KURZGESCHICHTE | Ein Funkeln aus Hass und Wut, das ist es, was ich in Mutters Augen sehe, als ich mich ihr in den Weg stelle. Der Schlag trifft meinen Hals. Ein jäher, ruckartiger Schmerz explodiert in meinem Kopf. Die Küche löst sich in dichtem Nebel auf. Meinen kleinen Bruder, das Ziel ihrer Hand, höre ich noch hinausrennen, dann kommt gnädige Nacht. In einem endlosen Tunnel, gebaut aus reinem Schwarz, begegne ich meinen Träumen. Hellen Bildern aus Wärme und Freude. Mitten drin Vater, wie er das Kreuz trägt; sein Kreuz mit mir und dem Leben hier. Er trägt es für mich und ich liebe ihn dafür. Sachte bedecke ich meinen frierenden Körper mit diesen Traumbildern und erwache in tiefer Dunkelheit und Kälte. Jemand klappert heftig mit den Zähnen.
»Paul?«
Die Antwort geht unter im Aufeinanderschlagen der Kiefer. Ich atme ein und rieche seinen Duft. »Hat Mutter keine Decke dagelassen?« Es bleibt still. Keine Decke, nur dunkle Kälte. »Ich mach uns ein wenig Licht«, versuche ich ihn aufzumuntern, »warte kurz, ich hab’s gleich.«
Vorsichtig taste ich die Umgebung ab. Wir sitzen dort, wohin Mutter mich immer hinschleppt, neben Vaters Werkbank. Ich ziehe eine Blechdose unter der Bank hervor, öffne sie, nehme die Taschenlampe heraus und knipse sie an. Mit einer Hand bedecke ich den Lichtstrahl, damit er nicht zufällig nach außen dringt und Mutter ihn bemerkt. Langsam drehe ich mich zu Paul. Seine Lippen sind tiefblau. Ich stehe auf, ziehe ihn mit hoch und schiebe seinen dünnen Körper auf die Leiter zu.
»Du musst da hoch, Paul. Schaffst du das?« Er nickt und setzt einen Fuß auf die unterste Sprosse der alten Holzleiter. »Oben wartet das warme Heu. Ich wärme dich und du wärmst mich.« Paul klettert Sprosse um Sprosse nach oben, zitternd wie die Blätter der großen Pappeln im Herbstwind. Mit der Schulter schiebe ich und drücke. Droben angekommen, graben wir uns tief in den Duft der getrockneten Gräser und Kräuter, Mäuse flüchten. Ich umarme Paul mit Händen und Füßen, knipse die Lampe aus und denke an Vater.
Da kommen sie, die knirschenden Schritte abgelatschter Ledersohlen auf dem grauen Schotter. Die Wut ist nicht verweht, so hart wie Mutters Füße die Steinchen aus dem Weg drücken. Der Melkeimer scheppert auf den Boden, ein feuchtes Husten. Ich stupse meinen Bruder, kraule sein kleines, verwachsenes Ohr, wir befreien uns aus dem duftenden Nachtlager, kratzen und reiben uns gegenseitig Spelz und Granen aus den Kleidern.
»Sieh sie nicht an. Guck auf deine Füße«, ermahne ich ihn, als wir vom Boden heruntersteigen. Das Tor wird geöffnet und wir blinzeln geblendet in die Helligkeit.
»Kommt raus!«, befiehlt sie. Ich greife Pauls Hand und ziehe ihn mit hinaus in den kühlen Morgen. »Geht Milch holen! Dann wascht euch, wir wollen zeitig essen und dann zum Gottesdienst.« Mutter dreht sich und verschwindet im Haus. Ich höre Paul den Eimer hochheben, er zupft an meinen Fingern.
»Komm, Maria! Wir müssen Milch holen.« Ich nicke, blicke über die grünen Wiesen und Felder um uns herum, die Pracht der Blüten, jetzt am frühen Morgen. Die Sonnenstrahlen kitzeln sie, waren Vaters Worte, kitzeln sie, bis sie aufgehen, dem Licht zugewandt, dann sind sie wie Brot und Gelee für all die Insekten um uns herum. »Maria! Wir kriegen Ärger! Komm doch!«
Vaters Stimme flieht aus meinem Kopf. »Ist gut, Paul. Wir gehen ja.« Hand in Hand schlendern wir zum Viehstall. Ich melke die beiden noch verbliebenen Kühe, höre Paul pfeifend Heu im Trog verteilen, dann Rübenschnitzel hackend in der Kammer. Plötzlich laufen mir Tränen über die Wangen, von einem Atemzug auf den nächsten. Mein Herz droht zu bersten, so heftig schlägt es. Schnell schließe ich die Augen, atme langsam ein und aus, wieder und wieder, bis ich Pauls Hand auf meiner Schulter spüre, angstvoll ruhend, dann langsam reibend.
