Der alte Westphal

KURZGESCHICHTE | Der tägliche Spaziergang durch den Stadtwald steht an. Rüber zum Adenauerweiher, ihn umrunden und wieder zurück. Meine Frischluft-Route. Ich habe mir das angewöhnt, als ich vor sechs Jahren mit dem Rauchen aufgehört habe. Auf dem Weg komme ich am kleinen Forsthaus vorbei. Der alte Westphal und sein Königspudel leben hier. Über die Jahre hinweg haben wir uns etwas kennengelernt. Anfangs grüßten wir uns durch Zunicken, dann wechselten wir immer mal wieder ein paar Worte über kleine Alltäglichkeiten. Viele meiner Nachbarn halten ihn für einen Sonderling, einen komischen alten Kauz, was er zu einem gewissen Teil auch ist, aber kaum mehr als die meisten anderen auch. Das Häuschen ist vollkommen hinter Efeu verschwunden. Die Fenster sind darin schwarze Löcher. Den Eingang erkennt man nur, weil der Alte die Tür rot lackiert hat.
Auf dem Weg zurück fällt mir auf, dass sich etwas verändert hat; am Haus, der Umgebung. Ich vermag nicht genau zu erkennen, was diesen Eindruck verursacht. Vor einer war alles wie immer. Ich bleibe am Jägerzaun stehen und schau mir jedes Detail an, und als hätte er darauf gewartet, dass jemand stehen bleibt, kommt Westphal raus und läuft Arme schwingend auf mich zu. Ich denke an einen Verrückten, rechne mit einer Attacke jedweder Art und mache lieber einen Schritt nach hinten.
»Halt!«, ruft er. »Bleiben Sie stehen! Bitte!« Er hat den Zaun erreicht. Ziemlich außer Atem. Für einen kurzen Moment stehen wir uns schweigend gegenüber und ich habe den Eindruck, als ob er Ablehnung in meinem Gesicht zu entdecken versucht. Aber dann öffnet er zügig das kleine Gartentürchen. »Bitte! Kommen Sie rein! Schnell! Meinem Hund geht es nicht gut!«
Er dreht sich um und während er die letzten Worte ruft, hastet er zum Häuschen zurück. Und jetzt?, frage ich mich im Stillen. Ich folge ihm. Vielleicht ist alles gar nicht so schlimm. Am Häuschen angekommen, nehme ich zügig die drei Stufen, bin im Haus und sehe ihn geradeaus in einem Zimmer auf dem Boden knien, mit dem Rücken zu mir. Er beugt sich hinunter und schüttelt etwas, das ich nicht erkennen kann. Der Hund, klar. Als ich ihn erreiche, kann ich das Tier sehen. Er schüttelt es wieder und wieder, aber vergeblich. Ich knie gegenüber des Körpers und versuche, Westphals Hände wegzuschieben.
»Bitte, Herr Westphal! Lassen Sie mich nachsehen!«
Er sieht mich an. Tränen laufen seine Wangen runter. Aber er hört auf mich. Franz heißt das Tier, wenn mich nicht alles täuscht. So hat er es zumindest immer gerufen.
»Tun Sie doch was!«
