Alte Freunde

KURZGESCHICHTE | »Und Sie sind sich sicher, dass Sie wieder hierher ziehen möchten?« Immobilienmaklergesichter sind auf der ganzen Welt identisch. Mein Gegenüber ist da keine Ausnahme. Glatt ist das Adjektiv, das passt.
»Gäbe es da von Ihrer Seite Einwände?«, frage ich ihn. Er hebt beide Hände und wedelt beschwichtigend.
»Nein, ich meine nur, weil Sie ja aus Süddeutschland kommen. Da ist das Wetter doch meist viel besser. Und das Oberbergische ist doch ein einziges Regenloch.«
Ich nicke ihm zu. »Da haben Sie sicher recht. Aber in meinem Alter macht mir Regen nicht mehr viel aus.«
»Klar, ich kenne das von mir. Man wird ruhiger, nimmt nicht mehr alles so ernst, nicht wahr?«
Ich muss grinsen, weil mir eine nette Antwort dazu einfällt, aber ich behalte sie für mich. »Was können Sie mir denn nun als endgültigen Preis nennen? Die 185.000 Euro können Sie vergessen. Mal abgesehen von einer altertümlichen Ölheizung und der nicht vorhandenen Isolierung, werde ich sicher noch knapp 20.000 Euro in die Erneuerung der Fenster stecken müssen.« Ich ziehe die Augenbrauen hoch und fixiere sein glattes Gesicht.
»Äh …«
»Eine gute Reaktion. Weil ich ja ein kulanter Mensch bin, schlage ich Ihnen 150.000 vor. Morgen mit dem Koffer auf ihrem Schreibtisch.«
»Okay, gut. Überredet …«
»Dafür lassen Sie mir jetzt einen der Schlüssel da, ich unterschreibe sofort und werde gleich morgen früh das Geld bringen. Da die Besitzerin Ihnen ja Vollmacht erteilt hat, bekommen wir das schnell über die Bühne. Nicht wahr?« Ich ziehe einen Umschlag aus meiner Jackettasche und halte ihn vor sein Gesicht. »Eine kleine Anzahlung, 20.000, plus Provision. Die muss ja nirgendwo auftauchen, wenn Sie mir jetzt quittieren.«
Er strahlt wie ein Honigkuchenpferd. »Moment, ich werde gleich den Vertrag anpassen und eine Quittung ausstellen.«
Mir ist sein Name schon wieder entfallen, aber der Glatte setzt sich auf die alte Eckbank und ändert den Vertrag, druckt ihn auf dem mobilen Drucker und quittiert mir die 20.000 Euro. Ich lese den Kaufvertrag noch einmal durch und unterschreibe Original und Kopie. »Sieht gut aus, Herr …«
»Weidenfels.«
»Herr Weidenfels. Heute ist Donnerstag. Morgen früh um zehn bin ich da. Danach gehen wir noch zusammen auf das Grundbuchamt. Als Zeuge, aber keine Sorge, diese Dienstleistung müssen Sie natürlich nicht umsonst erbringen.« Meine Güte, wie er strahlt. Offenbar habe ich ihm nicht nur den Tag gerettet, nein, mindestens noch den Rest des Monats.
»Danke, Herr Konstantin. Es war mir ein Vergnügen mit Ihnen Geschäfte zu machen.«
Seine aalglatte Hand erscheint prompt vor meiner Krawattenspitze. Ich packe sie und das Gefühl von feuchter Seife stellt sich sofort ein. »Ganz meinerseits, Herr Weidenfels. Ich werde Sie unbedingt weiterempfehlen.«
»Danke! Also, hier der Schlüssel.«
Ich nehme ihn entgegen und weise ihm den Weg zur Tür. Es nieselt. Kein Wunder, in diesem Regenloch. Weidenfels steigt in seinen Ford Mondeo und braust davon. Ich stehe im Türrahmen und schaue zum Himmel. Einfarbiges Grau.