»Maria?«
»Ist gut, Paul. Ist wieder in Ordnung. War nur gerade ein bisschen traurig.«
Ich schniefe. Der Eimer ist fast voll. »Komm! Wir müssen uns noch waschen, bevor es zur Messe geht.« Paul lächelt.
Ich gieße die Milch durch den Filter in die Kannen und stelle sie in den Kühlschrank. Hinter mir, auf der Ofenbank, sitzt mein älterer Bruder. Ich spüre seinen Blick, wie er meine Haare mustert, den Rücken hinab wandert, an meinem Hintern kleben bleiben. Als ich mich umdrehe und seine Augen suche, greift er hastig nach dem Brot.
»Hast du die Hühner gefüttert, Robert?« Er schaut auf die Butter, sein Messer, dann zum Fenster hinaus, überall hin, nur nicht zu mir. Er ist ein erbärmlicher Feigling. »Ich rede mit dir.«
»Ist doch deine Arbeit. Du bist doch die Magd hier!«
Wie besessen stopft er sich das Brot in den schmalen Mund, ich verstehe ihn kaum.
»Nein! Vater hat dir das Hühner füttern aufgetragen. Ich bin für die Kühe zuständig, du für das andere Viehzeug.«
Robert schmeißt, wie von der Tarantel gestochen, das Messer durch die Küche, schiebt den Tisch mit einem Ruck von sich weg und stürzt auf mich zu. »Vater! Vater!«, schreit er sich die Brotkrumen aus dem Mund, »Immer wieder Vater! Er ist tot! Und du …!«
»Gottverdammt!«, brüllt Mutter. Ist aus dem Nichts aufgetaucht und geht wie ein Brett zwischen uns. Ich renne hinaus und ein heftiges Klatschen gibt mir die Sicherheit, dass mein älterer Bruder dieses Mal die Hiebe erntet. Paul kommt mir auf dem Flur entgegen. Ich schnappe seine Hand und ziehe ihn mit ins Bad, verriegle die Tür und öffne den Wasserhahn.
»Maria, was …«
»Setz dich, Paul. Setz dich aufs Klo und sei still.«
Er setzt sich auf den Klodeckel und starrt mich an. Ich ziehe mich aus und betrachte im Spiegel den enormen blauen Fleck auf meinem Hals. Ich werde mir einen Schal umwickeln müssen für die Messe.
»Maria?«
»Hm?«
»Wirst du …«, er beißt sich auf die Lippen. »Wirst du bald von hier fortgehen?«
Ich gehe in die Knie. All meine Kraft entweicht schlagartig, wie die Luft aus einem löchrigen Ballon. Ich hoffe auf Tränen, die mich jetzt erlösen könnten, den Kloß aus meinem Hals fortspülen, aber ich weine nicht. Stattdessen ziehe ich mich am Waschbecken hoch und fasse seinen kleinen Kopf, drücke ihn gegen meinen nackten Bauch, sehe an mir herab. Der Blondschopf unter meinen gewachsenen Brüsten. Er ist mein Bruder. Der liebste Mensch in dieser Dunkelheit.
»Warum sollte ich fortgehen, Paul?«
»Du siehst schon aus wie eine Frau. Sicher wirst du bald heiraten.«
Ich puste sanft meinen Atem über seine blonden Haare. »Ich bin doch erst fünfzehn, Paul. Außerdem werde ich dich nicht alleine lassen. Wenn ich gehe, nehme ich dich einfach mit.« Ich betrachte mein Gesicht im Spiegel. Ich bin nicht rot geworden.
»Wirklich?«
»Aber ja. Was solltest du auch hier?«
»Wohin gehen wir dann?«
Ich überlege. Ein Platz, so weit weg von hier, wie nur irgend möglich?
»Ich glaube, wir gehen nach Neuseeland.«
»Neuseeland? Das klingt aber weit. Kann man da mit dem Zug hinfahren?«
»Nein«, lächle ich ihn an. »Mit dem Schiff. Wir müssen aber um die halbe Erde fahren.«
Paul starrte mich an. Ich lasse seine Hände los. Mit den Gedanken ist er sicher auf einem großen Schiff.
