Marion

KURZGESCHICHTE | Je näher ich dem Chlodwigplatz komme, desto lebendiger wird alles um mich herum. Menschen, parkende Autos in Doppelreihe, Teppich ausladende Türken vor dem Orient-Shop. Der Kiosk, der rund um die Uhr Kölsch bereit hält. Die Damen mit ihren blauen, grünen und orangenen Haushaltskitteln, ärmellos und ohne sonstige Kleidung darunter, Tüten von Penny balancierend oder palavernd im Hauseingang stehend. Ich entschließe mich, noch etwas zu essen und fahre über die Siegfriedstraße in die Alteburger Straße. Dort gibt es die beste Gyros-Bude nördlich der Alpen. Nur ein Schnellimbiss, aber in einem Hinterzimmer stehen fünf Tische, ein Kühlschrank mit Fernseher oben drauf. Die Chefin ist Griechin. Früher sagten wir: Kommt, wir gehen zu Mama, was einwerfen. Mit Mama meinten wir natürlich die Chefin, herb, attraktiv und jederzeit alles im Blick. Die Chefin war streng, ihre Töchter trauten wir uns nicht anzusehen. Das Essen jedoch ausnahmslos selbst zubereitet und es schmeckte fantastisch. Alle wurden mehr als satt und für die Menschen ohne Obdach gab es ein Kölsch und eine große Portion Gyros. Das Herz der Chefin war groß und viele hatten Platz darin. Es war ein Stück Heimat.

Ich finde tatsächlich einen Parkplatz unter den Bäumen und gehe mit einem Kribbeln im Magen zum Lokal. Davor stehen Alte, Junge, Verwahrloste, Geschäftsleute, fast dasselbe Bild wie vor Jahrzehnten. Die Jahreszeiten wechseln, nicht die Menschen. Ich zwänge mich hindurch und bin im Laden. Da steht sie und delegiert, hat alles im Griff. Zu keiner Zeit gab es hier drin Menschen, der ausfällig wurde. Jeder hat sich benommen, so gut es sein Zustand erlaubte. Streit blieb immer vor der Tür.
Die Chefin schaut mich an und fragt, was ich essen will. Gyros mit Pommes und alles an Beilagen, zum hier essen. Eine Cola dazu, bitte. Ich gehe durch den kleinen Durchgang nach hinten. Der Tisch rechts im Eck ist frei. Ich setze mich und prompt bin ich ein Gestrandeter in der Zeit. Ob diese Tischdecke noch meinen Namen kennt? Dieser Stuhl meinen Hintern? Die Wand meine suchenden Blicke?

Es gibt einen neuen Fernseher, LCD-Modell, aber es läuft noch immer RTL. Die Tochter bringt das Essen. Es riecht herrlich. Danke, sage ich und versuche, ihr in die Augen zu sehen. Wie wir alle, ist auch sie älter geworden. Ich starre auf den Teller und trinke einen Schluck Cola. Am Tisch vor dem Kühlschrank, auf dem der Fernseher steht, sitzt ein Mann in meinem Alter und rechts an der Wand, am kleinen Tisch, eine Frau. Wesentlich älter als ich. Stammkundschaft. Es ist die Art, wie sie ihre Reissdorf-Flaschen halten. Aus Gläsern trinken sie schon seit Jahrzehnten nicht mehr. Die Chefin lässt sie alle sitzen, sofern sie Platz haben. Egal wie lang. Sie trinken ihr Kölsch, haben ihre festen Zeiten, ihren festen Blick, ihr festes Programm. Kölsch und RTL. Zuhause gibt es nur Suppe, Brot mit der Wurst von Penny. Zuhause ist nicht daheim. Hier ist Daheim. Die Chefin sagt nicht viel zu ihnen, gibt keine Ratschläge, aber weiß Bescheid und hat immer einen Platz. Ich fange an zu essen.

Die Zwiebeln sind angenehm scharf, das Tsatsiki mit viel Knoblauch, das Fleisch knusprig. Natürlich, der Michelín-Führer hat noch keinen Stern hier verloren, er ist vielleicht mal vorbeigefahren. Die ältere Frau kommt vom Klo und zieht einen strengen Geruch hinter sich her. Zwei-Sterne-Geruch. Schnell tauche ich die Nase in das Cola-Glas. Sogar die Cola schmeckt hier besser. Meine Blick geht über den Glasrand zum Durchgang. Eine Frau kommt herein und setzt sich an den Nachbartisch. Sie hat dunkelblondes Haar, mit Gel nach hinten gezogen. Die Haare verschwinden in der Kapuze eines Bundeswehr-Parkas. So einen Parka, wie wir ihn in den Siebzigern immer getragen haben. Er muss so alt sein, denn er hat Löcher und Flecken und hält sicher nicht mehr so warm, wie er sollte. Ihr Gesicht ist mit viel Schminke retuschiert.