Nun bin ich also wieder hier, denke ich und verlasse das Haus, schließe sorgfältig ab, ziehe die Kapuze der Regenjacke über und mache mich auf den Weg. Vor 34 Jahren verließen meine Eltern und ich diesen kleinen Ort im Oberbergischen, zwischen Gummersbach und Wiehl gelegen. Ein halbes Leben. Ich marschiere auf die einzige Kirche zu, eine evangelische, die auf einer Anhöhe neben der Hauptstraße steht und heute genau so verlassen auf mich wirkt, wie vor 34 Jahren. Es ist nicht übertrieben, wenn ich sage, dass der Pfarrer damals die Hölle war. Ein widerlicher Sadist, voller hässlicher Worte für alles, was nicht so sein konnte oder wollte, wie er und seinesgleichen. Wir wenigen Jungs sorgten dafür, dass sein Leben sehr unbequem wurde, indem wir ihm jeden Streich spielten, der uns einfiel. Auch die besonders fiesen.
Ich gehe nach rechts. Die Dorfstraße runter. Auf beiden Seiten Einfamilienhäuser. Manche mit schwarzem Fachwerk, die Fächer weiß gekalkt, andere mit anthrazitfarbenen Schiefertafeln verkleidet, schiefergedeckte Dächer. Bei Sonnenschein gerade noch zu ertragen, aber im Nieselregen, unter grauem Einheitshimmel, nur melancholische Inseln. Ohne ein Anzeichen von Leben. In keinem einzigen der Gebäude ahnt man weder Bewegung noch sonst einen Hauch von Aktivität. Ich denke an ein Potemkinsches Dorf. Nach etwa hundert Metern erreiche ich den ehemaligen Blumenladen. Leer, bis auf Gerümpel. Daneben die Bäckerei. Sie ist beleuchtet, aber niemand ist zu sehen im Verkaufsraum. Ich setze mich auf den Fenstersims des alten Blumenladens und schnäuze die Nase. Ein Auto fährt vorbei, der Fahrer würdigt mich keines Blickes, rollt weiter durch den Nieselregen, über die Kuppe, und verschwindet.

Einer plötzlichen Eingebung folgend, stehe ich auf, biege nach der Bäckerei rechts ab und laufe schnurstracks zum Haus meines damals besten Freundes. Ich weiß, dass er noch dort wohnt, das Haus von den Eltern übernommen hat. Michael … wir waren wie zusammengeschweißt. Ich muss den Hang hinunter, um die Ecke, an der Telefonzelle vorbei, die seltsamerweise immer noch gelb und einsam dort steht. Vielleicht die einzige gelbe Telefonzelle in Deutschland. Dann bin ich vor Michaels Haus und lasse den Blick in Ruhe umherschweifen. Die schmale Straße, hinter mir die Weide. Damals war die Wiese links vom Haus noch Obstwiese. Heute ist sie mit einer Art Wasserspeicher zugebaut. Halb im Hang verschwunden. Ich mache ein paar Schritte auf den Jägerzaun zu und klingle. Dort wo früher die Küche war, brennt Licht. Kurz ist der Schatten eines Gesichts zu sehen, dann öffnet jemand die Haustür. Ich gehe den schmalen Plattenweg bis zur Tür. Aus dem schemenhaften Rechteck schälen sich beim Näherkommen immer mehr bekannte Gesichtszüge.