Ich ziehe mein hellbeiges Sommerkleid über und binde den weißen Firmungsschal um den Hals. Paul steht am Küchentisch und steckt sich ein Stück Fleischwurst in den Mund. Von Robert ist weit und breit nichts zu sehen und sicherlich werde ich ihn auch nicht beim Kirchgang ertragen müssen. Der Schwaab Thomas hat neuerdings ein Auto, und so oft es möglich ist, verzieht sich Robert zu Thomas, um die neue Freiheit zu genießen. Als Mutter eintritt, verschluckt sich Paul, hustet heftig über den Tisch, Mutter wirft ihm einen bösen Blick zu, aber ihre Hände bleiben fest um Bibel und Gotteslob geschlossen. Sie ist ganz in Schwarz, die Haare in ein feines Netz gepackt, einen ebenso schwarzen Hut auf dem Kopf. »Wir gehen. Benehmt euch, dann dürft ihr mit zu Tante Frieda.«
Schweigend ziehen wir los. Unser Hof ist der erste nach dem Ortseingang. Bis zur Kirche in der Dorfmitte sind es gerade mal hundert Meter. Hier oben auf der Alb, kurz vor Zwiefalten, ist es einsam. Aus den umliegenden Höfen kommen die anderen Familien, alle in schwarze Kleider gehüllt. Wieder mal schwarzer Sonntag, hatte Vater sich meist lustig gemacht. Ob man nicht mal weiße Kleider anziehen könne, fragte er Mutter gelegentlich; wohlwissend, dass sie weder den Humor noch die Schlauheit besaß, es humorig zu betrachten. Wut war ihre einzige Reaktion. Doch Vater lachte, und meist schaffte er es, Mutters Wut wegzulachen. Nun ist er seit zwei Jahren tot. Und heute will Mutter das Festamt feiern. Mit zwei Hühnern und drei Laib Brot überzeugt sie den Pfarrer, es auf diesen Tag zu legen, Vaters zweiten Todestag. Paul zupft an meiner Hand, drängelt sich dicht an mich. Wie Schatten schleichen wir hinter Mutter her. Die schwarzen Menschen werden zahlreicher, das Schweigen stiller. Hier und da ein Flüstern. Seit Vaters Tod, schweigen die Menschen um uns herum. Obwohl nur ein Herzinfarkt, ist sein Dahinscheiden möglicherweise eine Strafe Gottes. Und je länger nicht geredet wird, desto wahrer wird diese Annahme. Mir ist das Schweigen der anderen mittlerweile gleichgültig, doch in Pauls kleine Seele dringt es mit Gewalt ein und richtet furchtbare Verwüstungen an. Sie reden nicht mit ihm, höchstens über ihn. Und Mutter lässt ihn schutzlos unter dieser Meute, ihr blieb am Ende nicht mehr als unbändige Wut. Allein gelassen vom Versorger.
Mit dem Gloria Patri ziehen die schwarzen Menschen in die Kirche ein, unter dem Geläut und dem geweihten Wasser. Starrende Augen hinter Netzschleiern, unter Hutkrempen, zwischen dem Lesen der Liedzeilen. Dutzende Augen auf unseren Rücken. Ab und zu hält der Pfarrer die Messe in Latein, so auch an diesem Tag, und ich verstehe nicht sehr viel. Knien, Buße tun, aufstehen, singen, schweigen und beten. Nichts davon reagiert auch nur mit dem geringsten Teil in mir. Dann fällt Vaters Name und Mutter beginnt zu schluchzen. Paul zuckt, seine schmalen Finger berühren ihre Hand, umgreifen sie, doch sie bleibt kalt, schüttelt ihn ab wie die Kühe lästige Fliegen. Die Schwärze im Gotteshaus wird bedrohlich. Ich ringe nach Atem, bekomme kaum noch Luft und renne hinaus, einfach weg. Neben der Kirche bleibe ich stehen, auf dem kleinen Friedhof, gehe direkt zu Vaters Grab und knie auf der Umrandung. Die Menschen drinnen singen und wiederholen lateinische Wörter. Ich hoffe auf Tränen, aber nichts kommt.
Als es läutet, strömt die schwarze Pracht aus der schmalen Tür, sieht sich um, entdeckt mich und sie flüstern, deuten. Dann kommt Paul, gleich danach Mutter. Der Kies knirscht unter ihren Füßen, wie ihre Laune unter ihrer Wut. Mit einem harschen Griff packt sie mich am Kragen, zieht am Firmungsschal immer wieder hin und her, von der einen, auf die andere Seite. Ich bin das Vieh, das zum Metzger gezogen wird. Unbarmherzig aus der Kirche kommend.
»Gott, oh Gott! Was eine Schande! Jesus, Maria und Josef! So eine Schande. Gott vergib uns!«, jammert sie unentwegt.
Gott wird dir auf keinen Fall vergeben, hoffe ich.