Bei genauerem Hinsehen fällt mir ein lange vergessenes Gesicht ein. Bekannte Züge, vertraute Mimik. Fast trifft mich der Schlag. Kribbeln im ganzen Körper. Das gibt es doch nicht. Ich beobachte sie genauer, langsam das Gyros kauend. Die Tochter bringt ihr ein Glas und eine Flasche Retsina. Wie schauerlich. Griechischer Wein, das lass sein. Sie schenkt sich ein und nimmt einen ausgiebigen Schluck. Die Hände, die ihr Glas halten, sind alt, zerfurcht. Sachte zitternd stellt sie es auf den Tisch. Ihr Blick fällt auf mich. Sie muss bemerkt haben, wie ich sie anstarre. Ist sie es oder nicht? Sie ist es. In diesen Augen sehe ich Dinge aus vergangenen Tagen.
»Marion? Bist du es?«
Ich nehme allen Mut und setze mich an ihren Tisch, ihr gegenüber. Sie ist es. Ohne jeden Zweifel. Es dauert ein Weilchen, bis meine Worte zu ihr durchdringen. Sie schaut mich ungläubig an. Dann plötzlich zuckt ein schmales Lächeln über ihre Lippen.
»Oh, he, sag bloß … Heinrich, ist das echt wahr?«
»Ja, ich bin es.«
»Jetzt weiß ich gar nicht, was ich sagen soll? Das ist so lange her. Bestimmt …«
»Über zwanzig Jahre«, nicke ich ihr zu.
Sie blickt an mir vorbei und dreht das Glas in den Händen. »Zwanzig Jahre …«
»Um genau zu sein, es sind vierundzwanzig Jahre.«

Ich hole Teller und Cola herüber. Ihr Blick ist ungläubig, die Lippen verschließen sich für einen Moment zum schmalen Strich. Ich erinnere mich an ihre Lippen, die früher einmal voller Sinnlichkeit und rosafarbener Pracht waren. Jetzt sind sie schmal geworden, hart. »Mensch Marion, damit hätte ich niemals gerechnet, dich hier und jetzt zu treffen. Was für ein unglaublicher Zufall.«
»Vielleicht Schicksal?«
»Vielleicht«, erwidere ich kauend. »Möchtest du was essen? Komm, ich lade dich ein.«
»Nein, lass mal. Ich bin nicht hungrig. Ich lade dich ein zu einem Glas Wein. Trink mal die Cola aus, damit ich einschenken kann.«
Ich behalte meine Meinung über griechischen Wein für mich und trinke das Glas leer. Marion schenkt voll. Wir stoßen an. »Auf das Schicksal«, sagt sie.
»Oder etwas anderes.«
Wir trinken und meine Meinung zum Retsina bestätigt sich. Der harzige Geschmack sorgt für Verstimmungen in meinem Magen. Aber schlimmer noch ist unser Schweigen. Vierundzwanzig Jahre altes Schweigen. Das Königsblau ihrer Augen ist zu einem farblosen Einerlei geworden. Wie auch immer das geschehen konnte. Ich sehe es noch deutlich vor mir. Ein Blau wie aus einem Gemälde. So klar und massiv, dass es mir nie aus dem Gedächtnis ging.
»Was ist mit deinen königsblauen Augen passiert?«, frage ich. Sie schüttelt nur den Kopf und legt eine Hand auf meinen Arm. Ihre Haut ist rau und trocken. Fast denke ich an die Berührung einer alten Frau, aber ich schüttle diesen Gedanken ab. Sie gießt sich das Glas wieder voll und trinkt es in einem Zug aus. Langsam setzt sie es ab und betrachtet es eine Weile. Dann wiederholt sich der Vorgang. Die Flasche ist leer und sie schaut mich an.
»Ich muss gehen, Heinrich.«
»Was?! Wohin denn?«
»Einfach raus hier.«
»Ich komme mit.« Den halbvollen Teller stelle ich der alten Frau auf den Tisch. »Guten Appetit. Bin leider satt.« Bevor sie reagieren kann, bin ich weg.
Ich bezahle und wir verlassen den Schnellimbiss, erzähle Marion, dass ich morgen zur Photokina will. Nachdem sie hört, ich wolle im Auto übernachten, lädt sie mich zu sich ein. Ich stimme zu. Obwohl mir nicht ganz wohl bei diesem Gedanken ist. Vierundzwanzig Jahre sind eine lange Zeit. Menschen verändern sich. Was man sieht, ist oft nur das Bild aus der Erinnerung. Wenn man dann wirklich hinschaut auf denjenigen, den man vierundzwanzig Jahre später vor sich hat, ist man schockiert. Die Erinnerungen sind eine schwache Bande, brüchig wie alte Rinde in trockener Wüstenluft.
Marion geht schnell. Sie zieht ihr rechtes Bein nach. Der Parka ist ihr mindestens eine Nummer zu groß. Ich laufe halbrechts hinter ihr und beobachte sie. Sie bewegt sich, als wäre sie an das Alleinsein gewöhnt. Wir erreichen den Chlodwigplatz und überqueren ihn. Einkaufen müssen wir noch. Ein paar Kleinigkeiten, meint sie. Die Kleinigkeiten bestehen hauptsächlich aus Wein, Kaffee, Brot und einer Flasche Jim Beam. Marion wohnt am Severinswall, gerade ums Eck. Ich halte ihre Einkäufe, während sie die Haustür aufschließt. Im Briefkasten steckt nur Werbung, die sie umgehend im Nachbarbriefkasten versenkt. Im Treppenhaus riecht es nach Gewürzen aus aller Welt, Curry, Kreuzkümmel, ein intensives Gemisch. Ihre Wohnung ist im ersten Stock, die Küche nach Norden. Ein dunkles Loch. Nur das Wohnzimmer liegt nach Süden und ist hell. Ich stelle die Einkäufe auf den Küchentisch.