»Heinrich?«
Ich grinse ihn an. »Ja, Ich bin’s.«
»Meine Güte! Komm rein! Es regnet doch.«
Der Boden immer noch Marmor aus dem Baumarkt. Sauber und glänzend. Ich schlüpfe aus den Schuhen und suche die alte Schuhmatte.
»Ach, stell sie einfach irgendwo hin.« Das tue ich und folge ihm in die Küche. Dieselbe Einrichtung wie in den Siebzigern. »Nimm Platz, setz dich.« Immerhin gibt es zwei quasi-moderne Stühle aus hellem Kiefernholz und den entsprechenden Tisch dazu. Völlig unpassend zu den kirschrot furnierten Einbauschränken.
»Hat sich nicht viel verändert hier.«
Er nimmt zwei Gläser aus einem Hängeschrank. »Hier in der Küche? Oder im Dorf?«
»Hier drin und im Dorf.«
»Saft oder lieber ein Kölsch?«
»Was für ein Kölsch haste denn auf Lager?«
»Reissdorf oder Erzquell.«
»Reissdorf. Ich trinke aus der Flasche. Mach dir keine Mühe mit ’nem Glas.«
Ein schmales Lächeln. Er greift zwei Flaschen aus dem Kühlschrank, in dem ich kaum etwas anderes entdecke als Bier, und stellt sie auf den Tisch. »Ja, weißt du, das mit dem Dorf, das ist eine seltsame Sache. Immer mehr Menschen ziehen weg von hier …«
»… und die Alten sterben. Ist ja wie überall auf dem Land«, beende ich den Satz.
Er öffnet das Bier, schmeißt die Kronkorken in den Müll und räumt den Öffner in die Schublade. »Ach, wenn es nur das wäre …«
»Prost, Michael!«
»Prost, Heinrich.«
Wir lassen es in die Kehlen laufen. Als ich absetze, trinkt Michael immer noch, zieht die Flasche leer wie ein Baby die Muttermilch.
»Junge, Junge, du hast es nicht verlernt, was?«
»Bleibt ja nicht viel, oder?«
Ich betrachte ihn. Wo ist der alte Michael? Die Gesichtszüge von damals, das ewig schelmische Grinsen, die blitzenden blauen Augen. Immer, aber auch wirklich immer, einen Streich der etwas fieseren Art in petto. Er hat recht. Es ist nicht viel übrig. Die bleiche Haut, das Fahle in seinen Pupillen, dann noch eine Neonröhre an der Decke. Wer hängt sich schon Neonlicht über den Küchentisch?
»Ich zieh wieder her, Michael. Hoch in die Endertstraße. Ich habe vorhin das Haus vom alten Förster gekauft. Was meinst du dazu?«
Er stellt die Flasche etwas zu laut auf den Tisch, als hätte ihn auf den letzten zehn Zentimetern die Kraft verlassen. Entsetzt starrt er mich an. »Was? Warum?«
»Wie warum?«
»Ja, aber … ich dachte du hättest ein Haus da unten im Süden … wo war das?«
»Tübingen.«
»Ja, genau. Hattest du nicht Familie?«
»Die Kinder sind aus dem Haus, ich bin seit drei Jahren geschieden, hab keine finanziellen Sorgen … mir geht es gut, Michael! Mensch, du Sauertopf! Man könnte ja grad meinen, du hättest eine Armee von Gespenstern gesehen. Ich dachte, du freust dich?«

Er schweigt und holt noch eine Flasche aus dem Kühlschrank. »Aber alle sind tot, Heinrich. Was willst du denn hier? Haben sie euch denn nicht damals rausgeekelt? Wegen irgend so einer Diebstahlkacke? Erinnerst du dich nicht mehr?«
»Das ist doch ein halbes Leben her, Mensch! Wer von den Idioten lebt denn noch?«
Er scheint zu überlegen. »Keiner mehr, glaube ich. Sind alle tot.«
»Na siehste! Ich bitte dich! Warum ewig die alten Wunden offen halten? Das interessiert heute keinen mehr. Wir beide hatten eine gute Zeit, oder?«
»Ja, die hatten wir wirklich.«
Ohne ersichtlichen Grund steht er auf und verlässt die Küche. Ich frage mich, ob das eine so gute Idee war, dieses Haus zu kaufen. Aber ich will mir diese Freiheit nicht einfach so verderben lassen. Vielleicht braucht er einfach Zeit. Ich nehme einen tiefen Schluck und folge ihm, durch den Flur, voll der alten Ölgemälde von röhrenden Hirschen links und rechts, so alt wie dieses Haus. Ich fahre mit dem Finger über einen Rahmen. Perfekt sauber. »Wo bist du denn?«
»Hier, im Wohnzimmer.«