»Warum ich? Gott, warum hast du meinen Mann genommen? Warum nicht sie?« Mutters Stimme verliert sich zwischen meinen Gedanken und den Blicken auf den Weg, um nicht versehentlich zu stolpern. Paul geht vor uns her, sieht sich immer wieder mit panischem Blick um.
»Geh schon, Paul! Mach die Scheune auf! Los!«
»Aber …«
»Geh! Du Nichtsnutz!«
»Geh, Paul!«, raune ich ihm zu. Er rennt x-beinig davon, zieht den großen Holzriegel auf Seite und hängt sein ganzes Gewicht ans Tor. Langsam öffnet es sich. Dunkelheit kriecht mir entgegen. Der Postbus fährt an uns vorbei. Morgens in die eine, abends in die andere Richtung. Mutter stößt mich in die Öffnung hinein, schließt das Tor und verriegelt es. Ihre Schritte entfernen sich. Paul ruft meinen Namen, dann wird es still. Ich steige auf den Boden und spähe durch einen Ritz. Hinter der Scheune wandelt der Wind die Gerstenfelder in ein wogendes, hellbraunes Meer. Der rote Mohn steht zahllos am Rain oder mittendrin, Kornblumen mit ihrem Meeresblau, Butterblumen, gelber als die Sonne, das ist es, was ich durch den kleinen Spalt endlos betrachten kann. Bis ein Auto auf dem Hof hält, zwei Türen klappern, die Stimmen meines älteren Bruders und von Thomas im Haus verschwinden. Bald höre ich Mutter etwas sagen, dann verlässt sie offensichtlich den Hof; vermutlich zu Tante Frieda. Wieder kehrt Ruhe ein und ich lege mich ins Heu.
Wäre da nicht Paul, sinniere ich kauend auf einem Haferstängel. Mein sechzehnter Geburtstag steht vor der Tür, bald sind Sommerferien, fertig mit der Mittelschule, bereit für eine Lehre. In Pfullingen oder Riedlingen lässt sich mit Sicherheit was finden. Aber da ist Paul! Was mache ich mit Paul? Ich döse ein, den Duft des Heus in der Nase, schlafe einen unruhigen Halbschlaf, bis mich das Klappern der Scheunentür zurückholt, ich mich schlagartig aufrichte, an den Rand des Bodens krieche und hinab spähe. Robert und Thomas.
»Maria?« Ich gebe keine Antwort. »Maria? Mutter hat gesagt, ich soll dir Brot und Wasser bringen.«
»Stell es auf die Werkbank.«
Überrascht sehen sie hoch. »Aber vielleicht …«, Robert dreht sich kurz zu Thomas, »vielleicht kannst du noch etwas tun, dafür, dass wir dir dein Sonntagessen bringen?«
»Was sollte das sein?«
»Na, Thomas mag dich, weißt du? Er findet dich wirklich hübsch und schließlich bist du ja schon fünfzehn, bald sechzehn. Ich meine, da könnte man schon mal schwach werden, oder?«
»Schwach für was?«
»Na, zeig uns doch mal deine tollen Brüste. Das wär mal ein Anfang«, bringt Thomas es auf den Punkt.
»Warum stellt ihr nicht einfach das Brot samt Wasser auf die Werkbank und verschwindet!«
»Das musst du dir verdienen«, erwidert mein Bruder.
»Ihr könnt mich kreuzweise.«
»Wie du meinst.«
Er wirft das Brot auf den Boden und pinkelt drauf. Thomas kringelt sich vor Lachen, dann verschwanden sie, riegeln ab und fahren davon. Ich drehe mich auf den Rücken und starre zum Giebel hinauf.
Die Nacht ist angebrochen, die Kirchturmuhr schlägt die Elf. Niemand kommt, lediglich der Hunger ist mein permanenter Begleiter. Ich bin froh, dass die beiden Idioten nicht auf die Idee gekommen sind, ins Wasser zu pinkeln. So habe ich immerhin zu trinken. Ab und zu knipse ich die Taschenlampe an, versuche Mäuse zu entdecken, die über das Gebälk laufen. Die kalte Nacht dringt in die Scheune und ich grabe mich tief ins Heu, lasse eine kleine Atemöffnung, raffe vorsichtig mein Sommerkleid hoch und lege die Hand auf den sanften Hügel zwischen meinen Schenkeln. Die Stille ist bezaubernd, der Duft intensiv, die Dunkelheit vollkommen. Bilder formen sich in meinem Kopf. Der junge Bademeister im Schwimmbad von Pfullingen nimmt Gestalt an. Er mustert jeden Quadratzentimeter meines Körpers, grinst mich an, streckt beide Hände aus, berührt meine Brüste. Mein Schoß glüht wie das ausgehende Osterfeuer, meine Finger gleiten mitten hinein in den feuerroten Kreis, bewegen sich wie Planeten um die Sonne, immer schneller, dann explodiert die Glut und rauscht durch meinen Kopf. Ich krampfe, atme Heu in den Mund und liege für alle Zeiten still. So kommt es mir vor. Doch ich schlafe ein und begegne Vater, wie er mit mir durch die Gerste schreitet, das Korn aus dem Spelz pult, es zerquetscht und lächelte.
