Blut, Asbach und andere Normalitäten

KURZGESCHICHTE | Beim Töten hatte ich meine Ruhe. Doch nun stecken sie mich in die Ausschlachtung. Töten ist kein sauberes Geschäft, aber ich war dort alleine in der Box, abgetrennt durch eine Edelstahlkippe vom Rest des Fließbandes. Ich hatte es nur mit Rindern, Kühen und Bullen zu tun, die ihren letzten Gang antraten; manchmal seelenruhig, manchmal panisch. Jetzt war ich mitten im Schlachtbetrieb. Von morgens sechs Uhr bis abends um sechs, zwölf Stunden rot-weißes Fleisch vor meiner Nase.
An irgendeinem der vielen Dienstage gehe ich in die Umkleide, ziehe den weißen Overall an, setze eine weiße Mütze auf den Kopf, schlüpfe in wunderbare Gummistiefel und stapfe über den Hof zur Schlachthalle. An der Glastür stoppe ich kurz, blicke ins Glas und stelle fest, dass ich wie ein Idiot aussehe. Aber egal, ab in den Vorraum. Dort hängen zwei Schleifböcke an der Wand. Die Metzger stehen Schlange. Jeder will seine Messer schärfen. Ich murmele ein Guten Morgen und erreiche die gekachelte Schlachthalle. Der Meister sieht mich und weist mir den Arbeitsplatz zu. Ich soll bis zur Mittagspause die Rinderhälften von den großen Schlachthaken auf Eurohaken umhängen. Um das bewerkstelligen zu können, fahre ich mit einem pneumatischen Lift, den man per Fußpedal bedient, in luftige Höhen; in einem Gitterkorb stehend. Direkt vor mir ist die Umhängung an der Decke montiert. Ich lehne mich an den Gitterkorb und warte auf die halbierten Teile.

Fünf Minuten später geht es los. Nach der Tötung werden sie jeweils an beiden Hinterläufen auf Schlachthaken gehängt, hochgezogen und abgestochen. Der Kopfschlächter drückt ihnen seine Klinge in den Hals, schneidet von links nach rechts, mustert sein Werk jedes Mal und betätigt den Knopf. Danach werden die vier Läufe mit der Säge gekürzt, die Haut geritzt, angekettet, und mit einer Motortrommel vom Körper gezogen. Den Kopf trennt man ab und übergibt ihn dem Feinmechaniker, der die Hörner abflext, die Augen heraustrennt, die Kopfhaut abzieht, das ganze Paket mit dem Unterkiefer an einen Haken hängt und schlussendlich das Band freigibt. Der restliche Körper durchläuft inzwischen die Öffnung. Ein Metzger schneidet den Wanst auf, von oben nach unten, eine Ladeschaufel fährt automatisch drunter; dort hinein fallen die Innereien, werden nach hinten befördert und von einem kleinen Italiener nach zwei Kriterien zerlegt – Sauerei und Essbares. Dinge wie Pansen und so weiter werden gesammelt und zur Weiterverarbeitung geleitet. Der große Körper wird zersägt, die Nieren entfernt, Fett abgeschnitten und in eine Bodenöffnung geworfen. Der daueralkoholisierte Tierarzt drückt in einer mechanischen Geste den großen blauen Stempel aufs Fleisch, beziffert es, klebt Strichcodezettel drauf und lässt das Band weiterlaufen. Nun kommen diese riesigen Fleischstücke in eine große Dusche.

Jetzt bin ich an der Reihe. Die Hälften legen sich in die Kurve, baumeln hin und her, werden von einer Sperre gestoppt und ich hole einen Eurohaken, lege ihn in die Kranaufhängung und gebe per Knopfdruck die Sperre frei. Es zischt, das Fleisch kommt angeschossen, ich quetsche den Eurohaken hinein, drücke den Aufwärtsknopf der Fernbedienung und versuche den vorigen Haken rauszuwursteln. Dabei wird schnell klar, dass das Gewicht der Rinderhälften das Herausdrehen des großen Hakens zu einer gefährlichen Arbeit macht. Eine Sekunde nicht aufgepasst, schon hat man sich die Hand gequetscht oder ein Finger ist ganz ab; und die beiden Haken verklemmen sich sehr oft gegeneinander unter dem Gewicht. Dann muss ich die Hälfte mit der rechten Hand drehen, während die linke die Aufhängung hält und mein linker Fuß das Pedal bedient. Ich reiße an diesem großen Haken, drücke ihn nach vorne, nach hinten, nach oben und nach unten. Alles ist glitschig und lässt sich kaum packen, der Haken flutscht endlich raus, rutscht manches Mal aus der Hand und fällt auf den Boden.