Michael steht vor einem Foto. In einen goldenen Rahmen gefasst. Das Passepartout so abgrundtief hässlich, dass es mich an nordkoreanische Pop-Art erinnert. Auf dem Bild erkenne ich seine Eltern, Michaels große Schwester. Ein Jahr älter als er. Michael starrt drauf, dreht sich weg, als ich mich neben ihn stelle. »Hier hat sich absolut nichts verändert, in diesem Haus. Hast du nicht mal an neue Möbel gedacht? Wann hast du es denn übernommen?«
»Mama und Papa sind vor zwanzig Jahren schon gestorben. Stell dir vor, ein paar Tage nacheinander. Erst Mama, dann Papa … als wären sie aneinander gekettet gewesen.«
»Und wo lebt deine Schwester? Was ist mit ihr heute?«
»Sie ist ebenso tot. Genau wie alle anderen. Hat sich zwei Jahre vor dem Tod meiner Eltern umgebracht.«
»Scheiße …« Ich stelle mich neben ihn, unschlüssig, ob ich den Arm um seine Schulter legen soll. So wie früher, als es gegen die Belker-Brüder ging, auf den Straßen dort draußen, wir gegen sie. Michael und ich, im Schulterschluss. Aus einem Reflex heraus tue ich es und erschrecke, als mein Handgelenk seinen kalten Nacken berührt. Einen eiskalten Nacken. »Ich hab das nicht gewusst, mit deiner Schwester. Tut mir sehr leid. Ich mochte sie sehr gern. Warum hast du dich denn damals nicht gemeldet. Du wusstest doch, wo ich wohne.«
»Hast du dich je gemeldet?«, stellt er die Gegenfrage.
Ich senke den Kopf. »Nein. Natürlich nicht. Ich war einfach …«
»Komm, ich will dir was zeigen. Das bin ich dir schuldig, wenn du hierher ziehen möchtest.« Er windet sich unter meinem Arm, geht den Weg zur Kellertreppe. Ich folge ihm, hinunter in den Raum, in dem wir früher an unseren Fahrrädern schraubten. Bild auf Bild purzelt durch meine Erinnerung. Ein Knopfdruck auf einen Schalter an der Wand, und das Garagentor öffnet sich. Dann stehen wir im Hof, der tief in den Hang gegraben ist, direkt neben diesem Wasserspeicher. Am Ende des Hangeinschnittes gibt es eine Tür hinein. Michael geht darauf zu.
»Was machst du? Ist das nicht so ein Behälter für den Wasserdruck?«
»Nein, nein, das habe ich mal gebaut als Party-Keller. Irgendwann habe ich es dann umfunktioniert.« Er öffnete eine Art Werkstatttür. Dahinter ein kleiner Vorraum und eine weitere, sehr große Tür aus Edelstahl, fast ein kleines Tor, wie man sie von großen Kühlräumen kennt.

»Ganz schöner Aufwand, für einen Partykeller.«
»Schließ die Tür hinter dir«, bittet er. Als die Außentür ins Schloss fällt, geht eine Lampe an und es klackt in der Edelstahlkonstruktion. Michael dreht an einem Flügelhebel und öffnet den Partykeller.
»Komm, Heinrich.«
Der Boden ist ausgelegt mit einem violetten Kunstfaserteppich, die Wände sind gelb gestrichen. Ich schüttle den Kopf. Geschmacksverirrungen gibt es viele auf dieser Welt, aber das hier ist lächerlich. Ein kahler Flur, gelb, mit violettem Teppich. Und einer grünlich leuchtenden Neonröhre. Michael dreht sich um und lächelt. Mir stockt der Atem. Dann klackt es erneut. Ich weiß, dass das Edelstahltor zu ist, da muss ich mich nicht mal umdrehen. Was mich jedoch frösteln lässt, ist das Spiel der Farben in Michaels eh schon bleichem Gesicht.
»Ich hab das für dich getan. Weißt du das?«
»Für mich? Was denn?«
»Komm.«
Er marschiert richtiggehend den Flur entlang, zwei Meter etwa, biegt nach rechts ums Eck. Ich hinterher. Allerdings nur, weil ich zehn Jahre meines Lebens fast ausschließlich mit ihm verbracht habe und das Vertrauen in meiner Erinnerung steckt.