»Es ist trocken genug, wir können ernten«, erklärt er und reicht mir die zerdrückten Körner. Ich stecke sie in den Mund, kaue drauf herum, blinzle in die Sonne bis es Nacht ist und wir unterm Sternenzelt stehen.
»Was für eine gute Ernte«, flüstert er und legt den Arm um meine Schulter.
»Backen wir daraus Brot?«
»Nein«, lacht er, »aus Gerste kann man kein Brot backen. Wir geben es ab an die Malzfabrik. Wir können sie trinken.«
»Trinken?«
»Aber ja. Wenn wir sonntags beim Frühschoppen sind, dann trinken wir ein Bier, oder?«
»Ich darf noch nicht.«
»Nein. Und ich nur eins. Sonst wird Mutter böse. Aber das Bier ist aus unserer Gerste gebraut.«
Ich sehe ihn von der Seite an, seine Umrisse, nur wenig Licht fällt vom Haus nach hier auf den Weidezaun, auf dem wir sitzen. Ich weiß, es ist ein Traum, aber nur dort will ich sein.
»Sieh dort oben.« Er nimmt meine Hand und hebt sie hoch. Ich strecke den Finger aus.
»Siehst du den hellen Fleck dort?«
»Die Sterne …«
»Die Plejaden. Vierhundert Lichtjahre von uns entfernt, hab ich mal gelesen.«
»Ist das weit?«
»Weiter, als du es dir je vorstellen kannst.«
»Ich frage mich, Papa, warum ist das alles dort oben?«
Er nimmt mich wieder in den Arm. »Wir kommen von dort.« Ich spürte seine ledrige Haut in meinem Nacken und kuschle mich an ihn.
»Wirklich?«
»Aber ja. Alles was du siehst, kommt von dort. Und wird eines Tages wieder dorthin zurückkehren.«
Das gefällt mir. Es kribbelt mit einem Mal so enorm im Bauch, dass ich fast vom Zaun gefallen wäre. Doch es klappert hinter mir und ich blinzle in eine unangenehme Helligkeit hinein.
»Komm raus! Der Schulbus ist in zehn Minuten da. Hier sind zwei Brezeln, die ich gestern von Tante Frieda bekommen habe. Nach der Schule will ich dich gleich hier sehen. Der Stall muss ausgemistet werden.«
Das war es mit der Morgenbegrüßung. Sie verschwindet wieder und ich klettere vom Boden runter. Da liegen nicht nur die Brezeln, auch meine Schultasche hat sie hergetragen. Ich kontrolliere den Inhalt, stopfe die Papiertüte mit den Brezeln hinein und renne zur Kirche. Die schwarzen Menschen sind verschwunden. Drei Kinder warten mit mir auf den Bus. Alle jünger als ich. Im Dorf bin ich das älteste Mädchen. Geschwind klopfe ich das Heu aus dem Sommerkleid. Mutter wird böse sein, weil ich mit diesem Kleid in die Schule fahre, aber sie will es ja schließlich so. Als der Bus kommt, steigen wir ein und ich spähe nach Rosa, entdecke sie auf der hinteren Bank und setze mich neben sie. Sie schweigt und ich weiß, dass etwas oder jemand ihr das Wochenende verhagelt hat. Als wir am Haus vorbeikommen, sehe ich den VW-Bus kommen, der Paul abholt. Sein Anblick schmerzt mich. Es war eine Qual für ihn bei Tante Frieda und dann den Abend und die Nacht alleine gewesen zu sein, das weiß ich.
»Maria?« Ich drehe den Kopf zu Rosa. »Warum hast du so ein schönes Kleid an? Wir gehen nur in die Schule, nicht auf ein Fest … und hier«, sie beugt sich zu mir, »… überall Heu … um Gottes Willen, was hast du heute Nacht gemacht?«
»Nicht das, was du denkst jedenfalls. Ich hab mal wieder in der Scheune übernachtet.«
»Deine Mutter hat dich wieder eingesperrt?«
»Ja.«
Sie erwidert nichts, sieht wieder aus dem Seitenfenster. Ich krame eine Brezel hervor und beiße hinein. Vermutlich hat Tante Frieda sie selbst gebacken, denn sie sind noch nicht zu hart.