Ich sehe keine äußeren Verletzungen. Kein Schaum oder vermehrter Speichel am Maul, die Pupillen nicht geweitet. Er hat Wasser gelassen und ein bisschen gekotet. Ich lege die Hand an den Hals und versuche Puls zu fühlen, auf beiden Seiten, drei Finger flach, dann tiefer drückend, aber da ist nichts. Ein Ohr lege ich auf linke Körperhälfte, knapp hinter dem linken Vorderbein. Mit einer Hand drücke ich kurz nach dem Brustbein in den Unterleib. Außer Westphals leisem Schluchzen ist nichts zu hören. Kein Pumpen, kein dumpfer Schlag. Ich prüfe die Nase. Sie ist trocken. Keine Atmung. Also stehe ich auf und sehe Westphal an. Was soll ich nun sagen? Mit den Hemdärmeln wischt er sich die Tränen aus dem Gesicht, schnäuzt in ein großes Taschentuch, das er aus der Hose zieht. Dann kommt er hoch. Im Gesicht kann ich sehen, dass ihn die Wahrheit erreicht hat.
»Danke«, gibt er tonlos von sich. Erst jetzt fällt mir auf, dass wir in der Küche sind; einer sehr gemütlichen Küche. Mit einem wunderbaren Schamottherd, Bauernschränken, einem großen Eichentisch. Westphal geht zum Waschbecken und füllt sich ein Glas mit Wasser. »Möchten Sie auch eins?«, fragt er.
»Ja, bitte. Ich komme grad von meinem Spaziergang. Da bin ich immer durstig.«
Er füllt ein zweites Glas und stellt es auf den Tisch. »Setzen Sie sich doch, bitte.« Er geht in einen Nebenraum und kommt mit einer Wolldecke zurück. Vorsichtig breitet er sie über dem Königspudel aus. Eine schöne, braune Decke.
»Seine Lieblingsdecke.«
Ich wasche die Hände, setze mich und sehe den Alten an. Er kommt um den Tisch herum und nimmt ebenfalls Platz. »Sie gehen jeden Tag spazieren. Franz und ich haben Sie oft gesehen. Und immer hab ich zu Franz gesagt: Schau, der Mann macht es richtig. Jeden Tag ein bisschen frische Luft. Das ist die beste Medizin.«
»Ja, immer dieselbe Strecke. Um den Adenauerweiher. Das habe ich mir im Lauf der Jahre so angewöhnt.«
»Wo wohnen Sie denn?«
»Drüben in Lindenthal, beim Krankenhaus.«
»Ah ja, Lindenthal … da war ich schon lange nicht mehr.«
Ich trinke das Glas leer und Westphal starrt zum Küchenfenster hinaus in den Garten. Für ihn ist die Zeit stehengeblieben. Fast ist die zähe Konsistenz des Augenblicks zu spüren. Dann eine langsame Kopfdrehung zu mir. »Würden Sie mir noch einmal helfen?«
Ich bin einigermaßen überrascht. »Bei was denn?«
»Ich möchte Franz beerdigen. Eigentlich müsste ich das dem Tierarzt melden. Der würde ihn untersuchen. Von wegen Seuchen und so Zeug. Dann käme die Abdeckerei und mein Franz würde zu Seife verarbeitet. Das will ich nicht.«
»Das kann ich verstehen. Und wie kann ich Ihnen helfen?«
»Haben Sie ein Auto?«
»Ja.«
»Würden Sie Franz und mich in den Königsforst fahren? Dort will ich ihn begraben.«
»Im Königsforst? Aber hier im Stadtwald hat es doch auch schöne Flecken.«
»Wenn ich Franz hier im Stadtwald beerdige, käme mir in den Sinn, jeden Tag morgens, mittags und abends an seinem Grab zu stehen. Aber das will ich nicht. Gräber müssen weit weg sein. Unauffindbar. Ich will das nie mehr sehen.«
Er macht einen entschlossenen Eindruck. »Das kann ich nachvollziehen. Also gut, ich hol den Wagen. Schaffen Sie es, Franz in die Wolldecke zu hüllen?« Westphal nickt. »Okay, Herr Westphal. Bis später.« Ich stand auf, steige über Franz hinweg und verlasse das Hexenhäuschen.