Als ich um die Ecke komme, stolpere ich über einen Kopf. Hastig schaue ich zu Boden und meine, es sei ein Modellkopf der Friseur-Innung, aber bei näherem Hinsehen, als ich mich nach unten beuge, erkenne ich den damaligen Ortsbürgermeister. Ich weiß nicht genau, ob ich schreien soll oder einfach nur weiter gehen. Dann schiebt sich eine Zunge zwischen den blassblauen Lippen des Bürgermeisters heraus, leckt über den Teppich. Er zieht die Luft ein, als würde gleich Spucke aus dem Mund laufen. Wie magnetisch angezogen, strecke ich die Hand aus, immer weiter, meine Finger kurz vor seiner Schläfe, knapp vor seinem Ohr, den kurzen Halsstumpf hinab. Fasziniert mustere ich den absolut glatten Schnitt, wie mit Plexiglas abgedeckt, einen Halswirbel, die beiden Schlagadern, senke die Finger weiter. Seine beiden Lider blinzeln und er röchelt. Ich glaube, aus einem Traum zu erwachen und komme schreiend hoch. Das Adrenalin beherrscht meinen Körper wie Idi Amin seine Totschläger.
»Michael!«, rufe ich in den Flur. Keine Antwort. Ich renne zum Edelstahltor. Verschlossen. Nirgendwo ein Riegel, kein Knopf. Nichts. Mir bleibt nur der Weg nach innen. Zu Michael. Er muss mich rauslassen. Also wieder rein, um den Kopf herum, die leckende Zunge. Ich spähe nach rechts, den Gang entlang, zahlreiche türlose Öffnungen in Räume und der Gang ohne ein erkennbares Ende. »Michael! Verdammt! Wo bist du?« Nichts. Mein Herz pumpt wie ein wilder Stier. Die erste Öffnung rechts. Nur ein leerer Raum. Links, nichts, leer. Als ich den Kopf aus dem Raum zurückziehe, sehe ich im Augenwinkel jemand stehen, kleiner als ich. Für eine Sekunde schließe ich die Augen und will beten, lasse es aber bleiben. Langsam umdrehen. Ein Gerippe, Knochen, mit lederner Haut überzogen, vertrocknetes Fleisch. Tief im Schädel sitzende Augen, die still nach Hilfe schreien, nach Erlösung. Dann kippte es, wie von der Axt gefällt, in den Flur und ich sehe, dass jemand das obere Drittel des Schädels sauber abgetrennt hat. Eine geleeartige Flüssigkeit läuft raus. »Michael!«, schreie ich so laut ich vermag.

Nichts. Weiter, Heinrich! Du musst weiter! Ich mache einen großen Schritt über dieses Etwas, spähe vorsichtig in die Räume links und rechts, nichts! Ein gottverdammtes Nichts. Wie ein Stachel schiebt sich eine Erkenntnis in mein Bewusstsein. Irritiert drehe ich mich um. Der Gang! Er zweigt nach rechts, in den Hügel hinein. Nicht nach links, zu dem Ausgang, den man von der Straße sieht. Wie weit bin ich schon gelaufen? Ich renne zurück, aber das Ende kommt nicht. Öffnungen, linke Wand, rechte Wand. Wo war das Gerippe? Stattdessen kahler Betonboden, weiße Wände. Eine Unmenge spitzer Gegenstände liegen auf dem Boden verteilt. Ich bücke mich, nehme eines in die Hand. Haare? Mit den Wurzeln dran. Mit Haarspray stabilisierte Haare samt Wurzeln. Derjenige muss wie ein Igel ausgesehen haben. Und es sind wirklich zahllose dieser Haarstacheln. Langsam folge ich der Haarspur und finde, was ich befürchtet habe, aber es ist anders, als erwartet.

