KURZGESCHICHTE | Sie wohnt in der linken Einliegerwohnung einer Wohnanlage in einem kleinen württembergischen Ort, umgeben von bewaldeten Hügeln. Ein einsamer Ort. Ich habe versprochen, sie auf der Heimreise zu besuchen. Es ist Ostersonntag, leicht verregnet. Mittags bin ich am Bodensee losgefahren, wo ich die Feiertage verbrachte. Jetzt ist es halb neun abends und ich stehe vor ihrer Wohnung. Sie bemerkt mein Erscheinen durch die Wohnzimmerscheibe, lächelt und öffnet die Tür. So leise wie dieser Ort, ist die Begrüßung.
»Hallo, schön dich zu sehen«, haucht sie, hebt den Kopf für einen Kuss. Ich berühre vorsichtig die weichen Lippen, mustere ihre harten Gesichtszüge, die tiefblauen Augen. Sie hat sich nicht verändert. Ich will eintreten, aber sie bremst mich.
»Zieh bitte die Schuhe aus. Der Vermieter hat hier einen teuren Teppich verlegen lassen. Das gibt Ärger, wenn da Flecken drauf kommen.«
Mit den Schuhspitzen ziehe ich die Stiefel von den Füßen. »Wohin damit?« Sie nimmt mir die Boots ab und stellt sie ins Bad.
»Wie geht es dir?«, will ich wissen.
»Scheiße. Ich könnte kotzen.«
»Wegen was?«
»Wegen allem. Frag nicht, komm rein! Es läuft gerade James Bond.«
Wir durchqueren die kleine Diele, kommen ins Wohnzimmer. Ich blicke mich um. Sie wohnt erst seit kurzem hier. Die neue Arbeitsstelle ist ein Ort weiter. Dort ist sie Exportmanagerin, prädestiniert für diesen Job, beherrscht Englisch, Französisch, Spanisch, hochintelligent, nicht auf den Mund gefallen und geradlinig wie sonst kaum eine Person, die ich kenne. Ein Ausbund an Menschlichkeit. Und doch angezählt, verwundet, unheilbar. An der richtigen Stelle getroffen, schnellt sie wie ein angeschossener Löwe aus der Ecke, stößt dem Gegner mit wenigen Sätzen das Messer in die Kehle. Wütend und voller Trauer verlässt sie das Schlachtfeld, erholt sich – angelehnt an einen Baum – vom Sieg. In ihr ist eisige Verbitterung.
»Wer spielt den James Bond?«
»Roger Moore.«
Ich suche einen Stuhl, finde keinen richtigen und lasse mich auf dem Boden nieder. »Ich finde Timothy Dalton wesentlich besser. Ist Darsteller von Shakespeare-Helden in England. Das merkt man schon. Der hat einfach Klasse. Der lebt, wenn er spielt.«
»Ja? Na ja, kenn’ ich nicht. Wie heißt denn der neue Film?«
»Lizenz zum Töten.«
»Lizenz zum Töten? Die könnte ich auch brauchen.«
Sie verlässt das Wohnzimmer und ich schaue Bond. Ein reicher Brite gibt eine Party. Für seine Gäste hat er ein paar Häschen organisiert. Die haben nichts anderes zu tun, als den Hormonhaushalt bei Geschäftsabschlüssen durcheinanderzubringen. Und James schleicht sich von einem Arschloch zum anderen, schüttet sich Martinis rein und gibt feinsinnige Sätze zum Besten.
Sie kommt aus der Küche mit einem Tablett, zwei Gläsern sowie einer Flasche spanischem Sekt, setzt sich neben mich auf den Boden und schenkt uns ein.
»Wie geht’s dir?«, fragt sie und der Sekt schäumt über den Glasrand.