Mit dem Einladen warten wir, bis es dunkel ist. Westphal hat Franz richtiggehend in die Wolldecke geschnürt. Vorne und hinten abgebunden und rundherum noch eine Art Tragegurt konstruiert. Aus seiner Küche nimmt er ein kleines Holzkreuz von der Wand. Dazu eine Taschenlampe und einen Spaten. Wir sind für die Expedition gut gerüstet. Vielleicht etwas zu konspirativ – oder verrückt. Je nach Sichtweise. Über die A4 gelangen wir schnell zu unserem Ziel. Nachdem Rath hinter uns liegt, kommen wir in den Königsforst. Westphal zieht einen Seidenschal aus der Jackentasche und verbindet sich d Augen. Er setzt zu einer Erklärung an, aber ich winke ab.
»Schon klar«, sage ich. »Nie mehr den Weg finden.«
Westphal nickt.

Ein alter Mann mit verbundenen Augen in meinem Auto, hinten drin ein toter Hund in eine Wolldecke gewickelt. Was ich jetzt nicht gebrauchen kann, ist eine Polizeikontrolle. Es ist kurz vor dreiundzwanzig Uhr und kaum Verkehr auf der Landstraße. An irgendeinem der Waldwege biege ich rechts rein. Nach ein paar Metern bleiben wir stehen. Westphal steigt aus. Er will den Hund tragen. Ich helfe ihm, den selbstgebauten Rucksack aufzuziehen und schnappe mir den Rest der Ausrüstung, dann nehme ich den Alten am linken Arm und führe ihn in den Wald hinein. Es riecht intensiv nach Kiefern und Pilzen. Nur der Lärm des nahen Flughafens zerstört den friedlichen Eindruck. Ich knipse die Taschenlampe an.
»Wie weit wollen wir gehen?«, frage ich ihn.
»Ein bisschen tiefer hinein sollten wir schon.«
»Okay.«
Der Waldweg ist gut begehbar. Nicht allzu viele Unebenheiten. Was ich vermeiden will, ist ein umgeknickter Fuß. Nach etwa zehn Minuten bleibt Westphal einfach stehen.
»Hier gehen wir in den Wald.«
Ich leuchte die Umgebung aus. Langsam fühle ich mich etwas unwohl. Links sieht es weniger abenteuerlich aus. »Gehen wir links hinein. Außerdem können Sie den Schal abnehmen. Es ist so dunkel, dass man eh nichts mehr erkennen kann.« Westphal nimmt ihn schweigend vom Kopf und wir marschieren querwaldein. Meter um Meter. Ich weiß nicht, ob er auf eine Reaktion von mir wartet oder entscheidet, wann wir genügend Meter hinter uns gebracht haben. Jedenfalls wird das Unterholz dichter. Immer mehr Senken tauchen vor auf, Sträucher, große und kleine Büsche. Dornen und trockene Äste von kleinen Kiefern verfangen sich in meiner Kleidung, ritzen mir gelegentlich die Haut im Gesicht auf. Ich fluche innerlich. Auf was für eine bescheuerte Idee habe ich mich da bloß eingelassen? Wahrscheinlich werden wir uns hoffnungslos verlaufen und ich muss mit dem Handy Hilfe rufen. Gott, wie peinlich.