In dem hellen Raum fällt mein Blick sofort auf den Tisch. Zwei Stühle, jeweils an den Stirnseiten, auf dem hinteren Michaels Schwester. Ich erkenne sie sofort, und auch dass sie schon seit sehr langer Zeit tot ist. Trotzdem sieht sie mich mit leeren Augenhöhlen an, die jeder Bewegung folgen. Ich setze mich ihr gegenüber. Ihre Kopfhaut eine Wüstenei aus herausgestochenen Haarbündeln. »Hallo Andrea«, sage ich. »Lange nicht mehr gesehen.« Die blassen Lippen verziehen sich ruckartig zu einer gewellten Form. Die hellen Nägel auf den marmorierten Fingern zittern, als kämen die Worte einfach nicht aus ihr heraus. »Ich habe Michael aus den Augen verloren. Hast du ihn gesehen?« Kann man in leeren Augenhöhlen überhaupt eine Reaktion erkennen? Für einen Moment habe ich gedacht, sie würden weinen oder leuchten. In dem Blau, das einst in ihnen lebte. »Ich kann immer noch sehen, wie schön du damals warst. Und wie eifersüchtig dein Bruder über dich gewacht hat. Erinnerst du dich?«
Andreas Arm streckt sich, langsam, die kalte Haut bricht an den Gelenken. Es klingt wie sanft zerreißendes Papier, mehr und mehr davon, je weiter sich der Arm streckt, immerzu mir entgegen. »Erinnerst du dich an den Brief, den du mir geschrieben hast? Der in unserem Briefkasten lag? Kurz bevor ich von hier weggezogen bin? An diese Zeilen, voll mit Liebe und heißem Blut geschrieben? Ich wusste nicht, dass du so tief und ohne Erlösung in mich verliebt warst. Ich ahnte, er könnte von dir sein. Aber nicht mal einen Namen hast du drunter geschrieben oder meinen Namen erwähnt. Warum? Hast du dich nicht getraut? Nur an deiner Schrift hab ich gesehen, dass er von dir ist.«