»Tja, wie soll’s mir gehen? Ich hab ja was gegen diese Frage. Das weißt du. Ich müsste jedes Mal antworten, dass es mir den Umständen entsprechend geht. Und die Umstände sind neblig. Dazu habe ich keine Lust.«
»Entschuldigung. Es war aber eine ernstgemeinte Frage. Bei mir kannst du ja eine Ausnahme machen, oder?«
Ich streiche mit einer Hand durch ihre Haare. »Tut mir leid. Vergiss es. Ich fühle mich einsam. Eine Steigerung gibt es nicht dafür.«
»Einsam, ja. Das ist seltsam, oder? Zwei Einsame nebeneinander, so nah wie wir es gerade sind und doch wird es nicht besser.«
Ich lasse die Antwort weg. Bevor die Sehnsucht die Kehle erreicht, schnappen wir die Gläser, stoßen an und bringen sie zum Klingen.
»Auf gestern«, prostet sie mir zu.
»Auf alles, was uns trennt und verbindet.«
Der Sekt rieselt unsere Kehlen hinunter und entfaltet seine Wirkung. Sie legt sich zurecht, legt den Kopf auf meinen Oberschenkel ab. Zögernd, dann getrieben von einem inneren Drang, nehme ich den zierlichen Kopf in meine Hände und beginne ihn zu streicheln, während unsere Blicke James Bond folgen, der gerade einen Gegner in feiner englischer Manier zu Boden streckt. So vergeht die Zeit im Flug, so hätte sogar ein ganzes Leben vergehen können. Sitzen, spüren. Aber das geschieht nirgendwo und niemals. Szene auf Szene ergibt der Film zumindest einen geringen Sinn, eine fast gelungene Ablenkung. Als Bond siegt, fühle ich ein leichtes Beben in ihrem Körper. Sie beginnt zu weinen, zwischen meinen Händen, auf meinem Oberschenkel liegend. Ich muss auf ihre Worte zu den Tränen warten. Das will sie so.
»Alles ist unwirklich«, kommt es leise aus ihrem Mund, stehen für einige Sekunden im Raum, zwischen uns, zerschneiden das flimmernde Fernsehbild, das mit spärlich wechselnden Farben ihr Wohnzimmer flackernd erhellt. Die Tränen werden mehr. Ich wage nicht zu reden. »Alles so unwirklich. Bin ich vor der Haustür, kriege ich das Leben in den Griff, aber niemals mich. Ich bin wie Rauch im Wind.« Sie schweigt erneut für einen Moment. Schnieft einige Male. »Und dieser verfluchte Pfarrer, der vor kurzem da war, mich überfallen hat mit seinem Gelalle von Selbstverwirklichung, mir mit seinen Rotzfahnen die ganze Bude versaut hat. Ich wäre doch ein Idealbild einer Frau, sagt er. Übernachtet hat er bei mir. In meinem Bett. Ich habe mich geekelt, glaub mir. Mich vor dieser möglichen Berührung angewidert weggedreht. Niemals hätte er mich berühren dürfen. Und natürlich hatte er am nächsten Tag keine Kohle mehr für den Zug. Ich hab’s ihm halt gegeben. Ich mach so was immer wieder. Immer wieder falle ich darauf herein, Männer, die Liebe suchen und keine geben können …«
Sie liegt vor mir wie ein Spiegel, in dem ich mich sehe. Aus dem Schützengraben meines Lebens spähe ich zu ihr hinüber. Ich muss mich zusammenreißen, um nicht ebenfalls zu weinen.
»Und dann noch Robert. 46 ist er jetzt geworden. Ich dachte, dass es dieses Mal eine festere Beziehung gibt. Etwas für die Zukunft. Und auf einmal sagt er zu mir: Ich wäre mehr in ihn verliebt als er in mich. Na, und was für eine Konsequenz hat das?, habe ich ihn gefragt. Wir erhalten den Status Quo, meint er. Wär ja nicht so schlimm. Er würde mit seiner Ex-Frau in Urlaub fahren. Ich wär natürlich auch noch da. Zum Bumsen, was weiß ich. So ein Arschloch! Das habe ich zu ihm gesagt. Und ich war wirklich verliebt in ihn. Immer wieder die älteren Männer. Was sind das doch für Kindsköpfe.«
Sie zittert wie ein Verkehrsschild im starken Herbstwind und versteckt das Gesicht in kleinen Händen. Ich ziehe sie vorsichtig an meine Brust. Es ist nicht so, dass ich eine Antwort weiß. Doch ich möchte etwas sagen.