»Mach dir doch einen Kaffee. Ich ziehe mich schnell um.«
»Okay«, sage ich und mache mich auf die Suche nach einer Kaffeemaschine, aber das ist nicht so einfach. Die Küche ist zusammengestückelt. Eine Standardspüle, ein alter Gasherd, ein alter Küchenschrank, Gelsenkirchener Barock. Tisch, Ablagen und Arbeitsplatten sind wohl Eigenbau. Ich schaue in jeden Schrank, unter die Arbeitsplatten, ich finde keine Kaffeemaschine. Dafür einen Plastikfilter, Filterpapier und eine große Blechkanne. Sie wird ihren Kaffee frisch brühen, denke ich. Im Wasserkocher mache ich Wasser warm, setze den Filter auf die Kanne, gebe Filterpapier und Kaffeepulver hinein und etwas Salz. Marion steht plötzlich in der Tür und beobachtet meine Bemühungen.
»Du musst entschuldigen. Ich habe keine Kaffeemaschine.«
»Das macht nichts. Ich krieg das schon hin.«
Sie hat sich eine Jogginghose angezogen und einen Norwegerpullover. Ich meine, dass ich diesen Pullover schon einmal gesehen habe. »Sag mal, das ist aber nicht derselbe Pullover, den du damals am Tanzbrunnen getragen hast, oder?«
»Doch. Ich hab ihn nicht oft an. Dass du dich daran erinnerst …«
»Ich erinnere mich an alles.«
Das Wasser beginnt zu kochen und ich gieße langsam den Kaffee auf. »Was ist mit deinem Bein?«, frage ich, sorgfältig den Kaffeefilter beobachtend.
»Mein Bein? Ja, mein Bein … was ist damit? Das ist schnell erzählt. Da bin ich mal aus dem Fenster gesprungen und eben auf meinen Beinen gelandet. Ich hab mir den Oberschenkel gebrochen. Seither ist das Bein etwas verkürzt und ein bisschen steif.«
Ich bin mir nicht sicher, dass ich das richtig verstanden habe und gehe ihre Worte im Stillen noch mal durch. Aus dem Fenster gesprungen. Marions Gesicht ist ganz ohne Regung. Das letzte Wasser läuft durch den Filter. Auf einem Bord entdecke ich große Becher. Ich stelle uns je einen buntbedruckten Garfield-Becher auf den Tisch.
»Du bist aus dem Fenster gesprungen?«
Sie lacht bitter. »Hättste nicht gedacht von mir, oder?«
»Nein. Niemals. Möchtest du Milch?«
»Ja, bitte.«
Im Kühlschrank finde ich Milch und stelle sie auf den Tisch. Dann nehme ich den Filter von der Kanne und schenke uns ein. Er riecht gut, der Kaffee. »Entschuldige, aber deine Erklärung ist nicht so umfangreich, als dass ich es verstehen könnte.«
Marion gießt etwas Milch in den Kaffee und hebt die Tasse mit beiden Händen. Sie trinkt einen kleinen Schluck. »Ich wollte mich umbringen. Mehr nicht. Aus dem Fenster springen und umbringen. Nicht mehr leben. Und was hast du so gemacht, um dein Leben zu verbessern?«
Das Herz rutscht mir in die Hose. Mit Mühe unterdrücke ich den Impuls die Wohnung verlassen zu wollen, diese vierundzwanzig Jahre Abgrund zwischen uns aus meinem Leben zu reißen. Ich atme tief durch, trinke einen Schluck Kaffee. Marion beobachtet mich genau und übersieht nicht meine feucht gewordenen Augen. Was habe ich getan, um mein Leben zu verbessern?
»Du weißt, was passiert ist. Die Umstände haben mich von dir fortgezogen, in den Süden. Heute bin ich verheiratet, habe zwei Kinder.«
»Echt?«, fragt sie erstaunt. »Das hätte ich jetzt nicht von dir gedacht. Oder besser vermutet. Du und Kinder? Und heiraten? Die Unabhängigkeit in Person hat geheiratet und zwei Kinder, ts.«

