Kälte

KURZGESCHICHTE | Annegret sieht in den Spiegel und vergewissert sich, dass die Frau nichts mehr im Einkaufswagen hat. Wie im Schlaf zieht sie die Artikel über das Lesegerät. Zahnpasta, Damenbinden, drei Becher Joghurt, Butter, Chinakohl … vergeblich sucht sie nach dem Preiscode für Chinakohl und blickt die Frau an. »Haben Sie den gewogen?«
»Nein«, schüttelt die den Kopf. »Muss man das? Das ist doch bestimmt ein Stückpreis.«
»Nein. Chinakohl geht nach Gewicht. Könnten Sie ihn bitte wiegen?«
»Warum soll ich den Chinakohl jetzt wiegen? Ich hab es eilig! Gehen Sie doch! Sie müssen das halt deutlicher hinschreiben!« Sie dreht sich zur Warteschlange hinter ihr. »Unglaublich! Erst nicht richtig informieren und dann soll man auch noch selbst gehen.« Aber in den Augen der hinter ihr Stehenden findet sie keine Bestätigung, nur Ungeduld. Annegret hat keine Lust zu streiten. Nicht am Samstag, kurz vor sechzehn Uhr und dem baldigen Feierabend. Also steht sie auf, ignoriert den triumphierenden Blick der Frau und wiegt den Chinakohl. »Na bitte, geht doch!«, ruft sie Annegret hinterher. Wieder hinter der Kasse, nimmt sie die Preisliste und schaut nach Chinakohl.
»Warum schauen Sie jetzt in der Liste? Ich denke, da ist ein Preisetikett drauf?«
»Die Rolle ist leer. Ich hab ja das Gewicht, da kann ich den Preis hier nachsehen.«
»Das ist ja mal ein Saftladen! Warum schauen sie unter ‚S‘? Chinakohl wird mit ‚C‘ geschrieben! Noch nicht mal das beherrschen Sie! So was hab ich ja noch nicht gesehen!«
Annegret sieht gar nicht erst auf. »Wir haben Chinakohl unter Salat einsortiert, also unter ‚S‘. Deswegen«, erwidert sie. Gerade als Annegrets Widersacherin zu einer weiteren Bemerkung ansetzen will, wird sie von hinten unterbrochen.
»Seien Sie doch einfach mal still. Das ist ja unerträglich. Die Frau macht ihre Arbeit. Setzen Sie sich doch dahin und machen es besser!«
Annegret schaut auf, sieht nichts außer einem dicken, zerrissenen Wollmantel, um den Hals einen roten Schal gewickelt und ein bärtiges Gesicht. Oben drauf eine schmutzige Wollkappe. Die Angesprochene drehte sich um, entdeckt den verwahrlosten Mann, der mehr als einen Kopf größer ist. Sie sagt nichts und wendet sich angewidert ab.
»86 Euro und 14 Cent.«
Die Frau bezahlt, packt ein und verlässt wortlos den Laden. Der Mann stellt eine Flasche Chantré und drei Halbliter Cola-Dosen aufs Band. »Danke«, flüstert ihm Annegret zu. »Würden Sie bitte das Kasse geschlossen-Schild auf das Band stellen? Ich hab jetzt Feierabend.«
»Ja, sicher doch. Den ham Sie sich aber jetzt verdient, den Feierabend.«
Sie schaut hoch und lächelte fast ein bisschen. »14,80 macht das.« Der Mann zahlt und sieht sie an, während er die Getränke in den Manteltaschen verstaut. Ein Wiedersehen murmelnd, geht er hinaus.
»Wiedersehen«, sagt Annegret leise. Sie erledigt die Kassenabrechnung, holt die Geldkassette raus, schließt ab, geht ins Büro zum Filialleiter und übergibt ihm die Kassette mit der Abrechnung. Endlich umgezogen, verabschiedet sie sich von den Kolleginnen und verlässt über den Hinterausgang die Filiale. Als sie vor dem Markt steht, entdeckt sie rechts im kleinen Park auf einer Bank den Mann aus dem Laden. Annegret ist sich unschlüssig, was sie tun soll. Es hat zu schneien begonnen und ein kalter Wind fegt über den Vorplatz. Sie zieht den Reißverschluss ihrer Winterjacke zu. Weihnachten steht vor der Tür. Unvermittelt überkommt sie die Idee, diesen Mann einzuladen. Warum nicht? Sie gibt sich einen Ruck und schlendert hinüber zum Park, bleibt direkt vor ihm stehen und beobachtet, wie er gerade einen Teil der Cola aus der Dose kippt und mit Chantré wieder auffüllt.