»Für mich bist du so was wie ein Leuchtturm. Stehst da in der Dunkelheit. Die Nacht weicht ängstlich zurück. Das Innere des Turms bleibt jedoch dunkel. Felsenfest trotzt du Wind und Regen, weiß der Teufel wie und warum.«
Sie nimmt die Hände vom Gesicht und sieht mich an. Das Augenblau trifft mich unvermittelt ins Herz. Als hätte ich mein Raumschiff über der Scheibe von Andromeda geparkt, um den majestätischen Anblick zu genießen. Eine Insel aus Licht im ewigen Dunkel. Leben und Wärme in der Alleskälte. Ich küsse Zeige- und Mittelfinger meiner rechten Hand und drückte beide sanft auf ihren Schmollmund.
»Du, ich und noch ein paar andere werden immer einsam sein. Selbst wenn wir verliebt sind oder lieben.«
Ich schweige eine Weile, achte auf ihren Atem, ihren Körper, der so verschwindend gering ist. Das Zittern hat sie verlassen, ein ruhiges Fließen ist an seine Stelle getreten. »Vielleicht wird dir mal jemand sagen, dass deine Zeit schon kommen wird. Das stimmt nicht. Deine Zeit wird nie kommen, so wie meine Zeit nie kommen wird. Am Ende wird es wie bei Dickens: Es war die beste aller Zeiten, es war die schlimmste aller Zeiten.«
James Bond obsiegt endgültig über die Schurken der Welt und das Flimmerlicht des Fernsehers fällt seitlich in ihre Augen und ich meine zu erkennen, dass es nicht Augen, sondern etwas ganz und gar Fremdes ist. Gefangene in diesem Teil des Universums. Das Blau aus einem parallelen Leben, der Anderwelt. Isoliert und irrlichternd im Diesseits. Das letzte Licht vor dem endgültigen Erkalten.
Etwas gongt und jemand sagt, dass es 22 Uhr ist. Auf dem Fernsehschirm gibt es ein hundertprozentig sicheres Verhütungsmittel: Die Nachrichten. Ich schalte ihn aus. Da sitzen wir auf dem Boden. Ein Leuchtturm und ein Namenloser, die sich auf unerklärliche Art annähern. Nur für uns ist diese Nacht existent. Exakt an diesem Ort hebt sich der Nebel, der Schiffe an Klippen zerschellen lässt. Der Fernseher, tot im Zimmereck, ein letzter Zug an einer Zigarette, ein halbvolles Glas Sekt, einfach stehen gelassen, dafür wir beide eng umschlungen auf dem Fußboden. Halten und nichts als das. Für Sekunden oder Minuten. Danach Zärtlichkeit. Mit allem, was an und in uns ist. Wir steigen in den Olymp des Begehrens, unser beider Welten treffen sich elektrisiert und allgegenwärtig.
Diese Geschichte
Geschrieben 1992. Ein Bild zweier einsamer Menschen, die sich immer wieder begegnen. Menschen sind sehr oft sehr einsam. Das muss nichts Schlimmes sein. Manche sind dafür geboren. Doch hin und wieder wird es pathologisch und rollt schmerzhaft durch Körper und Leben. Ihr wisst ja: Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder verstorbenen Personen ist rein zufällig. Inzwischen habe ich den Text mehrfach überarbeitet. Vor allem in die Gegenwart geholt. Ich finde, der Kontakt zu den Leser:Innen ist auf diese Art intensiver.