für acht Wochen.«
Das macht mich etwas sprachlos. »Ist es da klug, bei anderen mitzurauchen?«
Er zuckt mit den Schultern. »Sonst bleibt mir nicht viel. Die Ärzte sagen, der Krebs sei bestimmt nicht weg. Nur eine Frage der Zeit, bis ich … wie sagt man?«
»Rezidiv«, helfe ich nach.
»Genau, rezidiv bin. Dann schnippeln sie wieder ein Stück weg. Was also soll ich noch tun?« Er zieht mit den Blicken förmlich eine Zigarette aus der Schachtel, die zwischen uns auf der Bank liegt.
»Von mir bekommen Sie keine. Aber wenn Sie so sicher sind, dass es keine Heilung gibt, dann sehen Sie sich noch ein Stück von der Welt an, falls Sie sich das leisten können.«
Er steht auf. »Ich kann mir einiges leisten. Das habe ich übrigens schon gemacht, mir die Welt angesehen. Kreuzfahrten, Urlaube mehr als genug. Hab schon alle fünf Kontinente besucht, aber irgendwie war das alles nur langweilig am Ende.«
Den Kopf will ich nicht schütteln und eine Antwort fällt mir auch nicht ein. Seine Nase kommt näher und tiefes Einatmen folgt. Aus dem Augenwinkel sehe ich Oliver kommen. »Ah, da kommt mein Freund«, sage ich zu ihm. »Wir wollen uns hier verloben, also im Geheimen, so für uns, verstehen Sie?« Er schreckt zurück, macht zwei Schritte rückwärts. Oliver setzt sich und begrüßt ihn freundlich. Ohne Antwort verzieht er sich, schaut sich noch ein paar Mal um, dann ist er weg.
»Wer war das denn?«
Mir fällt ein, dass ich Oliver nicht die wichtigste Regel eingetrichtert habe: Lass die Truppe niemals alleine! »Scheiße!«, rutscht mir raus.

Wir kommen zu spät. Es hat bereits begonnen. Ratlos bleibt Oliver am Durchgang zur Empore stehen. »Was machen die denn da, Heinrich?« Auf beiden Tischen stehen Halbliter-Exportgläser. Ferdinand ist vornüber gebeugt, zieht an einem Strohhalm das Gebräu, Klara hat sicher schon ihr zweites und der Kellner bringt gerade drei weitere Gläser. »Entschuldigung«, sagt er und schlüpft zwischen uns durch, stellt seine Fracht ab und verschwindet wieder.
»Mein Fehler, Oliver«, bekenne ich und nehme auf einem Stuhl hinter der Szene Platz. Er nimmt ebenfalls einen und lässt sich hineinfallen. Bohne bringt derbe Witze, die mehr und mehr an Niveau verlieren, je höher der Bierdurchsatz ist. Alle lachen und ziehen am Strohhalm. »Ich habe vergessen, es dir zu sagen.«
»Was denn?!«
»Man darf sie keine Sekunde aus den Augen lassen. Sonst passiert genau das, was wir jetzt hier vor uns sehen.«
Klara beleidigt Ferdinand und der hört es nicht, dafür entdeckt er eine Frau, die ihm gefällt. »Ui! Schaut mal die im rosafarbenen Badeanzug!«, sagt er nicht zu leise und bittet Elvira, den Strohhalm ins neue Export zu stecken. Niemand achtet auf eine Frau im rosafarbenen Badeanzug.
»Du meinst, dass sie Bier trinken?« Ich nicke. »Aber das sind doch erwachsene Menschen«, gibt Oliver zu bedenken.