»Hallo«, sagt sie leise. Er setzt die Dose an den Mund und trinkt. Dabei blickt er Annegret an. Er trinkt in einem Zug leer, rülpst und wirft das Stück Weißblech zielsicher in den Mülleimer links von der Bank.
»Hallo, Annegret.«
»Woher wissen Sie meinen Namen?«
»Stand auf ihrem Namensschild.«
»Ach so, ja … kann ich mich setzen?«
»Natürlich. Ist leider etwas zugig im Wohnzimmer. Die Fenster sind kaputt.«
Annegret lächelt, wischt den frisch gefallenen Schnee weg und setzt sich neben den Mann, der sie um einiges überragt. »Sie sind recht groß.«
Er hat inzwischen die zweite Dose auf dieselbe Art geleert und befördert sie in den Mülleimer. »Ja, früher war ich noch ein bisschen größer. Aber sie wissen ja, im Alter schrumpft man.«
»Sie sind aber noch nicht so alt.«
»Was denken Sie denn, wie alt ich bin?«
»Ach, hm«, Annegret legt die Stirn in Falten und versucht zwischen Schal, Wollkappe und Bart Hinweise zu entdecken, aber es gelingt ihr nicht. Sie konzentriert sich auf seine Augen. »Ich würde sagen, sie sind 47.«
»Ich bin 59. Schlecht geraten.«
Das sieht man ihm gar nicht an, denkt Annegret. Ihr gefällt seine Stimme. »Ich sollte das nicht tun«, sagt sie mehr zu sich selbst.
»Was sollten Sie nicht tun?«
»Sie mit zu mir einladen.«
»Werden Sie das denn tun?«
»Ja. Das werde ich. Kommen sie mit zu mir? Meine Fenster sind in Ordnung und ich habe einen guten Tee. Besser als das Zeug, das sie hier trinken.«
»Na gut. Eine freundliche Einladung kann man nicht ablehnen.«
Annegret steht auf, schaut in die Augen des Mannes. Da ist ein kurzes Zögern, dann tut er es ihr gleich. »Wo müssen wir denn hin?«, will er wissen. Annegret überlegt, ob sie zu Fuß gehen sollen. Auf dem Weg kämen sie noch bei der Bäckerei vorbei. Ihr fehlt für das Wochenende noch Brot.
»Wir können mit dem Bus fahren. Oder aber zu Fuß gehen. Eigentlich besser zu Fuß«, überlegt sie, »ich brauche noch Brot. Das hole ich frisch beim Bäcker. Im Supermarkt schmeckt es einfach nicht.«
»Vernünftige Entscheidung. Jetzt weiß ich aber immer noch nicht, wo Sie wohnen?«
»In der Bonner Straße.«
»Das ist ja auch nicht so weit. Das schaffen wir schon zu Fuß.«
Annegret schaute ihn an. »Wie heißen Sie eigentlich?«
»Heinrich.«
»Kommen Sie, Heinrich.«

Sie laufen los. Annegret, eingepackt in die dicke Winterjacke, und Heinrich mit seinem abgewetzten Mantel und dem von Bart und Kopfhaaren zugewucherten Gesicht, die schmutzige Wollkappe tief in die Stirn gezogen. Das Schneetreiben wird dichter, der Wind frischt auf. Beide haben die Köpfe stark nach unten gebeugt, um die Gesichter zu schützen. So erreichen sie die Bäckerei. Annegret besorgt ein Brot und zwei große Baguette. Durch den heftigen Schneefall kühlen sich Straßen und Bürgersteige schnell ab. Langsam, aber sicher, bleibt der Schnee liegen. Sie erreichen das Severinstor und den Chlodwigplatz.
»Zu welcher Hausnummer müssen wir denn?«
Annegret zeigt auf die rechte Seite der Bonner Straße. »Gleich da drüben, Nummer zehn, der Eingang am Kiosk vom alten Metternich.«
»Sehr gut. Mir ist nämlich kalt.«
Sie überqueren die Straße und rennen die letzten Meter zum Hauseingang. Das Schneetreiben ist inzwischen so dicht, dass man kaum noch zwanzig Meter weit sehen kann.

Der Hauseingang ist etwas zurückversetzt in einen gekachelten Flur. Annegret klopft Heinrich und sich den Schnee vom Mantel. In diesem Moment kommt ein Mann aus dem Kiosk direkt auf Annegret zu. »Frau Thönnes. Ich würde mich freuen, wenn sie mir die rückständige Miete vom November bezahlen würden. Meine Geschäfte gehen auch nicht so gut. Da kann ich es mir nicht leisten, die Kreditanstalt meiner Mieter zu sein.« Der Ladeninhaber mustert Heinrich eingehend.
»Ich bin ihnen in all den Jahren nie die Miete schuldig geblieben. Sie wissen das, Herr Metternich. Ich habe ihnen letzte Woche auch gesagt, warum ich im November nicht gezahlt habe; wegen des Medikaments für meine Mutter, das die Kasse nicht übernommen hat. Wenn mein Weihnachtsgeld am Fünfzehnten kommt, werde ich sofort zahlen.«
»Ihr Wort in Gottes Ohr«, entgegnet Metternich und schaut noch einmal genau auf Heinrichs abgewetzten Mantel. »Ist das ihr neuer Freund, Frau Thönnes?« Bevor Annegret etwas sagen kann, antwortet Heinrich.
»Offenbar hat meine Schwester ihnen gegenüber nie ihren Bruder erwähnt.«
Metternich zieht die rechte Augenbraue hoch. »So, der Bruder …«, sagt er gedehnt. »Eine kleine Familienfeier zu Weihnachten.«
»Sozusagen«, bestätigt Heinrich nickend.
Metternich überhörte den ironischen Ton. »Und was ist mit ihrem Mann, Frau Thönnes, lässt der sich noch mal blicken?«, fragt er Annegret. Die sinkt in sich zusammen, schüttelt unmerklich den Kopf und dreht sich zur Haustür. Metternich verschwindet murmelnd im Kiosk und Annegret nimmt einen Schlüssel aus der Jacke. Als sie die Tür aufdrückt und den muffigen Geruch im Treppenhaus einatmet, stellen sich ihr die Nackenhaare. Plötzlich ist sie unschlüssig, ob es die richtige Entscheidung war, jemanden wie Heinrich mit in die Wohnung zu nehmen. Sie wird in ihren Gedanken von seinen Worten unterbrochen.
»Ein richtiges Arschloch ist das, dein Vermieter.«
»Du darfst nicht so hart urteilen. Er hat es auch schwer. Seine Frau ist schon seit Jahren krank und der Kiosk wirft nicht viel ab. Lange hält er sich nicht mehr.«
»Noch lange kein Grund, sich wie ein Arschloch zu benehmen.«
»Ja, vielleicht hast du recht. Vielleicht wird man aber im Laufe der Jahre so.«