»Warum hast du diesen Schal an? Ich glaube, heute wird es warm.«
»Er gefällt mir. Deswegen.«
Rosa runzelt die Stirn. »Letztens habe ich mal deine Mutter mit dem kleinen Paul in Pfullingen gesehen. Geht er da nicht in diese komische Werkstatt?«
»Ja, so eine Art Schule.«
»Weißt du, ich glaube, du musst von zuhause weg.«
Ich höre auf zu kauen und starre sie an. »Wie kommst du darauf?«
»Nur so ein Gefühl … ich meine, als ich deine Mutter mit deinem kleinen Bruder da hab laufen sehen, musste ich mich wegdrehen, so furchtbar fand ich das. Sie hat ihn geschubst und an den Armen gezogen, wie es ihr in den Kram passte. Mir fiel so ein Gummiball ein, so ein …«
»Flummi?«
»Ja, genau. Was hat er eigentlich, der Kleine?«
»Keine Ahnung, wie das heißt. Er ist halt zurückgeblieben, kann nicht lernen, ist irgendwie immer noch ein kleines Kind.«
»Schlimm.«
Ich fixiere sie wie eine Aussätzige. Hatte sie schlimm gesagt?
»Was ist, Maria? Warum starrst du mich so an?«
»Du hast keine Ahnung, Rosa. Es ist überhaupt nicht schlimm. Er ist der liebste Junge, den ich kenne. Niemals würde er irgend jemandem etwas tun. Er ist offen und ehrlich. Ich sag dir, was schlimm ist! Die Erwachsenen sind schlimm. Die ihn quälen und über ihn lachen oder ganz mitleidig seine Wangen kneten wie einem kleinen Hund. Das ist schlimm. Mein großer Bruder ist schlimm, der seinen kleinen Bruder verhöhnt wo er kann. Das ist schlimm!«
Ich stehe auf und wechsle auf den gegenüberliegenden Platz, kaue weiter an der Brezel und schaue durch die verschmierte Scheibe auf die braun gewordenen Felder. Sie hat recht. Ich muss dort weg. Egal wie.
Es ist tatsächlich warm geworden. Im Bus nach Hause wickle ich den Schal ab und taste meinen Hals. Es tut furchtbar weh und die Leute starren auf den sicherlich immer noch großen, blauen Fleck. Aber das ist mir mehr als egal. Als ich aussteige, trinke ich meinen Durst am alten Viehbrunnen weg, dann gehe ich heim und ziehe mich um. Mutter ist nicht da, Robert im Lehrbetrieb, also mache ich mich gleich an den Stall. Der Mist ist schnell beseitigt und nachdem ich neu eingestreut habe, fange ich mit den Hausaufgaben an. Gegen Spätnachmittag kehrte Mutter heim, sieht mir kurz über die Schulter, drückt meinen Kopf auf die Seite und presst den Finger auf den blauen Fleck. Der Schmerz rollt meinen Hals hinab. Wortlos lässt sie von mir ab, leert die Taschen, räumt den Einkauf in die Speisekammer. Zwischen den Algebra-Aufgaben vergesse ich sie und höre nichts mehr von ihr, bis die Stille hinter mir zu einer solchen Gewalt wird, dass ich zu zittern beginne, mit dem rechten Knie unkontrolliert auf und ab wippe. Ich räuspere mich, nur um etwas zu hören. Mutter steht hinter mir, dessen bin ich mir sicher. Obwohl ich niemanden sehe, mich nicht umdrehte, drückt mich das, was sie verströmt, fast auf die Tischplatte. Sie atmet die Gewalt in die Küche hinein. Ich springe auf, hole ein Glas aus dem Schrank, fülle es mit Wasser und trinke. Und da steht sie. Zwei Meter hinter meinem Platz, starrt immer noch auf den Stuhl, obwohl ich nicht mehr sitze. Ich wechsle zur Eckbank.
»In Deutsch bekomme ich eine eins. In Englisch und Geschichte auch. Mathe leider nur eine zwei.« Mutter hört es nicht oder will es nicht hören. »Nach den Sommerferien ist die Mittelschule fertig, und ich werde eine Lehre machen. Vielleicht als Bürokauffrau.« Das Leben kehrt in sie zurück.
»Was soll das sein, eine Bürokauffrau?«
»Wie der Bürokaufmann, nur als Frau eben.«
Sie stellt den Wasserkocher auf den Herd, mahlt Kaffeebohnen, kippt Pulver in den Filter. »Am Ende wirst du nur eine Sekretärin«, meint sie.