»In gewissem Sinn hast du recht. Und wenn ich jetzt hingehe, die Gläser wegnehme, bin ich der Idiot. In der Tat, sie sind erwachsen, aber …« Dann schweige ich. Was ich sagen muss oder sagen kann, ist nicht das, was im Gesetz steht und mir jeder Richter in diesem Land unter die Nase reiben würde. Aber es ist das, was wir Zivis in den letzten Monaten lernen mussten. Über Ferdinand, Klara, Bohne, Elvira und auch über uns. »Du gehst jetzt zum Kellner und bittest ihn, keinen Alkohol mehr zu bringen.«
Oliver schaut mich zweifelnd an. Um meine Bitte zu unterstreichen, ziehe ich die Augenbrauen nach oben und bewege den Kopf ein kleines Stück nach unten. Er steht auf. Von Klaras Tisch fliegt in hohem Bogen das fast volle Exportglas über die Brüstung und zerschellt unsichtbar, aber laut und deutlich einen Stock tiefer neben dem Wasserbecken. Mehrere Schreie sind die Folge, Rufe. Klara krampft. Arme, Beine, der ganze Körper zieht sich in einer Sekunde zu einer Kugel zusammen und streckt sich wieder. Ihre Füße krachen gegen die Glasbrüstung. Ich springe auf, egal wohin mein Stuhl fliegt, hechte fast hinter ihren E-Rolli und ziehe den Schlüssel aus dem Bedienfeld. Die Kraft des Motors würde ihn glatt die Balustrade durchbrechen lassen mitsamt Klara. Ferdinand fängt an, nach Gott zu rufen, und Bohne vergisst, dass er nur ein Bein hat, will auf zweien aufstehen, fällt aber mit seinen einhundert Kilo auf den Nachbartisch. Ich gehe um Klaras Rollstuhl herum, grätsche über ihren schmalen Körper.
»Oliver! Hol das Kissen unterm Rollstuhl raus und stopf es in den Nacken!« Er reagiert nicht. Schockstarre oder so was. Egal. Der Kellner kommt angerannt.
»Kann ich helfen?«
Klara haut mir in den Magen, zieht beide Knie hoch. Gerade noch schaffe ich, meine Weichteile zu schützen, klemme beide Beine zusammen, lege mich halb auf sie. »Hol das Kissen unten raus«, brülle ich den Kellner an. Er reagiert sofort. »Steck es hinter ihren Kopf und halt es dort!« Das tut er. Klaras rechte Faust trifft meine Schläfe. Ich breite die Arme aus, so dass ihre unten bleiben müssen, sich kaum noch bewegen können. Ihre Kiefer mahlen eine knirschende Symphonie und mir läuft es kalt den Rücken runter. Hoffentlich kommt kein Kopfstoß, denke ich.
»Und jetzt?«, will der Kellner wissen.
»Kissen halten mit links, rechte Hand vor ihren Kopf. Aber nicht zu fest!« Er tut genau, was ich gesagt habe und bin heilfroh. Die Spasmen kommen und gehen. Wir können nur ihre Bewegungsfreiheit einschränken, aber nicht unterbinden; und uns selbst schützen, so gut es geht. »Oliver!« Sein Kopf taucht auf. »Ruf den Notarzt! Multiple Sklerose, fortgeschrittenes Stadium, Medikamente und Alkohol. Patientin krampft heftig, 49 Jahre alt. Sie sollen sich beeilen!« Ich glaube, er sagt so was wie ‚Ist gut‘ und hoffe, er kann sich das merken.
»Und jetzt? Ich kann das nicht mehr lange so heben«, erklärt der Kellner.
»Hab Geduld. Ist gleich fertig«, tröste ich ihn. Einfach abwarten. Jede Sekunde ist wie eine lange, einsame Nacht. Dann ein letzter Krampf. Ein Streckkrampf. Klara liegt wie eine Baudiele im Stuhl. Das ist mir neu. Bisher kam nach jedem Krampfanfall eine Erlösung, das Erschlaffen aller Muskeln, tiefe Müdigkeit.
»Wir fahren sie raus vors Haus. Weg von den Leuten hier. Ist ja kaum Platz für den Notarzt. Im Gitterkorb unterm Sitz sind Gurte. Hol sie raus«, weise ich den Kellner an. Er zieht drei Gurte hervor. »Stell dich vor sie, genau so wie ich jetzt.« Zügig wechselt er die Position. Ich nehme die Gurte und schnalle Klara so gut es geht in dieser Haltung fest, damit sie nicht aus dem Stuhl rutscht. Dann stecke ich den Schlüssel ins Bedienfeld. Wo ist Oliver? Nur der Kellner ist erreichbar. »Kümmer dich um die anderen, aufsammeln, einsammeln. Habt ihr einen Rollstuhl im Haus für ihn hier?« Ich nicke zu Bohne, der auf dem Boden liegt und die Decke anlächelt. Er überlegt und ruft dann seine Kollegin an der Theke.