»Na ja, dass du mal aus dem Fenster springen würdest, hätte ich im Leben nie vermutet. Aber die Wege des Herrn sind unergründlich.«
Sie sieht mich misstrauisch an. »Bist du etwa auch noch religiös geworden?«
Ich lache amüsiert. »Nein, keine Panik. Ich gehöre zum letzten Aufgebot des Atheismus.«
Marion lehnt sich zurück und sieht mich an. Wie alt er doch geworden ist, wird sie denken, dann entkorkt sie den Rotwein und schenkt uns ein.
»Ich habe jetzt Hunger«, behauptet sie.
»Lass mich dir was zu essen machen.«
Sie nickt und trinkt das Glas leer. Dann greift sie nach dem Jim Beam und schraubt die Flasche auf. Bevor es ausartet, stehe ich auf und schaue mich um. Das Nahrungsmittelangebot ist nicht gerade üppig. Offenbar ernährt sie sich in der Hauptsache von Kaffee, Wein, sauren Gurken und Knäckebrot. Ich finde im Tiefkühlfach Gemüse, taue es mit warmem Wasser auf, tupfe es trocken und gebe es zusammen mit Eiern, Zwiebeln, Knoblauch in die Pfanne und brate ein großes Gemüseomelette.

Während ich nur ein paar Gabeln vom Omelette esse, verdrückt Marion den Rest.
»Heinrich, ich habe lange nicht mehr so gut gegessen.«
»Danke. Und ich habe schon lange nicht mehr einen so schlechten Wein getrunken.«
Sie stellt das Glas ab und blitzt mich für eine Sekunde mit den Augen an. Das ist er, der Blick, den ich von ihr kenne. Früher konnte sie mit den Augen ganze Geschichten erzählen. Aber es ist schon wieder vorbei. Die Leere ist zurückgekehrt. »Wenn du nicht du wärst, dann hätte ich dich jetzt rausgeschmissen«, sagt sie mit schwacher Stimme. »Was ist an dem Wein auszusetzen?«
»Vergiss den Wein, Marion. Ist nicht so wichtig. Eigentlich wollte ich dich nur provozieren. Ich wollte sehen, wo die Marion ist, die ich kannte. Das Äußere bist du, aber wo ist dein Feuer? Du bist eine völlig andere. Springst aus dem Fenster, deine Augen sind so leer … was ist passiert?«
Für einen Moment sitzt sie wie aus Blei gegossen auf dem Stuhl. Bevor das Gewicht ihrer Erinnerungen sie erdrücken kann, steht sie auf und verlässt die Küche.