Ich gewöhne mir das Singen an. Lautes Singen. Denn der Lärm in der Halle ist unbeschreiblich, dazu der Dampf, der sich innerhalb von einer halben Stunde bildet. Das Fleisch ist noch warm, draußen herrscht Winter, und so sammelt sich der stinkende Nebel unter dem Dach – wo ich arbeite. Ich lasse das Fleischteil nach oben fahren, hänge es an die Rohrbahn die zum Kühllager führt und muss nun die Aufhängung lösen. Leider sind manchmal die Knochen im Weg, also dresche ich auf die Knochen ein, drücke, fluche und schreie, bis sie nachgeben. Doch zum Verschnaufen komme ich nicht. An der rechten Rohrbahn bildet sich ein Stau. Ich will schneller werden, aber merke bald, dass das auf Kosten der Sicherheit geht. Nach einer Stunde setzt die Hakenförderung an der linken Bahn aus. Ich muss also jedem Rinderteil einen großen Schubs geben, damit es die nachfolgende Transportkette erreicht. Das kostet Kraft und Zeit. Ich singe noch lauter.

Mit der Zeit nimmt der Nebel so zu, dass ich auch auf dem Meer schippern könnte, ohne es zu merken. Ich vernehme Schreie, Flüche und unbekannte Geräusche. Geisterbahnstimmen in meinen Ohren. Die Quellen sind nicht auszumachen. Die Welt besteht nur noch aus Gestank, Nebel, Schreien, Förderlärm und mir – so hat es den Anschein. Ich denke an Pause. Ja, eine schöne Pause, einen Becher Kaffee in der Hand, eine Zigarette im Mund und Ruhe, frische Luft. Das baut mich auf. Ich gewöhne mir an, den Hälften, die so baumelnd auf mich zukommen, Namen zu geben. Ich begrüße Karl oder Fritz oder Arschloch. Ich wünsche ihnen Glück für den weiteren Verlauf ihrer Zerlegung. Na ja, es hat Vorteile. Besser ist es, sie zu beschimpfen. Sie antworten nicht. Zwischendurch singe ich wieder ein paar Lieder. Wunderbar, es gibt schlimmere Arbeiten. Eine Sirene holt mich aus den Gedanken. Pause.

Ich sehe zur rechten Rohrbahn. Dort hängen noch sieben Hälften. Die müssen noch weg in den Kühlraum. Kurze Berechnung. Zehn Minuten werde ich dafür benötigen. Die Pause geht fünfzehn Minuten. Mir bleiben also etwa acht Minuten zur Erholung, denn die Metzger sind schnell, sie werden nach fünfzehn Minuten mit ihrer Pause fertig sein und sofort wieder loslegen. Ich reiße mich am Riemen und schaffe die Dinger in sieben Minuten, fahre nach unten, ziehe die Handschuhe aus, wische übers Gesicht und steuere auf den Kaffeeautomaten zu.
Mit dem Kaffeebecher draußen angekommen, zünde ich eine Zigarette an, ziehe tief durch und genieße jede Sekunde. Früher hätte ich nie gedacht, dass man den wenigen Minuten eine solche Ruhe abgewinnen kann. Doch im Laufe der Jahre lernt man instinktiv, die kurze Zeit, die sie einem gewähren, zu genießen. Der Feinmechaniker stellt sich zu mir. »Was machst du denn jetzt?«, fragt er neugierig.
»Ich arbeite an der Umhängung.«
»Ach du großer Gott«, ist seine Reaktion.
»Warum ‚ach du großer Gott‘?«
»Scheißarbeit. Im Moment machen wir 35 die Stunde. Wart‘s mal ab, bis das neue Band fertig ist, dann machen wir 75. Dann kommst du nicht mehr nach. Wenn dann mal die ersten zehn auf dem Boden liegen, wirst du wissen, was ich meine.«
»Davon hat mir vorher keiner was gesagt.«
»Das sagen sie einem nie.«
Na, prima, denke ich, trinke den Kaffee leer und weiter geht’s. Die Metzger stehen wieder vor den Schleifböcken. Ich gehe schnurstracks aufs Klo. Es ist direkt neben der Kopfschlachtung, dunkelgrün gekachelt. Vor jedem Pissoir drückt sich eine große Blutlache auf dem Boden rum. Das kommt von den Kopfschlächtern, die hier drei Minuten pinkeln und denen dabei das Blut von ihrer Gummischürze und den Stiefeln rinnt. Man steht in roten Lachen und pinkelt gelben Urin in das weiße Becken, das an einer dunkelgrünen Wand hängt. Ein wahrhaft expressionistischer Eindruck. Dazu gesellt sich der widerliche Gestank, eine Kombination aus Pisse, Blut und Schweiß. Ich schüttele ab und gehe wieder in die Halle.