»Ich bringe Klara runter. Schaffst du das hier?« Der Kellner nickt. Oliver kommt zurück.
»Die kommen gleich«, sagt er mit käseweißem Gesicht.
»Hilf dem Kellner!«
»Okay.«

An Klaras rechter Seite, den Joystick des E-Rollis in den Fingern, lenke ich uns zum Fahrstuhl. Die Menschen weichen nach beiden Seiten aus, bilden eine Gasse für die Delinquenten. Monster auf dem Weg zum Schafott. Es geht nach unten, raus aus der Kabine, mehr und mehr Blicke, gefrorene Gesichter. Junger Mann lenkt einen Rollstuhl, darin eine erstarrte, dünne Frau mit wilder Frisur, Schaum vor dem Mund, angekettet wie auf dem Weg zum elektrischen Stuhl. »Guten Tag«, sage ich im Vorbeigehen. Dann sind wir endlich im Freien, das Martinshorn ist schon zu hören und keine Minute später kommt der Rettungswagen. Zwei Sanitäter steigen aus, je eine Tasche in der Hand, stürzen auf uns zu.
»Lebt sie noch?«, fragt der kleinere von beiden.
»Natürlich. Nur ein Spasmus. Aber ein ziemlich heftiger. Ich denke, nichts ist gebrochen. Nur der Krampf muss sich lösen.«
»Aha«, meint der andere und ich warte, das etwas passiert. Vergeblich.
»Wie sieht’s aus? Wartet ihr auf besser Wetter?«
»Nein. Nur auf die Notärztin. Sie sagte, wir sollen nichts unternehmen.«
»Vielleicht Vitalfunktionen testen? Da kann man ja nix falsch machen, oder?« Sie sehen sich an. Erst jetzt fällt mir auf, dass wir von einer großen Anzahl Schaulustiger umgeben sind. In der Ferne höre ich ein zweites Martinshorn. »Das wird sie sein«, sagt der Kleine. Klara starrt in den Himmel. Die Pupillen zittern, habe ich zumindest den Eindruck. Das Signal wird ausgeschaltet und die Menge vor uns teilt sich. Ein BMW schiebt sich hindurch und eine sehr kleine Frau steigt aus. Sie guckt sehr grimmig, geht auf die beiden Sanitäter zu.
»Ist das die Patientin?« Beide deuten auf Klara. Die Notärztin stellt ihre Tasche auf den Boden, öffnet sie und gräbt nach irgendwas. Ich fühle mich berufen, etwas zu der Situation zu sagen.
»Guten Tag, die Frau ist 49 Jahre alt, hat MS in fortgeschrittenem Stadium …«
»Diese Info habe ich bereits«, unterbricht sie mich und reißt eine Spritze aus der Verpackung.
»Was geben Sie ihr?« Die Antwort ist ein vernichtender Blick, der mich um mindestens dreißig Zentimeter schrumpfen lässt. »Sie hat sicher einen Liter Bier getrunken. Und ihre Tabletten genommen. Nicht, dass es …«
»Sind Sie Arzt? Wollen Sie meinen Job machen?«
»Weder noch. Nur die Hinweise geben.«
»Aha. Zu Ihrer Beruhigung, ich verabreiche ein krampflösendes Mittel.«
»Und das verträgt sich mit Medikamenten und Alkohol?« Diese Frage hätte ich mir sparen können. Es sieht aus, als sei sie auf hundertachtzig. Also bin ich ruhig und sehe zu, wie die Spritze aufgezogen wird und die Nadel im Arm versinkt. Ein paar Sekunden später entspannen sich die Muskeln. Die Notärztin sieht mich triumphierend an.
»Wo bin ich?«, höre ich aus Klaras Mund. Die beiden Sanitäter nehmen die Gurte ab und setzen den noch schwachen Körper im Stuhl zurecht, ziehen den Bauchgurt nach. Hinter mir höre ich Ferdinand und Bohne.
»Ist sie tot?«, fragt Elvira.