Ich nehme einen Schluck Jim Beam aus der Flasche und räume den Tisch ab. Das Geschirr habe ich schnell gespült und verstaut. Auf dem kleinen Gewürzbord über dem Gasherd entdecke ich Zimt, Sternanis und Nelken. Ich entschließe mich, einen Glühwein zu machen. In einen Topf gebe ich die Gewürze, koche sie mit Wasser aus und kippe den Rotwein hinein. Vom Herd nehmen und mit Zucker abschmecken. Zum Schluss etwas Jim Beam dazu. Noch mal erwärmen und fertig ist er. Mein Blick geht zur Uhr. Es ist schon acht. Draußen hat sich die Dämmerung schnell ausgebreitet. Hier drin ist es still. Einsam. Wie früher, denke ich. Fühle ich. Ich bin in der Vergangenheit. Der Zeitfluss ist in die Erdkruste abgetaucht, plötzlich verschwunden.

Nach einer Stunde Alleinsein in der Küche, werde ich mal nach Marion sehen. Mit einem Becher Glühwein in der Hand gehe ich ins Wohnzimmer. Da liegt sie auf der Couch. Arme und Beine angewinkelt. Wie ein Fötus. Die Hände hat sie vors Gesicht gelegt. Ich beuge mich zu ihr runter. Aus den Augenwinkeln läuft eine Spur Kajalstift über die Nasenflügel. Tränen. Ihr Atem geht ruhig. Sie scheint zu schlafen. Vorsichtig schaue ich mich nach einer Decke um. Auf einem abgewetzten Ohrensessel liegt eine Art indianische Wolldecke. Ich breite sie sorgfältig über ihr aus. Leise gehe ich zum Wandregal und suche nach einem interessanten Buch. Bonjour Tristesse sehe ich da, Die Geschichte der O., Der Fremde, Bücher aus vergangenen Tagen. Und tatsächlich … alle Bücher sind älteren Datums. Vergilbt, abgegriffen, geknickt, immer wieder gelesen. Ich gehe die Reihen mit dem Finger durch. Es gibt neues Buch. Sie liest nicht mehr, denke ich. Das, was ihr so wichtig war, das Lesen, ist aus ihrem Leben verschwunden.

Auf dem Couchtisch entdecke ich einen Stapel Zeitschriften, hauptsächlich Stern, ein paar Neue Revue und sogar das Goldene Blatt liegt da. Meine Güte, das Goldene Blabla. Hat sie sich die etwa selbst gekauft? Ich setze mich in den Ohrensessel und fange an, den Stern zu lesen. Seite um Seite. Heft um Heft. Als es zu dunkel ist zum Lesen, mache ich das kleine Lämpchen hinter dem Sessel an. Ich versuche, so leise wie möglich zu sein. Marion schläft ruhig auf der Couch. Man kann kaum ihren Atem vernehmen. Ich kann nicht gerade behaupten, dass ich mich hier wohl fühle. Am liebsten würde ich jetzt gehen. Die Nacht irgendwo alleine verbringen. Es ist unerträglich hier drin. Zum Ersticken.

Ich bin wohl irgendwann eingeschlafen. Es ist noch dunkel, als mich jemand schüttelt, mich leise ruft. »Heinrich?«
»Hm?«
»Komm, wir gehen ins Bett.«
Ich realisiere langsam, wo ich bin und was sie gesagt hat. »Nein, lass mal. Ich schlafe hier ganz gut.«
»Wir könnten ein bisschen kuscheln. Wie früher. Uns spüren. Das war immer schön.«
Ich richte mich auf. Sie kniet links von mir und stützt sich auf der Armlehne ab.
»Marion, das geht nicht.«
»Wir haben uns geliebt, Heinrich«, flüstert sie.
»Und wie. Es ist immer noch in mir drin.«
Das schwache Licht klaut den Rest Königsblau aus ihren Augen.
»Hast du dich damals schuldig gefühlt, als du gegangen bist?«
Ihre direkte Frage trifft mich und mehr als weinen kann ich nicht. Die Rettung kam weder damals noch kommt sie jetzt.
»Ich möchte dich noch mal lieben«, bittet sie mich.
Ich schüttele den Kopf.
»Mh, ich versteh schon. Du bist verheiratet. Okay.«
»Auch wenn ich nicht, es wäre trotzdem falsch. Wir wären nur enttäuscht.«
Sie nickt. »Vielleicht hast du ja recht. Tut mir leid, dass ich dich drängen wollte.«
»Erzähl mir, warum du aus dem Fenster gesprungen bist? Warum bist du vorhin einfach aus der Küche raus? Warum hast du geweint?«
Sie schaut mich überrascht an. »Interessiert dich das wirklich?«
»Hätte es mich früher interessiert?«
»Natürlich.«
»Manche Dinge ändern sich nicht. Fang an.«
Sie setzt sich links vom Sessel auf den Boden. Ich kann ihren Hinterkopf sehen, aber nicht ihre Augen.