Der Hausgang ist ein langer Schlauch, führt nach einigen Metern am Treppenaufgang vorbei, hin zu einer einsamen Tür in der dunkelsten Ecke. Annegret schließt auf und tritt in einen kaum helleren Flur. Heinrich folgt und blickt durch ein schmales Fenster in den winzigen Innenhof. Auf Mülleimer, einen Haufen Unrat. Vom Regen aufgeweichte Kartons, kaputte Bierkästen, jede Menge Flaschen und stapelweise volle Mülltüten aus denen eine grünliche Flüssigkeit sickert.
»Sag mal, gibt es hier keine Hausordnung?«
Annegret bleibt stehen, folgt Heinrichs Blick nach draußen und seufzt kurz. »Ich hab es aufgegeben, dagegen anzukämpfen. Und Metternich auch. Hier drin interessiert sich niemand für so Dinge wie Hausordnung und Müllabholung. Die meisten hier haben genug mit sich selbst zu tun.«
Heinrich rümpft die Nase. Ein undefinierbarer Geruch, eine Mixtur aus allem Möglichen, konserviert über lange Jahre. »Puh!«, entfährt es ihm spontan, bemerkt aber gleich, wie Annegret zusammenzuckt. »Tut mir leid. Ist mir so rausgerutscht.«
»Macht nichts«, sagt sie. »Du hast ja recht. Ich werde gleich das Fenster aufmachen. Komm herein, zieh deinen Mantel aus.« Das tut er und den zweiten darunter ebenfalls.
»Der ist mir gar nicht aufgefallen«, wundert sich Annegret.
»Da ist man gleich nicht mehr ganz so dick«, grinst er und entledigt sich des Pullovers. Vergeblich sucht er einen Kleiderhaken, legt einfach alles auf den Boden und geht in ein trapezförmiges Zimmer. Links ein Fenster neben einer Art Verandatür. Mit Blick auf den zugemüllten Innenhof. Heinrich öffnet sie und schaut hinaus. Ringsum nur die Rückseiten der alten Mietshäuser. Braune Wände mit grauen Schlieren, dreckige Fenster, Wäscheleinen, ein Stück vom Schneehimmel über allem. Und es schneit immer noch wie verrückt. Im rechten Eck des Hofs entdeckt er ein kleines Stück Garten. Einen auf zwei Meter, umgewühlte Erde und ein kleiner Erikastrauch drin. Eine Hand zieht ihn am Rücken in die Wohnung.
»Komm rein, es wird kalt! Hast du meinen Garten bewundert?«
Heinrich schloss die Tür. »Er gehört dir?«
»Er gehört natürlich Metternich. Aber ich pflege ihn. Das macht mir Freude.«
»Außer einem Erikastrauch ist aber momentan nichts gepflanzt.«
»Ich weiß«, Annegret schaut zur Seite, blinzelt ein paar Mal, dreht sich um und geht in einen angrenzenden Raum. Heinrich folgt ihr und steht in der Küche. So groß wie der vordere Raum, hohe Decke. Rechts eine Küchenzeile, Tisch, zwei Stühle, links eine Badewanne, ein Waschbecken. Neben dem Waschbecken ein schwerer Vorhang. Er linst neugierig hindurch. Eine Toilette, eine Tiefkühltruhe, mehr passt nicht rein. Achselzuckend setzt er sich an den Küchentisch.
»Das ist ein Loch«, sagt er frei raus. »Was zahlt man für so ein Loch?«
Annegret füllt Wasser in den Schnellkocher und schaltet ihn ein. »250 warm.«
»Geht. Aber bleibt dir nicht viel vom Lohn, oder?«
»Ich arbeite keine Vollzeit, wegen meiner Mutter. Da komme ich auf 1.000 netto, 250 für die Wohnung, noch mal 250 für Versicherungen, Essen, Trinken, Strom und Wasser. Noch ein paar Euro für Mutters Hilfsmittel, der Rest … na ja, das Leben.« Es klickt und sie tut einige Beutel Tee in eine Kanne und gießt auf, stellt sie auf den Tisch, zwei Tassen dazu und setzt sich.
»Bekommst du nicht Wohnbeihilfe?«
Annegret zuckt mit den Schultern. »Vielleicht. Ich weiß nicht.« Sie sieht in Heinrichs Augen und entdeckt dieselbe Müdigkeit, die sie spürt, auch in ihm.
»Versteh schon«, entgegnet er und lehnt sich zurück.
»Mutter hat nicht viel Rente. Hat kaum gearbeitet, immer nur für uns Kinder dagewesen. Und mein Vater, der hat das meiste Geld durchgebracht mit trinken und was weiß ich was. Jetzt ist sie achtzig und wohnt drüben in Rösrath in einer Zweizimmerwohnung im Hinterhof einer Gaststätte. Der Besitzer der Gaststätte gibt ihr abends vom Essen, das zurückgeht. Ab und zu bringe ich ihr Geld, wenn ich was übrig habe.«
Sie öffnet die Kanne, schaut hinein und holt die Beutel raus, schenkt beiden vom Tee ein, tut sich zwei Kandis in die Tasse. Es knistert leise. Heinrich schlürft einen Schluck und schmatzt leise. »Schmeckt sehr gut, dein Tee. Genau richtig gezogen. Aber es fehlt noch was …« Er zieht einen Flachmann aus der Hosentasche, öffnet ihn und will vom Inhalt in den Tee gießen, als Annegret ihre Hand auf seine legt und mitsamt Flasche wegdrückte. Heinrich schaut überrascht auf, sieht ihre Augen feucht werden, den Mund zu einem bitteren, kühlen Lächeln verzogen.
»Tu das nicht, bitte. Mach es nicht kaputt.«
Erschrocken über ihren Gesichtsausdruck schraubt er den Deckel drauf und steckt ihn wieder ein. Er blickt betreten zur Seite. Annegret steht auf, kommt um den Tisch rum und drückt Heinrichs Kopf gegen ihre Brust. »Ist schon gut. Du kannst das ja nicht wissen. Ich mach dir einen Vorschlag: du badest, und ich mach das Essen. In Ordnung?«
»Ja, das ist eine gute Idee.« Er blickt sich suchend um, »aber … ich soll hier baden? Ich meine, während du das Essen machst?«
Annegret lächelt ihn an. »Warum nicht? Ich habe schon öfter badende Männer gesehen.«
»Nun ja, aber ich hatte noch keine kochende Frau neben der Wanne.«
Annegret lacht.
»Da ist mir gar nicht nach Lachen zumute. Ist mir eher peinlich.«
»Muss dir nicht peinlich sein. Ich kann ja ins große Zimmer. Einverstanden?«
»Einverstanden.«
Annegret geht zur Wanne und stellt das Wasser an, holt Shampoo, Seife und einen Waschlappen. Aus der Toilette bringt sie Rasierzeug, eine Bartschere, einen kleinen Spiegel und eine Garnitur Kleider. Sie stellt ihren Stuhl neben die Wanne und legt alles drauf. Heinrich begutachtet das Rasiermesser.
»Von deinem Mann?«
»Ja. Ich weiß nicht, warum ich es nicht in den Müll geworfen habe. Ein bisschen bin ich wohl auch zu faul.«
Heinrich schaut in der Küche umher und wiegt den Kopf von links nach rechts.
»Na ja, ein wenig vielleicht. Aber nicht viel. Ich hab schon wesentlich mehr Unordnung gesehen.« Er nickt Richtung Kleider. »Und die Kleider? Passen die mir?«
Annegret prüft die Wassertemperatur mit dem Handrücken. »Ist gut so. Genau richtig. Nichts wie rein! Und gut rasieren, bitte. Keine Angst, die Kleider passen dir. Da kenne ich mich aus.«