Der Lärm nimmt zu, der nächste Schwung Tiere kommt. Ich erklimme das Podest, fahre nach oben und richte die kleinen Haken in Griffweite zurecht. Da sind sie wieder. Karl, Otto, Hans, Fritz und Arschloch. Mein linker Handrücken ist inzwischen infolge mehrerer leichter Quetschungen ziemlich angeschwollen. Das rechte Handgelenk liegt in den letzten Zügen, denn ich habe an die hundert Hälften einhändig gedreht. Aber es geht weiter. Sehr schnell füllt sich der Raum unter der Decke mit Nebel und Gestank, dieselben Schreie, Flüche. Einmal, als ich kurz über die Maschine nach hinten blicke, sehe ich durch den Nebel den kleinen Italiener, der die Innereien sondiert, wie er ein wabbeliges Gelumpe nach einem Kollegen wirft. Es trifft nicht, landet auf dem Boden und wackelt noch zehn Sekunden vor sich hin.

Knopf betätigen, es zischt, ich hänge um, sondiere die Quetschung, versuche die Aufhängung anders zu halten und erwarte sehnsüchtig die Mittagspause. Ich frage mich immer wieder, ob ich nicht gehen sollte. Man weiß ja, was man sich wert ist, oder? Sie wollen mich fertigmachen, dessen bin ich mir sicher. Der Meister blickt ab und an zu mir hoch, legt einen unbestimmten Blick in seine Augen und geht weiter. Ich lächle und sage, dass alles klar wäre. Und doch geht mir dieser Gedanke nicht aus dem Kopf. Wie viele Idioten gibt es, die irgendeine Arbeit machen und nicht wissen, wofür?

Nach einer langen Zeit kommt die Mittagspause. Es ist wieder derselbe Ärger. Während die anderen schon Kaffee schlürfen, leere ich die Bahn und es fehlen wieder an die zehn Minuten. Ich besorge dieses Mal zwei Becher Espresso, gehe in den Pausenraum, setze mich zwischen die Metzger und schließe die Augen. Es ist angenehm, dem Reden der Kollegen zuzuhören. Zwanzig Mann in meiner Gruppe, davon haben achtzehn keinen Führerschein mehr. Ihre Hemden, ihre Hosen, ihre Unterarme, das Gesicht – alles ist blutverschmiert. Die Pause dauert eine halbe Stunde. In dieser Zeit leeren die Jungs anderthalb Kästen Bier. Etwas genial Neues sehe ich auch hier. In meinem bisherigen Arbeitsleben habe schon eine Menge individuelle, wundervolle Problemlösungen gesehen, diese hier ist Oberliga. Die Metzger haben alle Gummischürzen an, die mehr oder weniger zu groß sind. Beim Motorsägenmann ist die Schürze, aufgrund körperlicher Masse, zu eng, sitzt sehr knapp auf der Brust, und in diese Enge klemmt er sich eine Flasche Asbach. Er schraubt den Verschluss ab, steckt einen Gummischlauch in die Flasche, nimmt ihn in den Mund, saugt daran und geht an die Arbeit. Er hängt sozusagen an der Infusion. Ich finde das sehr praktisch – Not machte erfinderisch.