Ihr Arm ist vollkommen gestreckt. Die Hand senkt sich auf den Tisch. Schnell fange ich sie auf. Ein Reflex. Als ich sie berühre, zerfällt sie zu Staub, dann der Unterarm, dann der Körper. Nichts bleibt von ihr. Nur Staub.
»Nicht nur sie erinnert sich an diesen Brief.« Eis in meinen Knochen. Ruckartig komme ich hoch gehe auf die andere Tischseite, hinter den Hügel aus Staub, der einmal Andrea war. Michael! Die Stimme würde selbst dem sibirischen Winter zur Ehre gereichen. »Auch ich erinnere mich an diesen Brief. Du bist weg. Und hast ihr den Brief wieder zurückgeschickt. Nicht wahr? Und du hattest keine Ahnung, was du damit ausgelöst hast. Alle hast du verlassen. Alle, denen du etwas bedeutet hast. Weißt du, was danach hier übrig blieb?«
»Hier war schon zuvor nichts, Michael. Nie. Nicht in all den Jahren.« Er kommt an den Tisch, wischte den Staub mit einer Handbewegung von der Sitzfläche und setzt sich. »Komm, Heinrich. Setz dich.« Ich tue ihm den Gefallen.
»Hier hast du nicht zufällig was zu trinken, oder?« Er reagiert nicht »Was ist das alles für krankes Zeug hier drin?«
»Deine Zukunft.«
»Meine Zukunft? Was redest du für einen Mist?« Aus dem Dunkel des Flurs hinter ihm dringt ein Schaben und Wetzen herein.
»Weißt du, was meine Schwester getan hat, nachdem sie diesen Brief zurück bekam?«
»Nein. Sag es mir.«
»Ist von uns gegangen«, sagt er mit leiser Kälte. »Schöner Spruch auf der Traueranzeige.« Das Schaben wird lauter und ich versuche an ihm vorbei etwas zu entdecken.
»Du meinst …«
»Das meine ich. Ist von uns gegangen. Weißt du, warum ihr abgehauen seid? Weil dein Vater ein feiges Arschloch war.« Er haut mit der Faust auf den Tisch. Zwei Finger brechen ab, die er mit der anderen Hand nimmt und in die Ecke wirft.
»Willst du damit sagen, dass mein Vater … dass er …«
»Meine Schwester war nicht in dich verliebt, du Trottel. Sondern in deinen Vater. War ja auch ein verdammt hübscher Kerl, und charmant ohne Ende.«
Ich starre ihn an. Dann muss ich aufstehen. Nichts hält mich auf dem Stuhl. Dabei entdecke ich die Ursache der schabenden Geräusche. Der Pfarrer. Ohne Arme, einbeinig, schrappt an der Wand entlang, auf der Brust ein festgenageltes Holzkreuz. Dieses Bild nimmt mir allen Willen, hochkochendes Aufbegehren gegen diese Lüge.
»Und der hier?« Ich zeige auf den Pfarrer. »Was hat der damit zu tun?«
»Setz dich, Heinrich.« Ich setze mich. Meine Unterschenkel beginnen zu zittern. »Sie hat ihm so viele Briefe geschrieben, und einige hat er im Suff herumgezeigt. Dem Pfarrer, dem Bürgermeister, der Stammtischclique. Wenn sie mit uns auch mal, du weißt schon, sagen wir nichts. Ganz schlau die alten Säcke. Das wurde ihm zum Verhängnis. Ihn haben sie erpresst, er verpisst sich. Das wurde meiner Schwester zum Verhängnis. Meiner ganzen Familie. Du, mein einstmals bester Freund.«
Er schweigt. Der Pfarrer ist direkt neben uns an der Wand, den Blick irgendwohin gerichtet. Michael steht auf und treibt seine dreifingrige Hand mitsamt Holzkreuz durch seine Brust. Er fällt wie ein nasser Sack.
»Und was willst du jetzt von mir? Dass ich hier in deiner Privathölle bleibe?«
Er sieht mich an, kommt ganz dicht heran. Es riecht wie Erbrochenes. »Leb damit«, sagt er leise und schlägt mir den Rest seines Armes gegen die Schläfe. Ich versinke in Dunkelheit. Als ich wieder erwache, ist feiner Nieselregen auf meinem Gesicht. Duft von Sauerampfer in der Nase. Es fällt mir schwer, die Augen zu öffnen. Als ich es tue, sehe ich grauen Himmel. So gut es geht, drehe ich den Kopf. Links ist Michaels Haus, rechts das der alten Frau Dacher, die damals schon achtzig war und jetzt seltsamerweise ihre Hecke schneidet. Ruckartig richte ich den Oberkörper auf und stelle überrascht fest, dass Michaels Bunker weg ist. Verschwunden. Kein Partykeller. Nicht mal die kleinste Spur einer Baumaßnahme oder einer Ruine. Einfach nur eine Obstwiese. Wie früher. Alles ist still in dieser Welt. Dann sehe ich Andrea am Fenster. Jung. Schön. Begehrenswert. Sie schaut her. In mir spricht eine leise Stimme. Ich denke an die Menschen meiner Jugend und empfinde Hass. Wie ich sie hasse. Sogar Andrea. Und Michael. Wut kocht über, wenn ich an Vater denke. Die Welt hat sich verschoben und ich stecke fest. Der Nieselregen wird schwer und drückt mich wieder zurück zwischen den Sauerampfer.

Diese Geschichte

Entstanden im Jahr 2013 und auch wieder aus einem Traum. Erstaunlich, was einem alles so durch den Kopf spukt, wenn das Hirn sich mal unbeobachtet fühlt. Wochen vorher habe ich eine Kurzgeschichte von Poe gelesen, könnten also Versatzstücke drin sein, denn ein bisschen Horror ist der Text schon. Ich bin kein Fan von Horror- oder Fantasyfilmen und -büchern. Na jedenfalls wisst Ihr ja: Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder verstorbenen Personen ist rein zufällig. Ich habe den Text überarbeitet. Vor allem in die Gegenwart geholt. Ich finde, der Kontakt zu den Leser:Innen ist auf diese Art intensiver.

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