Sie verlässt die Küche und Heinrich zieht sich aus, ein Auge auf der Tür. Ein Bad in der Küche einer unbekannten Frau zu nehmen, ist einfach ein Grund sich unwohl zu fühlen. Er steigt in die Wanne, dreht den Hahn zu und gießt Rosmarinöl ins Wasser, das in einem kleinen Fläschchen in der Ecke steht. Ein würziger Duft breitet sich aus. Wie lange hat er nicht mehr ein so wohliges Gefühl verspürt. Er taucht bis zum Unterkiefer ein und schließt die Augen.
Annegret sitzt auf der kleinen Couch, liest im Goldenen Blatt, wird nach geraumer Zeit unruhig und legt die Zeitschrift beiseite. Vorsichtig späht sie durch die Tür. Heinrich schnarcht in der Wanne. Er hat sich rasiert und ist wohl eingeschlafen. Sie schleicht leise in die Küche und setzt Spaghetti auf. In der Truhe ist noch gefrorenes Hackfleisch. Schnell eine große Zwiebel würfeln, drei Knoblauchzehen, denkt sie und versucht sich zu erinnern, wann sie das letzte Mal für zwei Personen ein Essen zubereitet hat. Das Wasser kocht bald, die Spaghetti verschwinden darin, in der Pfanne brutzelt das Fleisch und Annegret spürt ein Gefühl von Geborgenheit aus einem tiefen Verlies aufsteigen. Ein lange vermisstes Gefühl. Heinrich räuspert sich hinter ihrem Rücken. Die Spaghetti sind al dente.
»Das ist nicht nett«, protestiert er. Annegret lachte. Sie kippte das Spaghettiwasser in die Spüle. Es dampfte ordentlich.
»Stell dich nicht so an. Wir sind doch keine vierzehn mehr. Wasch dich ab und komm raus. Das Essen ist gleich fertig.«
Die Flüssigkeit in der Pfanne ist fast verdampft. Annegret reduziert die Hitze, tut einen Becher Schmand dazu, ein Päckchen Gartenkräuter und einen Esslöffel Curry. Sie rührt das Hackfleisch um, lässt die Kräutersoße noch etwas einkochen und macht sich an die Knoblauchbutter. Es plätschert und gluckert hinter ihr. Ohne sich umzudrehen, weiß sie, dass Heinrich sich abtrocknete und anzieht. Kraftvoll zerdrückt sie Knoblauch mit dem Messer, gibt Schnittlauch und Kerbel in die Butter. Mit einer Gabel quetscht sie alles durch, stellt Baguette und Butter auf den Tisch. Den Inhalt der Pfanne gießt sie über die Spaghetti und rührt kräftig durch, stellt den Topf auf den Tisch und blickt endlich zu Heinrich. Sein Anblick ist beeindruckend.
»Na, wie sehe ich aus?«, fragt er stolz.
»Du siehst umwerfend aus. Ganz ehrlich. Ich bin platt.«
»Das hört man gerne.«
»Du scheinst zu wissen, dass du gut aussiehst, wenn Dreck und Bart ab sind. Na ja, also dann: zu Tisch.«
Heinrich setzt sich vorsichtig, als sei dies ein Märchen, schnuppert an den Spaghetti, Baguette und Knoblauchbutter. Seine Augen glänzen. »Das ist wie Weihnachten und Ostern an einem Tag.« Annegrets schmales Lächeln ist in diesem Augenblick etwas Vertrautes. Bevor er ins Grübeln kommt, tut er sich eine große Portion auf den Teller und fängt sogleich an zu essen, stockt aber mitten im Kauen. »Tschuldigung. Guten Appetit.«
»Macht nichts. Lass es dir einfach schmecken. Wer weiß, wie lange das Glück hält …«
Aber Heinrich hört nichts mehr. Er isst in atemberaubender Geschwindigkeit den Teller leer.