»Hier«, sagt Westphal und bleibt stehen. Ich lasse alles fallen und schaue mich im Lichtkegel der Taschenlampe um. Westphal nimmt den Spaten und fängt an zu graben. Der Boden ist weich, sandig, er macht gute Fortschritte. Schnell bekomme ich ein schlechtes Gewissen.
»Kommen Sie, Herr Westphal, geben Sie mir den Spaten. Ich mach mal weiter.«
»Schon gut. Sie haben schon so viel für mich getan.«
Stimmt nun auch wieder, beruhige ich mich. Er hebt ein Loch von etwas mehr als einem Meter Länge, sechzig oder siebzig Zentimeter Breite und eben so viel Tiefe aus. Schwer atmend lehnt er sich an einen Baum.
»Soll ich Franz hineinlegen?«, frage ich vorsichtig.
»Ja, bitte.«
Ich bücke mich zu der Wolldecke. Der Hund ist schon steif geworden. Ich hebe ihn hoch und bugsiere Franz mitsamt Decke in das Loch. Als ich denke, er wird richtig liegen, schaut ich zu Westphal an. Der nickt. »Ja, so ist gut. Vielen Dank.«
Er kniet vor das Grab, legt das Holzkreuz hinein und murmelt leise ein paar Worte. Ein wenig höre ich ihn weinen, manche Worte verschwimmen zwischen sachtem Schluchzen. Dann steht er auf und macht das Grab zu. Ich leuchte. Als er fertig ist, erlischt die Lampe aus. »Scheiße.« Ich schüttle sie. Das Birnchen flackert, brennt wieder und ich bin heilfroh.
»Gehen wir, Herr Westphal.«
»Ja, ich komme.« Er holt ein kleines Seil aus seiner Hosentasche, knotet es um Spatenblatt und Griff und hängt ihn sich über den Rücken. Wir machen kehrt und nach etwa zehn Metern fällt die Lampe erneut aus.
»Verflucht«, sage ich. Wir bleiben sofort stehen. Mit heftigem Rütteln versuche ich die Lampe wieder in Gang zu setzen. Aber es nutzt nichts. Und ein Gewöhnen der Augen an die Dunkelheit ist auch mehr Hoffnung als tatsächlicher Effekt. Die Kiefern stehen zu dicht, als dass man etwas erkennen könnte. Arme ausstrecken und langsam einen Fuß vor den anderen setzen.
»Herr Westphal?«
»Ja?«
»Bleiben Sie mal stehen.«
»Gut.«
Ich drehe mich um und sehe ihn schemenhaft hinter mir. »Sie kommen Sie bitte neben mich und geben mir die Hand. Wir strecken beide unseren freien Arm nach vorne und schwenken ihn immer von links nach rechts.«
»Ja, das ist eine gute Idee. Tut mir leid, dass ich Ihnen solche Umstände mache. Vielleicht hätte ich vorher die Batterien wechseln sollen.«
»Machen Sie sich mal keine Gedanken wegen der Batterien. Das ist eher ein Wackelkontakt, denke ich. Wir schaffen das schon.«
»Wissen Sie denn, in welche Richtung wir gehen müssen?«
»Tja, in die Richtung aus der wir gekommen sind.«
»Und welche ist das?«
»Nun, die hier. Oder?« Ich zeige mit der linken Hand geradeaus vor mich. Aber die Hand sehe ich schon nicht mehr. »Hm. Na ja, der Königsforst ist ja nicht ewig groß. Und wenn wir still sind, hören wir den Flughafen. Der war vorhin rechts von uns.«
»Ihr Wort in Gottes Ohr.«

Langsam, zentimeterweise, bewegen wir uns in irgendeine Richtung. Ab und zu höre ich startendes Flugzeug. Halblinks von uns. Ich rede mir fest ein, dass unsere eingeschlagene Richtung richtig sein muss. Dann fällt Westphal das erste Mal hin. Er lässt einfach los und ich höre ihn leise fluchen.
»Ist was passiert?«
»Nein, nein. Ein paar Kratzer. Geht schon.«
Kleine Zweige brechen, dann steht er wieder und wir schieben uns weiter durchs Unterholz. Die Minuten vergehen. Nach meiner Schätzung hätten wir den Weg schon längst erreichen müssen. Plötzlich gibt der Boden nach, unsere Füße tappen ins Leere, Westphal fällt erneut, rutscht aus meiner Hand. Aus den Geräuschen höre ich heraus, dass er einen kleinen Abhang hinunterrollt. Es raschelt laut, ein größerer Ast bricht, ich höre einen Schmerzensschrei. Dann ist Stille.
»Herr Westphal?!«
Nichts.
»Hallo! Herr Westphal?«
Ich rutsche seitwärts einen Abhang hinunter. Langsam. Nicht, dass ich plötzlich auf ihn trete. Dann erreiche ich eine Art Gestrüpp. Irgendwo da drin muss ja der Alte stecken. Wenn ich doch nur Licht hätte. Ich hole die Lampe aus der Hosentasche und schüttle sie ordentlich durch. Keine Reaktion. Vorsichtig schraube ich den Reflektor ab und taste mich an das Birnchen heran. Ich erinnere mich, dass es eine Varta ist. Da sind die Birnchen in der Regel mit zwei Nasen festgeklemmt. Drehen, lösen, erneut in die Fassung drücken. Den Reflektor wieder drauf. Nichts. Ich schraube den Lampenfuß ab. Batterien vorsichtig heraus. Plus war vorne. Zwei Stück sind drin. Mit dem Zeigefinger versuche ich an den Pluskontakt in der Lampe zu kommen. Ich schaffe es und biege ihn nach oben. Batterien einsetzen, schließen. Und tatsächlich.
Einen Jauchzer kann ich nicht vermeiden. So fühlt sich Glück an. Schnell leuchte ich nach unten. Da liegt Westphal zwischen Zweigen. Sein Gesicht ist eine verzerrte Fratze, Tränen kullern aus seinen Augen, der Mund zu einem stummen Schrei geöffnet. In den Händen hält er fahle, kleine Finger, die in einem grünlich schimmernden, dünnen Ärmchen enden, das aus dem Boden ragt wie ein dicker Wurm, der sich nicht aus seinem Unglück befreien kann. Mir stockt der Atem. Dann beginnt Westphal zu schreien.