»Ich war nie verheiratet wie du. Aber eines Tages hatte ich ein Kind. Ein kleines Töchterchen. Du weißt noch in etwa, was ich früher gemacht habe?«
»Hm, ich meine, du warst Sozialarbeiterin im offenen Strafvollzug, oder?«
»Ja, das stimmt. Ich war dort für die Drogenabhängigen zuständig. Das war ich so vier, fünf Jahre. Dort drin wurde ich selber drogenabhängig. Ich war zwei Mal auf Entzug. Dummerweise bin ich von dem Typ nicht losgekommen.«
»Von welchem Typ?«
Sie gibt ein gequältes Lachen von sich.
»Der Typ, dem ich die Sucht zu verdanken habe … und mein Kind.«
»War das ein drogenabhängiger Knastologe?«
»Knastologe ja, aber nicht abhängig. Nur Dealer. Ich hab ihn über einen Klienten von mir kennengelernt. Bei einem Freigang haben wir ihn besucht. Ich war hin und weg. Ein schöner Kerl. Ich weiß auch nicht, was da in mich gefahren ist. Eines Tages bin ich aufgewacht und hab ihn verlassen. Da stand meine Beamtenlaufbahn schon auf der Kippe und ich mit einem Bein im Knast. Hab die Koffer gepackt und bin gegangen. Das war zu viel für ihn. Einen Mann wie ihn verlässt man nicht.«

Sie macht eine Pause und legt ihre Hand auf meinen Oberschenkel, fährt Kreise mit den schmalen Fingern. »Bald darauf bin ich wieder zu ihm zurück. Ich hatte doch niemanden. Du warst nur noch eine verblassende Erinnerung. Einfach weg.« Ein leichtes Zittern fährt durch ihren Körper. Ich schaue durch die Scheibe nach draußen. Der Hinterhof ist dunkel. Nur in einigen Fenstern brennt noch Licht. Die Uhr zeigt halb zwei.
»Schließlich hab ich gefixt, mich betäubt, immer mehr die Welt vergessen. Als meine Vorgesetzten merkten, dass ich abhängig bin, kam ich auf Entzug. Das hat nicht viel geholfen. Bald danach der zweite Entzug. Ich war schwach. Meine Welt geriet aus den Fugen. Auch nach dem zweiten wurde ich wieder rückfällig. Ich brauchte das Zeug. Also bin ich wieder zu ihm zurück.«
»Zum Arschloch?«
»Ja. Und das Arschloch hat mich arbeiten lassen für den Stoff, den ich von ihm bekam. Du kannst dir denken wo …«
»Ich kann es mir denken.«
»Dann wurde ich schwanger. Ich hab bis zum achten Monat angeschafft. Männer stehen auf sowas, habe ich gelernt.« Sie schweigt.
»Erzähl weiter.«
Sie holt tief Luft. »Mein Kind kam, ein Töchterchen, eine kleine Janine. Wunderhübsch. Von Geburt an abhängig. Einen Entzug haben die Ärzte versucht, aber das Herz hörte bald auf zu schlagen.«
Ich lege unwillkürlich die Hand auf Marions Kopf, kraule die Haare. Sie zittert, fast wie Krämpfe. Doch ihre Stimme ist kalt und gefasst. »Ich habe das Arschloch besucht und ihn umgebracht. Ihm den versilberten Brieföffner in sein verdammtes Herz gestoßen. Dann bin ich bei ihm aus dem Fenster gesprungen.«
»Und hast es überlebt.«
»Ja. Ich habe es überlebt. Und nicht mehr den Mut, ein zweites Mal Hand an mich zu legen. Sonst hätte ich es schon längst getan.«
»Man hat dich nicht verknackt?«
»Doch, natürlich. Ich habe drei Jahre bekommen, zwei davon auf Bewährung, war ein Jahr im Gefängniskrankenhaus und diversen anderen Kliniken. Komplizierter Splitterbruch. Das war gleichzeitig ein kalter Entzug. Die Richterin hätte mich fast noch freigesprochen, glaube ich. Aber der Staatsanwalt war ziemlich unerbittlich. Das Urteil ein Kompromiss. Ich hab also meinen Job verloren, Janine ist schon zwölf Jahre tot, und seither lebe ich hier von Erinnerungen. Ich bin clean. Das ist auch schon alles.«