Mit einem letzten Stück Baguette reibt er den Topfboden blank. Annegret ist fasziniert von seinem Appetit. »Wow. Ich hab ja schon extra viel Spaghetti gemacht, aber du hast alles verdrückt. Selbst das zweite Baguette und die Knoblauchbutter sind weg. Dir muss doch jetzt schlecht sein. Oder?«
Mit einem großen Schluck Tee spült er die letzten Reste hinunter. »Nee, keine Sorge. Ich konnte schon immer viel essen.«
»Wie machst du das denn sonst? Ich meine, wenn du unterwegs bist. Da gibt es doch nicht immer so viel zu essen? Da musst du ja Hunger leiden.«
»Ach, das geht schon irgendwie. Es ist ja nicht so, dass ich immer so viel essen muss. Aber wenn ich die Möglichkeit habe, dann passt schon was rein. Im Übrigen war es ein hervorragendes Essen. Du bist eine ausgezeichnete Köchin.«
Heinrich steht auf und beginnt abzuräumen. Annegret bleibt sitzen, reibt die Finger der linken Hand. Seit gestern hat sie wieder diesen Ausschlag, der vor einem Jahr begonnen hatte. Zwischendurch juckt er fürchterlich. Dieser verdammte Ausschlag. Warum nur musste sie diesen Ausschlag bekommen?! Heinrich beugt sich über ihre Schulter.
»Was hast du da?«
Annegret zuckt zusammen und steckt hastig die Hand unter den Tisch.
»Ach, nichts. Nur ein Ausschlag.«
»Lass mal sehen, bitte.«
»Nein. Ist schon gut.«
»Na ja, dann eben nicht.«
Sie hört ihn Spülwasser einlassen und starrt auf den Tisch. Am liebsten wäre sie jetzt alleine. Der Wunsch kommt mit Macht. Warum nur habe ich diesen Mann mit zu mir genommen? Ich kenne ihn doch gar nicht. Was wird nun werden? Was, wenn er über Nacht bleibt? Auf die Idee kommt, sie zu vergewaltigen? Niemand wird es hören in diesem Haus. Hier ist allen alles scheißegal. Ohne es zu merken, fängt sie leise an zu wimmern, ein schwaches Schluchzen. Ein Zittern überkommt sie. Keine Kontrolle mehr. Wie durch einen Nebel verschleiert, spürt sie eine Hand weit weg auf ihrer Schulter. Ganz plötzlich lichtet sich der Nebel und die Hand wird Realität. Sie fährt ruckartig vom Stuhl hoch, dreht sich und trommelt mit den Fäusten auf den Mann ein, der direkt vor ihr steht wie ein Berg. Der schreit sie an, verwirrt vom plötzlichen Sinneswandel.
»Annegret! Ich bin‘s! Heinrich! Annegret!«
Annegret reagiert nicht, gebärdet sich, als wäre der Leibhaftige in sie gefahren. Heinrich versetzt ihr einen Schlag aufs Kinn. Sie sackt zusammen, die Beine angewinkelt, über die rechte Hüfte abgeknickt. Beide Arme unter dem Körper, liegt sie wie ein Fragezeichen auf dem Küchenboden. Heinrich setzt sich an den Tisch und trinkt die stille Reserve mit einem Schluck aus. Unruhig steht er wieder auf und durchstöbert die Küche nach irgendeiner Form von Alkohol. Unter der Spüle entdeckt er zwei Flaschen Rotwein, öffnet eine, indem er den Korken mit dem Zeigefinger in die Flasche drückt. Er klopft auf den Flaschenboden, schon gluckert die Luftblase nach oben und der Wein in seine Kehle. Die Verwirrtheit legt sich. Er geht zu Annegret, hebt sie hoch und legt sie im Zimmer nebenan auf die Couch. Dann setzt er sich wieder in die Küche und trinkt den Rotwein leer. Er ist sich nicht im Klaren darüber, was er tun soll. Sie aufwecken? Schließlich und endlich wird sie ihn bei der Polizei anzeigen wegen Vergewaltigung oder so was. Sie ist offensichtlich verrückt und Heinrich ihr auf den Leim gegangen. Wie man sich doch in einem Menschen täuschen kann. Den kleinen Zweifel an dieser These kann er jedoch nicht ausmerzen. Etwas, das ihn davon abhält, einfach zu gehen, sie liegenzulassen. Schließlich gibt es für alles einen Grund, wie er von sich selbst weiß.