*

Die Lichter kommen zu uns und ich fühle mich erlöst von einer Last, die ich nicht tragen will. Mit dem Handy habe ich die Polizei gerufen. Meinen Standort konnte ich nicht beschreiben, aber ich sollte weiter mit ihnen telefonieren. Das Anpeilen hat gut funktioniert. Schon nach kurzer Zeit ist ein Großaufgebot im Königsforst. Ein Notarzt versorgte Westphal, der sich stummgeschrien hat. Er lag apathisch auf der Bahre und sie schieben ihn in den Wagen. Ein paar Polizisten haben mit Hunden das kleine Grab von Franz aufgespürt. Franz muss zur kriminaltechnischen Untersuchung. Ein Beamter nimmt meine Aussage auf und eine Beamtin reicht mir einen warmen Tee. In Weiß gekleidete Kriminaltechniker legen die Leiche eines Mädchens frei. Ich drehe mich um. Der Wald wird erhellt von starken Scheinwerfern. Die vielen Menschen und Polizeihunde, all das wirkt auf mich wie aus einer anderen Welt. Alle Stimmen sind sehr weit entfernt.
»Herr Konstantin? Hallo?«
Da ruft jemand? Ich sehe mich um. Ein Mann mittleren Alters kommt. Er deutet auf den Baumstamm hinter mir. »Setzen wir uns.«
»Ist gut.« Nicht ohne zu kontrollieren, ob Harz aus der Rinde quillt. Nichts zu sehen, also folge ich seiner Aufforderung. Er nimmt neben mir Platz.
»Maas ist mein Name. Ich bin der leitende Kommissar in diesem Fall. Wir glauben ihre Geschichte. Ich muss Sie nur bitten, für eine DNA-Untersuchung mit mir auf das Revier zu kommen. Geht das in Ordnung?«
Ich nicke.
»Ich verstehe, dass dies ein Schock für Sie ist. Vermutlich ist das die Leiche eines Mädchens, das vor drei Wochen in Düren verschwunden ist.« Ich glaube, mehr als nicken kann ich nicht. Die Tränen kann ich kaum zurückhalten. Tief atmen, konzentrieren. »Sie kennen Westphal von ihren Spaziergängen?«
»Mh.«
»Er war früher ein Kollege.« Ich schaue ihn überrascht an. »Ja, Westphal war in den Siebzigern bei der Drogenfahndung. Ich kam damals in seine Abteilung und lernte ihn dort kennen. Ein paar Jahre später hat man seine Tochter auf dem Nachhauseweg von der Schule entführt. Sie wurde nie mehr gefunden und ist sicherlich Opfer eines Gewaltverbrechens geworden. Westphal hat den Dienst quittiert. Fünf Jahre später hat sich seine Frau erhängt. Tragische Geschichte das.«
Plötzlich sehe ich Westphals verzerrtes Gesicht wieder vor mir. Der stumme Schrei. Ein dreißig Jahre alter Schrei. Mir wird klar, dass ich ein Gesicht gesehen habe, das seit dieser Zeit hinter der Maske des kauzigen Alten lauert. Jetzt kann ich die Tränen doch nicht mehr halten und verschütte den Tee auf dem Waldboden.