»Ach was«, erwidert Ferdinand. »Unkraut vergeht nicht.«
»Jetzt kaufen Sie ihr eine Flasche Mineralwasser und gut ist«, weist die Notärztin mich an. Ich blicke an ihr vorbei. Klara kippt vornüber, die Arme baumeln runter, beide Hände sind auf dem Boden. »Und jetzt, Frau Doktor?«
»Aber jetzt ist sie vielleicht tot«, höre ich Elviras Stimme. Die Notärztin dreht sich um, geht zwei Schritte auf Klara zu, fühlt den Puls. »Hm, das Bewusstsein verloren. Könnte eine Reaktion von Alkohol und Muskelrelaxans sein.« Sie sieht mich an. Ich schweige. »Also ich sehe keine Lebensgefahr. Wo müssen Sie hin?«
»Nach Pforzheim.«
»Ne Stunde Fahrt, oder?«
»Ja.«
Sie richtet Klara wieder auf, nimmt einen der Gurte und schnallt ihn um ihre Brust, misst Puls und Atmung, dann den Blutdruck. Ich gebe Oliver den Schlüssel. »Alle ab ins Auto«, sage ich knapp und er nickt.
»Aus meiner Sicht steht der Heimfahrt nichts im Weg«, erklärt die Notärztin.
»Moment, Frau Doktor.« Ich rufe und winke Oliver herbei. Er kommt angerannt. »Bitte wiederholen Sie das im Beisein eines Zeugen.« Sie verzieht das Gesicht.
»Schön. Gegen eine Heimfahrt gibt es aus meiner Sicht keine gesundheitlichen Bedenken. Wollen Sie das auch noch schriftlich?« Ich denke an das Bundesamt für den Zivildienst und den Ärger, den so was nach sich ziehen kann.
»Eine gute Idee, Frau Doktor. Sie haben ja sicher alles dabei.« Sie will mir ins Gesicht springen und die Augen auskratzen. Jedenfalls sagt das ihr Gesichtsausdruck, aber sie beherrscht sich und schreibt auf der Rückseite einer Blankoeinweisung ein paar Worte, drückt einen Stempel drauf, signiert und lässt den Wisch fast fallen. Oliver nimmt ihn entgegen und sie zieht wortlos davon.
»Was jetzt?«, will Oliver wissen mit Blick auf Klara.
»Einladen, festmachen! Du setzt dich auf den Notsitz neben sie, immer schön den Eimer vor Klaras Mund halten.« Er atmet tief durch und lässt die Schultern hängen. »Ich muss noch mal rein, von wegen irgendwelcher möglicher Haftpflichtfälle.« Nickend schlurft er zum 208er.

Der Kellner lehnt in der Küche an einem Regal. Seine Chefin steht neben ihm und redet auf ihn ein. Mit einem Seitenblick nimmt sich mich wahr, stemmt die Fäuste in die Hüften und legt los. »Junger Mann! Was haben Sie sich dabei gedacht?«
»Bei was?«
»Diese Personen in unsere Lokalität zu bringen!«
»Menschen besuchen nun mal Lokalitäten wie diese, oder?«
Sie dreht den Kopf zur Seite, presst die Lippen aufeinander. »Sie haben ab jetzt Hausverbot hier!«, stellt sie klar. Mir liegt eine nicht sehr freundliche Erwiderung auf der Zunge. Stattdessen denke ich daran, dass es meine Schuld war.
»Ja, das ist okay.« Aus meinem Geldbeutel hole ich eine Karte der Versicherung. »Hier, bitte. Falls Schaden entstanden ist, können Sie sich dort melden. Allerdings müssten wir dann jetzt zusammen den Schaden aufschreiben.«
Sie sieht mich an und überlegt ernsthaft, ob sie das tun soll. Das kann man deutlich sehen. Ihre Abneigung gewinnt die Oberhand. »Das wird nicht nötig sein. Gott sei dank ist ja niemand verletzt worden. Gehen Sie einfach.«
»Vielen Dank. Aber in diesem Fall bin ich angewiesen, um den schriftlichen Verzicht auf eine Schadensmeldung zu bitten.«
»Sie trauen mir nicht?«
»Doch, aber dienstlich bin ich verpflichtet, niemandem zu trauen. Sie werden das sicher verstehen. Das ist nicht auf meinem Mist gewachsen.«
»Moment«, sagt sie mit zitternder Stimme. »Bin gleich wieder da.«
Ich atme auf, als der Kellner und ich alleine sind. Von links taucht ein kleines Glas Cola auf. »Hier, trink. Ich heiße Christian«, sagt er und grinst. »Aufreibender Job«, setzt er nach.