Nebenan rührt sich etwas. Heinrich erstarrt und lauscht. Leises Weinen. Nachschauen oder sitzen bleiben? Er entscheidet sich für die zweite Flasche Rotwein.
»Heinrich?« Annegret ruft ihn. Eine andere Stimme. Wie mit der Schere zerschnitten. »Heinrich? Bist du noch da?« Soll er antworten? Nach kurzem Zögern gibt er nach, stellt den Rotwein auf die Seite.
»Ja, hier, hier bin ich, Annegret. In der Küche. Brauchst du was zu trinken?«
»Ja, bring mir bitte ein Glas Wasser. Und über der Spüle auf dem Bord ist eine Schachtel mit Pillen. Die brauche ich.«
Heinrich nimmt ein Glas, füllt es mit Wasser, greift nach den Tabletten und geht nach nebenan. Annegret sitzt mit angewinkelten Beinen auf der Couch, die Arme fest um ihre Beine geschlungen, Kopf auf den Knien. Er reicht ihr das Wasser.
»Gib mir bitte zwei von den Pillen.«
Er drückt zwei Stück aus dem Stanniol und legt sie auf Annegrets Handfläche. Zügig verschwinden beide im Mund, das Glas trinkt sie leer. Dann legt sie sich hin und beobachtet genau, was Heinrich tut. Ihre Augen sind hellwach und wandern unruhig hin und her. Heinrich hält es nicht mehr aus. Es platzt aus ihm heraus.
»Was, zum Teufel, ist denn da grade passiert?«
»Tut mir leid, dass du das mit ansehen musstest.« Sie sehen sich in die Augen, suchen nach einem Griff zum Festhalten. Aber da sind nur Fragmente eines weit entfernten Lebens zu erahnen. »Gleich werde ich einschlafen, Heinrich. Wirst du hier bleiben über Nacht?«
»Na ja, wenn du willst.« Er deutet auf den Boden. »Auf dem Boden schlafen macht mir nichts aus. Das bin ich gewohnt. Da liegen genug Decken …«
»Heinrich?«
»Ja?«
»Wirst du mir etwas tun, wenn ich schlafe?«
»Was?!«
Annegrets Augen fallen zu. Ihre Stimme wird schläfrig. »Ich habe Angst«, sagt sie leise. Heinrich streckt die Hand aus, zieht sie auf halbem Weg zurück, gibt sich aber dann einen Ruck und berührt ihre Hände, die sie auf dem Bauch übereinander gelegt hat.
»Ich habe noch nie jemandem etwas getan, Annegret. Nur mir selbst.« Mit einem Zwinkern verkneift er Tränen, den Blick zurück, atmet tief ein und verdrängt die aufkommenden Bilder. Etwas tun ist gut. Er legt eine Decke über Annegret, geht in die Küche, um die zweite Flasche Wein zu öffnen.