Ich sitze an Westphals Bett und pack Pralinen aus, die ich ihm mitgebracht habe. Körperlich ist er wieder einigermaßen, aber er spricht nicht seit jenem Abend vor einer Woche. Ich habe vom Kommissar den Schlüssel zu Westphals Haus bekommen, um die Blumen zu gießen und die Post aus dem Briefkasten zu holen und besuche den Alten jeden Tag. Aber er schweigt. Der Fernseher über dem Bett läuft und er starrt auf die Mattscheibe.
»Herr Westphal?« Ich kann mir nicht mal sicher sein, dass er mich hört. Also erzähle ich einfach. »Die Polizei hat in Düren überall DNA-Proben genommen. Sie sind guter Dinge, dass der Täter gefasst wird. Ich soll von ihrem Kollegen ausrichten, dass Franz, ihr Hund, auf einem Tierfriedhof begraben wurde. Ihre alten Kollegen haben gesammelt dafür. Und gestern habe ich den Hibiskus in ihrem Wohnzimmer gegossen. Stellen Sie sich vor: Er hat zwei Blüten!«
Westphal reagiert nicht.
»Herr Westphal, ich weiß, was damals passiert ist. Ihr Kollege hat es mir erzählt. Das tut mir leid. Wenn ich Ihnen irgendwie helfen kann, sagen Sie es mir. Ich würde das gerne tun. Vielleicht gehen wir mal spazieren draußen im Park?« Es bleibt nur das Schweigen. Was soll ich tun? Nach Hause gehen und morgen wieder kommen? Vielleicht ist es morgen anders. Also stehe ich auf und ziehe die Jacke über. »Ich komme morgen wieder, Herr Westphal. Soll ich Ihnen etwas von daheim mitbringen? Vielleicht ein Buch? Oder die Post? Ja, die Post. Die müssen Sie ja mal durchsehen und beantworten. Da ist vielleicht was Wichtiges dabei …«
Die Stille macht mich unsicher und traurig. Was kann ich tun? Ich habe an allem keine Schuld. Und doch fühle ich mich mitten drin in einem Knäuel aus Vergangenheit, Schicksal und Hoffnungslosigkeit. Selbst wenn ich meine Sachen packen würde und umzöge, wäre mein Inneres voll von dieser dunklen Materie, dieser Schwere an Schicksal. Ich kann dieses Gesicht nicht mehr vergessen. Es verfolgt mich in meinen Träumen. Schnell verlasse ich das Krankenzimmer und renne der frischen Luft entgegen.

Zwei Abende später sitze ich in Westphals Wohnzimmer. Die Hibiskusblüten sind abgefallen und liegen verschrumpelt auf dem abgewetzten Teppich. Heute habe ich den Alten nicht besucht. Den ganzen Tag war ich bei einem Kunden und heute Abend fehlt mir der Nerv für einen Besuch. Aber schon nach ein paar Minuten überfällt mich das schlechte Gewissen. Also bin ich ins Hexenhäuschen, hab mich auf die Couch gesetzt und wundere mich über die Hibiskusblüten. Irgendwann rapple ich mich auf und fange an, nach Westphals Vergangenheit zu suchen. Ich stöbere so gut wie alles durch. Es ist kurz vor Mitternacht, als ich in ein paar alten Büchern Fotos finde von einem jungen Westphal, der ein kleines Mädchen auf dem Arm hat. Beide stehen im Schatten eines Apfelbaumes. August 1974 stand auf der Rückseite.
Damals war ich selbst zehn Jahre alt. Westphals Tochter wohl so um die sechs Jahre. Auf den anderen Fotos entdecke ich eine Frau mit einer hochgesteckten Frisur. Westphal hatte schreckliche Koteletten. Die Siebziger eben. Ich gehe in die Küche und lege die Fotos auf den Tisch. Im Schein der Küchenlampe kommt zum Vorschein, wie stark die Farben schon verblasst sind. Wie die Hibiskusblüten. Westphals stummer Schrei. Ich stehe auf und verlasse das Haus ohne das Licht auszumachen. Die Angst vor der Nacht kriecht in mir hoch, als ich draußen das Gartentürchen öffne, Angst vor dem Gesicht.