»Nein. Ich gehe nach der Lehre auf die Handelsschule, mein Fachabitur machen und dann studiere ich.«
»Studieren?«, gluckst sie voller Spott. »Du? Von mir bekommst du kein Geld.«
»Natürlich studieren. Warum nicht? Und dein Geld will ich nicht.«
Sie gießt den Kaffee auf, drückt das nasse Pulver mit einem Teelöffel nach, gießt erneut und stellt die Kanne weg. »Und der Hof? Du kannst hier heiraten, den Hof an deinen Mann abtreten und deinen Vater damit ehren. Warum musst du mir immer wieder Schande machen? Was habe ich dir getan?«
»Soll ich aufzählen, was du mir schon alles getan hast?«
Die Tasse in ihrer Hand sinkt wieder auf die Anrichte zurück. Langsam dreht Mutter sich um. Mit den Augen sucht sie nach etwas. Ich spüre ihre Wut kommen, stehe auf und renne hinaus, rechtzeitig, bevor sie den Wasserkocher samt heißem Wasser an den Türrahmen wirft.
Oben im Zimmer stelle ich mich vors Fenster, hebe die angegraute Gardine beiseite, das Windkreuz vor mir mit all der abgeblätterten weißen Farbe. Ich muss weg. Das steht außer Zweifel. Unter dem Sims ziehe ich aus einem Spalt Vaters Foto heraus und fahre seine Gesichtszüge mit dem Finger nach. Der VW-Bus der Werkstätte hält am Straßenrand, lässt Paul aussteigen und fährt weiter. Ich klopfe an die Scheibe und bedeute ihm, gleich hochzukommen. Er soll nicht Mutters Wut über den Weg laufen. Ohne das kleinste Geräusch schleicht er in mein Zimmer und steht vor mir. Sein Blick ist so unbelastet und frisch wie eine morgendliche Wiese im Frühling.
»Maria …«
»Paul, komm, lass dich umarmen.« Rasch überwindet er die wenigen Schritte und fällt mir um den Hals. Ich nehme seinen Schwung auf, ziehe ihn hoch und wir drehen uns zweimal. Dann setze ich ihn auf mein Bett.
»Maria, heute haben wir mit der Laubsäge Tiere gesägt.«
Er stockt und sieht zu mir auf mit so klarem und heiterem Blick, dass es mir fast das Herz zerreißt. Die kleinen Finger greifen in seine Hemdtasche und er zieht ein Stückchen bemaltes Sperrholz hervor. »Hier. Für dich.«
Ich nehme es vorsichtig an mich und betrachte es von allen Seiten. So etwas wie Hörner und Augen gibt. Es muss eines unserer Tiere sein, aber welches? Der alte Schafbock fällt mir ein, der kurz nach Vaters Tod gestorben ist. Wie hieß er noch gleich …
»Weißt du, wer das ist, Maria?«
»Das ist bestimmt Odin. Nicht wahr?«
Pauls macht ein erstauntes Gesicht. Odin, der Schafbock. Wegen ihm durchlitt Vater einiges an Ärger und Aufregung. Das Dorf ist katholischer als Rom selbst, und Vater tauft diesen Schafbock mit einem heidnischen Namen. Mutter erklärte ihn unentwegt für verrückt. Odin war wild und recht ungezähmt, machte also seinem Namen alle Ehre.
»Ja! Genau! Wie findest du ihn?«
»Wunderschön. Ich werde ihn immer bei mir tragen.« Ich strubble Pauls Haare, dann blicke ich ihm fest in die Augen. »Heute Abend darfst du mit mir auf dem Weidezaun sitzen und Sterne beobachten.«
»Wirklich?«
»Ja. Wenn Mama beim Fernsehen einschläft, schleichen wir uns raus.«
Seine Augen leuchten.
Nichts und niemand vermag Mutter zu wecken, wenn sie auf der Couch einschläft und der Fernseher vor sich hin plärrt. So gelangen wir problemlos nach draußen, legen die vierzig Meter zum Zaun zurück und setzen uns auf die Doppelstangen. Ein Abend im Freien. Weder in der Scheune, noch alleine in meinem Zimmer. Weder Mutters Schnarchen nebenan, noch Roberts verzweifeltes Stöhnen, nach dem Studium des neuen Playboy. Paul schweigt, starrt in den Himmel, dreht den Kopf in alle Richtungen. Vater saß seltsamerweise immer nur mit mir hier draußen und erklärte, was dort oben vor sich ging. Niemals habe ich ihn mit Robert hier sitzen sehen. Vielleicht wünschte er sich Paul an Roberts Stelle. So deutete ich manches Mal seine Blicke, wenn sie zwischen meinen Brüdern hin und her wechselten. Als er starb, schnitt er damit tief in mich hinein. Es war, als würde jemand die blaue Erde aus ihrer Bahn treten, hinein in die endlose Kälte. Ich fühlte mich lange wie unter ewiger Nacht. Er war es, der mich immer wieder aus der Scheune holte, wenn ich etwas für meinen großen oder kleinen Bruder ausbaden musste, ja, zu büßen hatte. Warum er es nicht schaffte, Mutter davon abzuhalten, war mir ein Rätsel. Ich glaube, er war einfach zu weich. Dieser Welt schutzlos ausgeliefert. Und Paul war es ebenso. Es trieb mir Tränen in die Augen.