Heinrich schaut auf die kleine Küchenuhr. Drei Uhr in der Nacht. Die zweite Flasche ist schon längst leer und er wird langsam unruhig. Der fehlende Alkohol treibt ihn durch die Wohnung, auf die Suche nach Hoch- oder Niederprozentigem, egal was. Aber da ist nichts. Völlige Leere. Nicht mal Reste. Er denkt daran, die Wohnung zu verlassen, um sich etwas zu besorgen. Aber würde er zurückkehren? Und Annegret? Er will sie nicht enttäuschen. Da ist ein dünnes Band zwischen ihm und ihr. Wie der Suchfaden, den eine Spinne in den Wind schickt, damit er sich irgendwo festsetzt. Zu filigran, um bemerkt zu werden. Ein kurzes Wischen übers Gesicht. Heinrich sitzt in der Falle.
Auf dem Tisch liegen zwei Fotoalben. Hat er beim Stöbern entdeckt. Vorsichtig öffnet er das erste, fühlt sich aber sogleich ertappt. Annegrets Fotoalben, vielleicht Bilder aus ihrer Vergangenheit, die niemand sehen sollte. Aber Heinrich ist zu neugierig, schluckt das schlechte Gewissen mit einer Tasse kaltem Darjeeling runter und betrachtet die Fotos. Auf dem ersten sind Annegret und ein Mann im Winter. Heinrich schaut aus dem kleinen Fenster. Es hat aufgehört zu schneien, aber im fahlen Hinterhoflicht erkennt er, dass der Schnee recht hoch liegen muss. Unter oder neben den Fotos finden sich keine Notizen. Hier ein Fußballplatz, viele Leute, Annegret ist nicht zusehen. Auf den folgenden Seiten taucht der Mann an Annegrets Seite immer wieder auf. Partys, vielleicht Geburtstage, Ostern, Weihnachten. Auf den nächsten Bildern ist im Hintergrund die Hohenzollernbrücke. Zwei Seiten weiter stehen beide am Meer. Vielleicht die Nordsee, die Ostsee ist meist glatter, ruhiger, nicht so rau. Eine der friesischen Inseln vielleicht. Am Ende stecken nur noch lose Fotos. Die Aufnahmequalität ist durchweg schlecht, Kodak Instamatic, Polaroids. Er klappt es zu und schaut ins zweite.

Da ist er wieder, der Mann. Auf der zweiten Albumseite steckt im Bund ein loses Blatt Thermopapier. Heinrich drehte es um. Eine Ultraschallaufnahme. Eindeutig ein Fötus. Die Luftfeuchtigkeit hat dem Bild stark zugesetzt. 1992 im Dezember. Annegret war damals schwanger! Von diesem Mann? Aufmerksamer als bisher mustert Heinrich die Fotos. Die Bilder verändern sich. Der Mann verändert sich. Mit fortschreitendem Datum frieren seine Gesichtszüge ein, wirken fremder, unnahbarer. Annegret lächelt durchweg, grinst, zeigt ihre wunderschönen Zähne, ihr fein gezeichnetes Gesicht, Sommersprossen. Die sind mir gar nicht aufgefallen, wundert sich Heinrich und blättert weiter und weiter. Der Sommer geht vorbei, Annegret ist hochschwanger. Dann nichts mehr. Fotos sind herausgerissen, zum großen Teil jedenfalls. Mal ein Bild von einem Auto, einem Haus, zwei leere Seiten, dann das Bild irgendeines hellen Zimmers mit gelben Gardinen. Kein Mann mehr, keine Annegret, kein Kind. Kein Leben mehr. Heinrich klappt das Album zu.
Was war passiert? Er räumt alles wieder auf, macht sich auf die Suche nach weiteren Hinweisen; aber da ist nichts. Keine Briefe, keine Unterlagen, nur das Übliche. Miete, Versicherung, Nebenkosten, LVA Nordrhein-Westfalen. Heinrich fühlt ein Loch. Es gibt nun etwas, das er von Annegret erfahren möchte und gleichzeitig zieht ihn alles von hier hinaus auf die Straße, Vor allem der fehlende Alkohol. Inzwischen brennt der Durst in ihm wortwörtlich. Das Venenbrennen, wie es ein Doktor mal beschrieb. Vielleicht ist es besser zu schlafen. Offenbar haben diese blauen Pillen eine enorme Wirkung. Er steht auf, holte sich zwei aus dem Stanniol, überlegt kurz und kommt zu dem Ergebnis, dass Tabletten Alkohol durchaus ersetzen können, also drückt er zwei weitere auf den Tisch, findet das zu wenig, lässt noch zwei folgen, schluckt alle mit kaltem Tee runter. Dann legt er sich neben Annegrets Couch auf den Boden und deckt sich zu. Solange es ihm möglich ist, stützt er sich auf einen Ellenbogen und betrachtet ihr Gesicht. Sie ist sie sehr schön, bezaubernd fast. Etwas Bleiernes breitet sich wie schwere Dünung in ihm aus. Sein Herz klopft. Seufzend legt er den Kopf auf ein kleines Kissen und schläft ein.