Der Meister kommt gegen zwei Uhr und teilt mich einer neuen Aufgabe zu. Die Umhängung übernimmt ein Rumäne, denn der ekelt sich vor Innereien. Man trägt mir auf, in der ganzen Halle die verwertbaren Kutteln einzusammeln, an Gitterrahmen zu hängen, dann die Gitterrahmen mit dem Fahrstuhl in die Weiterverarbeitung zu verfrachten. Kutteln machen mir nichts aus, die Arbeit ist wesentlich einfacher und bequemer. Ich stelle jedem Ausschlacht-Team leere Kisten vor die Füße und nehme die vollen mit. Den Inhalt spieße ich auf die mit Haken bewehrten Edelstahlgitter und befördere sie in den ersten Stock. Zwischendurch besuche ich regelmäßig den Kopfschlächter, hole eine Kiste Rinderaugen und bringe sie in den Keller. Ein seltsamer Anblick ist das. Eine Kiste voller Augäpfel. An die zweihundert, ordentlich schwer und sie glotzen in alle Richtungen. Der Kopfschlächter ist ein Scherzkeks. Er steht vor dem Plastikbrett, auf dem der Kopf liegt, an dem er gerade herumschneidet, und inmitten einer dicken Blutschicht thront sein Kaffeebecher. Mit Zigarette im Mundwinkel, erklärt er mir, dass ich es am schönsten hätte. Einmal komme ich hin und er ist gerade dabei mit absoluter Geschicklichkeit drei Augäpfel durch die Luft zu jonglieren.
»Prima«, sage ich. »Glatt ne Nummer für den Zirkus.«
»Das übe ich schon zehn Jahre. Ist gar nicht einfach mit dem Gelumpe.«
»Glaub‘ ich dir.«
»Willst du auch mal?«
»Nee, das kann ich eh nicht, hab’s schon mit Mandarinen probiert.«
»Mit Mandarinen und so Zeug kann ich das auch nicht. Komisch, oder? Na ja, bin halt Augenspezialist.«
Er lacht und lacht immer noch, als ich mich umdrehe und das Weite suche. Ich bringe die Kiste in den Keller, komme wieder hoch und trabe zur Ausschlachtung hinüber. Zwei Kisten mit Nieren warten dort bereits auf ihre Abholung. Nieren sind süße, kleine Dinger. Gefurchtes, dunkelrotes Fleisch. Die einzelnen Kammern sehr glatt, lassen sich gut greifen. Gerade als ich die eine Kiste hochnehme, höre ich es hinter mir zischen. Ich stehe unter den zwei Ausschlachtbändern. Eines für die Lebern, Euter und ähnliches Zeug. Das andere transportiert Köpfe mit angehängter Speise- und Luftröhre und den beiden Lungenflügeln. Gerade bin ich im Begriff, mich umzudrehen, als eine kiloschwere Leber klatschend und warm meine rechte Schläfe trifft. Ich beschließe cool zu bleiben. Ein weises Lächeln auf den Lippen, wische ich den Schmodder aus dem Gesicht. Die Augen klemme ich zu, und als ich sie wieder öffne, zischt es schon wieder. Ich bücke mich, doch es ist das andere Band. Ein Kopf mit zwei Lungen kommt im Tiefflug – es klatscht erneut. Aus der Speiseröhre tropft Blut, der Kopf ist mit altem Fett überzogen, das mir nun in gelblichen Schlieren im Haar hängt.

Das war Absicht. Ich höre schrilles Lachen, drehe mich und sehe zwei Frauen, zwei Metzgerinnen. Sie biegen sich vor Lachen. Gute Miene zum schlechten Spiel, schnappe die Kisten und stapfe weg. Vor den Gitterrahmen stelle ich sie ab und verschwinde im Klo, um mich zu waschen, denn alles stinkt. Auf dem Weg dorthin muss ich unter den gesammelten Haken durch. Nichtsahnend bleibe ich kurz stehen, um Luft zu holen, dem Gestank entfliehen. Genau in diesem Moment löst sich oben ein Haken, lautlos. Es kracht auf meinem Kopf. Rote, grüne und gelbe Lichtflecken tanzen vor meinen Augen, ich schwanke, lehne an die Wand und rutsche daran herab. Schwindel kommt. Ich habe das Gefühl, jemand will mich umbringen. Der Haken liegt auf dem Boden, Standardhaken, drei Kilo Edelstahl. Der Meister kommt und fragt, was los ist, entdeckt Blut auf meinem Kopf und murmelt ein Na so was. Mit den Händen stütze ich mich ab, will aufstehen, aber es geht nicht. Der Boden ist voll Blut. Welches ist meines?, denke ich, blicke den Meister an und beschließe, den Rest des Tages frei zu nehmen.

Diese Geschichte

Geschrieben 1993. Arbeiten im EU-Schlachthof. Kann man das? Nein, nicht wirklich. Aber um zu wissen, wie es dort abläuft, was mit den Menschen dort drin ist, muss man über einen Schatten springen. Schon damals gab es Rumänen für die absoluten Drecksarbeiten. Und Ihr wisst ja: Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder verstorbenen Personen ist rein zufällig. Inzwischen habe ich den Text mehrfach überarbeitet. Vor allem in die Gegenwart geholt. Ich finde, der Kontakt zu den Leser:Innen ist auf diese Art intensiver.

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