Ich höre das Telefon kaum. Kopfschmerzen empfangen mich und den neuen Tag. Die Nacht war schrecklich. Alpträume und Wachsein wechselten sich ab. Völlig gerädert schleppe ich mich an den schrillenden Apparat. Es ist Maas, der Kommissar. Er fragt, ob ich daheim sei in der nächsten Stunde. Ich bejahe. Dann wird er kommen, sagt er und legt auf. Ich seufze und setze mich auf den Stuhl neben dem Telefontischchen. Wieder klingelt das Telefon. Dieses Mal ist es jemand vom Stadtanzeiger. Ich lege auf und gehe ins Bad.
Erschreckt stelle ich fest, dass ich mich verändert habe. In diesem Spiegel ist nicht mehr das Gesicht, an das ich mich erinnern kann. Ich dusche, rasierte mich mit aller Sorgfalt und ziehe meine besten Kleider an. Als ginge ich zur wichtigsten Feier meines Lebens. Dann stelle ich Kaffee auf und mit dem letzten Gurgeln der Maschine klingelt es an der Tür. Maas ist da. Wir sitzen in der Küche und ich schenke uns je eine große Tasse vom schwarzen Gebräu ein. Er schweigt lange. Immer wieder nippt er an der Tasse und sieht sich in der Küche um. Ich warte geduldig, denn mir ist auf einmal klar, was er mir mitteilen will.

»Herr Konstantin, ich muss Ihnen etwas sagen …«
»Ich weiß.«
Er setzt die Tasse ab und zieht die Augenbrauen hoch. »Sie wissen? Was denn?«
»Westphal ist tot.«
Der Kommissar ballt die rechte Hand zur Faust und klopft mit dem Daumenknöchel sachte auf den Tisch, dabei presst er die Lippen zusammen. Meinem Blick weicht er aus. »Westphal ist tot, ja. Plötzliches Herzversagen … meinen die Ärzte.« Er muss pausieren. Seine Stimme versagt. Vorsichtig trinkt er einen kleinen Schluck. »Er ist Ihnen ans Herz gewachsen, nicht wahr?«, sagt er dann leise. Ich nicke langsam. Es ist ein erwartbares Ende. Als hätte ich das Drehbuch gekannt. Auf diesem Planeten gibt es nichts mehr zu tun für Westphal. Er ist bei den Seinen.
»Wir haben den Mörder der Kleinen aus Düren gefasst.«
Ich stelle die Kaffeetasse auf den Tisch und blicke aus dem Fenster.
»Zu spät.«
»Wenn wir unsere Arbeit erledigen, ist es immer zu spät«, sagt er tonlos.
»Scheißjob.«
»Ja, Scheißjob.« Er steht auf und holt etwas aus der Hosentasche. »Danke für den Kaffee, Herr Konstantin. Ich muss gehen, Berichte schreiben. Hier …«, Maas wirft einen Zettel auf den Tisch. »Das ist der Termin, an dem der Nachlassverwalter sich um Westphals Hinterlassenschaft kümmert. Er hat keine Angehörigen. Das Haus wird wohl versteigert. Sie haben ja noch den Schlüssel. Holen Sie einfach aus dem Haus, was an Westphal erinnert. Vielleicht Fotoalben oder irgendwas anderes Persönliches. Heben Sie es gut auf. Dann bringen Sie mir einfach den Schlüssel ins Kommissariat. Nur sie und ich wissen das. Okay?«
»Okay.«
Ich bringe ihn zur Tür und setze mich wieder an den Küchentisch. Mein Blick fällt auf den Zettel. Ich habe eine Woche Zeit. Dann krame ich die Bankauszüge raus und entscheide mich in diesem Moment, das Haus zu kaufen. Egal wie. Ich weiß, es würde dem alten Westphal gefallen.

Diese Geschichte

Geschrieben im Jahr 2008. Hätte ursprünglich etwas anderes geben sollen, aber manchmal leitet ein Text dich und nicht du deinen Text. So oder ähnlich könnte es sich abgespielt haben. Ihr wisst ja: Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder verstorbenen Personen ist rein zufällig. Inzwischen habe ich den Text mehrfach überarbeitet. Vor allem in die Gegenwart geholt. Ich finde, der Kontakt zu den Leser:Innen ist auf diese Art intensiver.

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