Als Annegret erwacht, spürt sie einen dumpfen Schmerz im Hinterkopf. Sie weiß nicht sofort, wo sie ist und kann die Stille um sie herum nicht einordnen. Nur in blassen Bildern erinnert sie sich an ein Essen, an Schreie, einen Schlag, an plötzliche Dunkelheit. Sie dreht sich mühsam auf der Couch, sieht Heinrich und schreckt hoch. Die Einzelheiten sind wieder da. Ihr Abdriften in die Panik. Ausnahmezustand. Heinrich reagiert, indem er ihr eine Ohrfeige verpasst. Jetzt dreht er ihr den Rücken zu und schläft tief und fest. Vorsichtig winkelt sie die Beine an, steht auf, macht einen großen Schritt über ihren Gast und geht in die Küche. Dort sieht sie die leeren Weinflaschen. Er hat sie also gefunden. Aber sie wird nicht böse. Natürlich hat er nach Alkohol gesucht. Doch er ist geblieben, hat sie nicht verlassen. Hätte ja auch einfach gehen können, was zu trinken besorgen, um dann benebelt in einen vergessenden Schlaf zu fallen, irgendwo in der Stadt. Fernab von Annegret. Mit einem Gefühl der Rührung und Dankbarkeit räumt sie die Flaschen weg und nimmt den Geldbeutel. Sie hat plötzlich die Idee, bei Merzenich ein paar frische Brötchen zu holen, Kaffee zu machen, ihm auf diese Art zu danken. Voller Vorfreude holt Annegret den Mantel, zieht ihn über. Dabei betrachtet sie Heinrichs Gesicht. Tiefe Furchen, der Nasenrücken schmal. Exakt gezogene Augenbrauen. Vielleicht liegt da etwas, das sich lieben lässt. Lieben. Füreinander sorgen, so wie gestern Abend. Sie schnappt nach dem Schlüssel, verlässt zügig die Wohnung, durch den dunklen Flur hinaus in die Kälte, in den überraschend hohen Schnee. In die Stille. Nur wenige Autos. Die Straßenbahn, aber so leise, wie schwebend auf den weißen Straßen. Annegret atmet tief die kalte Luft ein. Der Atem verlässt ihren Mund als dicker Nebel. Sie pustet einige Wolken hinterher und sieht dann hinüber zu Merzenich. Er hat offen. Die Bilder in ihrem Kopf sind verschwunden. Da ist ein Gefühl von Verliebtsein. Viel stärker als vorhin. Es ist richtig, was ich tue. Es ist richtig, wie sich das anfühlt. Mit einem Jauchzer macht sie einen Sprung auf den Bürgersteig und wäre fast ausgerutscht. Ich werde wieder jemanden lieben, denkt sie, und bestimmt wird er auch mich lieben. Ich bin gut zu ihm und er wird gut zu mir sein. 59 ist er? Was sind schon 59 Jahre? Und das mit dem Alkohol werden wir schaffen. Annegret schlittert mehr als dass sie geht über den kaum sichtbaren Zebrastreifen. Lächelnd betritt sie die Bäckerei und bittet das junge Mädchen hinter der Theke, zehn Brötchen einzupacken. Davon würde Heinrich gut und gerne acht Stück essen. Sie muss plötzlich lachen und die Verkäuferin grinst in ihre Auslage. Annegret bezahlt und macht, dass sie wieder nach Hause kommt.

Behutsam öffnet sie die Wohnungstür, zieht den Mantel aus. Heinrich schläft immer noch. Mit beiden Händen hält sie die Brötchentüte fest, damit es nicht so raschelt, geht in die Küche, stellt Kaffeewasser auf, holt aus der Tischschublade eine rote Tischdecke und bereitet den Frühstückstisch. Im Kühlschrank sind noch vier Eier. Die wird es geben. Vom Bord holt sie Marmelade und Rübenmelasse. Dabei fällt ihr Blick auf die Tabletten. Die Schachtel ist nicht zu! Sie erinnert sich, Heinrich gebeten zu haben, ihr zwei Stück zu bringen. Aber es fehlen diese zwei und noch mal sechs Stück! Da ist sie sich absolut sicher. Ein Gedanke wie ein Blitz, so schmerzhaft grell. Heinrich könnte von den Tabletten genommen haben, um besser schlafen zu können. Sehr starke Beruhigungstabletten, die sie vom Arzt für außergewöhnliche Situationen bekommen hat. Panikzustände! Nehmen sie immer nur eine!, hat der Arzt ihr eingebläut. Und niemals Alkohol dazu! Annegrets Bewusstsein taucht ins Eisbad. Ihr Herz poltert und sie stürzt ins Wohnzimmer.
»Heinrich!«, schreit sie, kniet, greift die Schulter und rüttelt ihn. Er rührt sich nicht. Ein weiteres Mal mit all ihrem Gewicht. Heinrichs Körper verliert die Stabilität, rollt auf den Rücken. Annegret stockt der Atem.
»Heinrich?«
Kalt und fahl. Das ist, was sie sieht und fühlt, als sie die Hand auf seine Wange legt. Ungestüm schlägt sie auf seinen Mund, die Nase, drischt auf den Kopf ein und ruft den Namen, der ihr so gefällt. Alles verhallt ungehört zwischen den hohen Wänden. Heinrich ist tot. Annegret steht auf, zieht den Mantel an und verlässt die Wohnung. Durch den dunklen Flur, hinaus bis zur Stufe vor dem Bürgersteig. Da steht sie und sieht durch Tränen ein paar Menschen an sich vorbei kommen.
»Hilfe …«, sagt sie leise.

Diese Geschichte

Geschrieben im Jahr 2009. Wenn ich mich recht erinnere, ein Wettbewerb für eine Weihnachtsgeschichte. Allerdings ist Weihnachten ja immer Hoffnung und Licht und so Zeug. Naturgemäß habe ich mit diesem Text nicht gewonnen. Aber egal. Mir gefällt sie. Vor allem ist es ein Zusammenschnitt aus Erlebtem. Denn wer kennt sie nicht, all die kleinen Situationen, die einsamen Menschen, das Klammern an jeden noch so winzigen Fetzen Hoffnung oder Rettung. Im Übrigen gilt: So oder ähnlich könnte es sich abgespielt haben. Ihr wisst ja: Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder verstorbenen Personen ist rein zufällig. Inzwischen habe ich den Text mehrfach überarbeitet. Vor allem in die Gegenwart geholt. Ich finde, der Kontakt zu den Leser:Innen ist auf diese Art intensiver.

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Heiko

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