»Maria?«
»Ja?«, schniefe ich und fühlte mich ertappt.
»Meinst du, Papa hat Mama gemocht?«
Ich schlucke schwer. Diese Frage wirbelt mein Vorhaben durcheinander. »Ich weiß nicht. Keine Ahnung, wirklich.«
»Ob Mama mich mag?«
Der Boden unter meinen Füßen rutscht weg. Was soll ich antworten? Wäre es nicht besser für ihn gewesen, niemals geboren worden zu sein? Für uns alle? Was hätte Vater jetzt geantwortet? Mit einem Mal ist so viel Last auf meinen Schultern, dass ich von den Stangen rutsche, auf den ausgetretenen Weg. Paul folgt mir nach, setzt sich zwischen meine Beine, lehnt sich an mich, den Kopf an meinen Brüsten. Ein paar Tränen treffen seinen Scheitel.
»Schau mal nach da oben. Was siehst du?«
»Viele, viele Lichter.«
»Jedes Licht ist eine Sonne. Wie die unsere.«
»So heiß und hell?«
»Manche noch viel heißer und viel heller. Da gibt es blaue und rote und weiße.«
»Toll.«
»Aber«, hob ich meine Stimme, »manche Sonne ist für sich alleine. Nicht alle sind zu zweit. Verstehst du?«
»Nee.«
Ich kraule den Blondschopf.
»Da oben ist es eiskalt. Niemand kann da leben. Nur die Sonnen. Die sind heiß und leben und machen Licht. Sie leuchten, weil sie leuchten wollen, weil sie leuchten müssen.«
»Aber für wen leuchten sie denn da?«
»Für solche kleinen Wesen wie uns. Wir brauchen das Licht und die Wärme, stimmt‘s?«
Ich spüre, wie er nickt. »Ich glaub schon. Und die Tiere auch.«
»Ja. Und jetzt verrate ich dir ein Geheimnis. Unter uns Menschen gibt es auch welche, die leuchten. Jeder Mensch kann leuchten, wenn er will.«
»Wie eine Sonne?«
»Fast. Ein Mensch, der leuchtet, ist ein Mensch, der gut ist zu dir und mir, zu anderen, der freundlich ist, lacht und immer hilfsbereit. Du bist so eine kleine Sonne … für mich und für alle anderen, und Papa war so eine Sonne.«
»Ich bin wie eine Sonne?«
»Aber ja. Ich schwöre es.«
Ruckartig drehte er sich und saß auf meinem Schoß. »Aber dann bist du auch eine Sonne, Maria. Du bist lieb zu mir und hilfst mir immer.«
»Ohne Sonnen gäbe es kein Leben, aber irgendwie dankt es ihnen niemand. Doch es macht ihnen nichts aus, denn sie wissen, dass es ohne sie dunkel wäre.«
Pauls kleine, schwächliche Arme klammern sich um meinen Hals.
»Du gehst bestimmt bald weg, oder?«
Ich breche in Tränen aus. »Ja«, bringe ich mühsam hervor, »und … ich will, dass du leuchtest wie eine Sonne. Denk immer dran, Sonnen leuchten, weil sie es können und wollen. Sieh nach oben. Schau sie dir an, tausende, ach was, zehntausende! Das sind alles deine Schwestern dort oben.«
Statt traurig zu sein, wischt er mir die Tränen mit dem Pulloverärmel ab. »Maria?«
»Hm?«
»Mama und Robert sind keine Sonnen.«
»Nein, das sind sie nicht.«
Wir halten uns fest, als wären wir einer dieser Doppelsterne dort oben am Sternenzelt.
Diese Geschichte
Entstanden im Jahr 2015. Auch hier ist Realität enthalten und ich widme diesen Text einer besonderen Person. Ohne diese besondere Person wäre mein Leben so viel ärmer gewesen. Die Älteren unter uns erinnern sich vielleicht an die schwarzen Menschen, sonntags, auf dem Kirchgang. Eine starre Welt. Festgefügt in Gottes Erden … Abweichler werden ausgestoßen. Engstirnig. Und immer wieder bricht die Gewalt sich Bahn in solch Engstirnigkeit. Ich wünsche Spaß beim Lesen.