»So wie deiner, wenn Leute wie wir kommen.« Christian lacht. »Heinrich«, stelle ich mich vor und trinke die Cola auf einen Zug leer, stoße mit geschlossenem Mund auf. »Danke für deine Hilfe. Du hast mich gerettet.« Er nickt und zieht eine rote Schürze an.
»Gerne, Heinrich. War mir irgendwie ein Vergnügen.« Seine Chefin kehrt zurück mit einem Briefbogen, Logo vom schönen Café, zwei handgeschriebene Sätze plus Unterschrift und Datum. Der Verzicht auf alles. Bevor ich etwas sagen kann, ist sie wieder weg. Ich reiche Christian die Hand.
»Viel Glück und noch mal besten Dank.«
»Ciao«, sagt er.

Für mich war die Rückfahrt eine Erholung. Nur Autobahn, und das ganz gemütlich. Oliver hingegen hatte alle Hände voll zu tun. Erbrochenes auffangen, Katzenstreu verteilen, desinfizieren. Ferdinand wurde vom Nachbar in Empfang genommen, Bohne setzte sich an den Küchentisch mit dem neuen Playboy, Elvira widmete sich der Samstagabendunterhaltung, und für Klara haben wir einen Kollegen vom Mobilen Sozialen Dienst engagiert, der sich bereit erklärte, die Nacht über bei ihr zu bleiben. Klaras Hausarzt war da und hat grünes Licht gegeben. Jetzt sitzen Oliver und ich im Schinderhannes. Nur noch eine Stunde bis Mitternacht. Wir lauschen der Musik, den Kopf angelehnt, eine Zigarette in der Hand, einen Southern Comfort mit Cola und Zitronensaft vor uns.
»Das war wohl meine Feuertaufe«, sagt er nach langem Schweigen.
»Das war es.«
Er trinkt leer und ordert zwei weitere Southern. Dann fängt er an zu lachen. Aus heiterem Himmel. Jemand bringt unsere Getränke. Eine neue Lucky landet in meinem Mund. Warum lacht er? Ich zünde sie an. Er trinkt und verschluckt sich, hustet und lacht dann weiter. »Wie dieser Bohne umkippt!«, bringt er ungelenk heraus und japst nach Luft. Bohnes Landung auf dem Tisch. Dieses Bild. Ich muss unweigerlich mitlachen. Wir halten uns bald die Bäuche und ein paar Gestalten drehen sich um, nachschauen, wer sich da so lautstark amüsiert. Nach einigen Minuten kriege ich mich wieder ein, leere das Glas in zwei, drei Zügen und höre Oliver zu, dessen Lachen in ein Winseln übergeht. Mir wird klar, dass er weint. Immer heftiger, intensiver. Sein Kopf landet auf dem Tisch. Nach kurzer Überlegung greife ich seine rechten Schulter und ziehe ihn zu mir. Schluchzen, schniefen, ein zitternder Oberkörper. Ich fühle mich schuldig.
»Entschuldigung, Oliver. Ich hätte dich nicht mitnehmen sollen.« Hat er das gehört? Vielleicht. Und was soll er schon großartig erwidern? Ich kenne ihn kaum. Bin über ihn hinweg getrampelt wie eine Herde Büffel. Die Bedienung kommt.
»Liebeskummer?«
»Ich hab ihm ziemlich weh getan«, sage ich. Sie macht ein zerknirschtes Gesicht. »Bring bitte noch zwei Southern.« Ein Nicken, dann sind wir wieder alleine unter all den Schaulustigen.

Diese Geschichte

Entstanden im Jahr 2023. Beschreibt ein Ereignis aus dem Jahr 1985. Der Zivildienst. Die Menge an Verantwortung in diesem Dienst hat uns manchmal erschlagen. Zwar gab es Vorbereitungskurse, je zwei Wochen pro Kurs, aber eine wirkliche Vorbereitung auf all die Menschen und Schicksale kann es nicht geben. Genau das aber, war das Prägende im Dienst. Wie wir es schaffen mussten, damit umzugehen. Den Mensch zu sehen zwischen all dem, was ihr/ihm und uns passiert. Und die Übersicht nicht verlieren, die Kontrolle zu behalten und am Ende immer daran zu erinnern, dass wir Menschen es nur zusammen schaffen.

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