Wir sitzen lange und sagen nichts. Die Nacht schreitet voran, dem Morgen entgegen. Von wo kommt die Sonne? Ja, von links. Die Stadt ist ruhig. Mein eigenes Jetzt ist so weit entfernt.
»Heinrich?«
»Hm?«
»Hast du mich je vergessen?«
»Nein. Nie.« Vierundzwanzig Jahre die anders hätten verlaufen können. Verlaufen müssen. Eines der Bücher von damals steht immer noch in ihrem Regal. »Weißt du noch, welches unser Lieblingsgedicht war?«, frage ich sie.
»Ich weiß nicht mehr genau … es war …«, Marion legt den Kopf ein wenig zur Seite, und ich spüre, wie es ihr einfällt.
»Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe so müd geworden, dass er nichts mehr hält. Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe und hinter tausend Stäben keine Welt.«
Ich höre sie leise weinen und versuche, mich selbst an die Zeilen zu erinnern.
»Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte, der sich im allerkleinsten Kreise dreht, ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte, in der betäubt ein großer Wille steht.«
Sie nimmt meine Hand, die dritte Strophe kommt wie von selbst aus ihrem Mund.
»Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille sich lautlos auf – dann geht ein Bild hinein, geht durch der Glieder angespannte Stille – und hört im Herzen auf zu sein.«
Wir schweigen für den Rest der Nacht. Die Macht der Worte. Sie können die Dämme in uns zerbrechen. Worte können tief ins Fleisch schneiden, wie kein Schwert. Worte sind das Leben. Der Sinn in der Sinnlosigkeit. Marion sind die Worte abhanden gekommen. Für sie gibt es nur noch überleben.

Der Morgen zeigt sich auf den Dächern, die gen Osten geneigt sind. Die Ziegel kleiden sich in einem sanften, orangefarbenen Überzug. Unaufhaltsam steigt die Sonne unserem Tag entgegen. Wir sitzen auf der Couch, mein Arm um sie gelegt. So warten wir auf das Licht. Dann bricht ihre Stimme die Stille.
»Ich habe dich oft vermisst. Du und ich im Stövchen, Bücher lesen, reden und uns aneinander schmiegen. Ich war glücklich. Jetzt weiß ich, was ich so lange Jahre vergessen habe. Und du, Heinrich? Schreibst du noch?«
»Ja. So etwas gibt man nicht auf. Schreiben gehört zu mir wie das Augenlicht. Ohne schreiben könnte ich nicht sein.« Ich muss eine Pause machen und Luft holen, um gegen die Tränen zu kämpfen. »Und ich war ebenso glücklich.«
Sie nickt und steht auf. »Ich gehe ins Bad. Mach doch schnell einen Kaffee.«
»Ja, gut.«

In der Küche werfe ich mir kaltes Wasser ins Gesicht, um wach zu werden. Unten auf der Straße gehen die ersten Menschen zur Arbeit. Ein Zeitungsjunge fährt auf dem Rad vorbei. Ich kann ein klein wenig die Annostraße entlang sehen. Ein Lied summend brühe ich den Kaffee auf und denke an meinen heutigen Tag. Gehe ich noch auf die Photokina? Viel Lust habe ich nicht mehr. Vielleicht fahre ich wieder zurück. Nur auf einer anderen Strecke. Eine Strecke ohne viele Erinnerungen. Als sie aus dem Bad kommt, steht unser Kaffee schon dampfend auf dem Tisch. Ich schaue sie an, wie sie unterm Türrahmen steht und lächelt. Sie hat sich komplett abgeschminkt. Da ist ihr Gesicht. Das wirkliche Gesicht. Es ist roh, hat brutale Züge, tief eingegrabene Furchen und doch erahne ich das Mädchen von damals. Die junge Frau, die ich einmal geliebt habe.

Diese Geschichte

Entstanden im Jahr 2003. Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder verstorbenen Personen ist rein zufällig, aber zu gewissen Teilen doch real, vor allem die beschriebenen Erlebnisse, Situationen. Die besten Geschichten schreibt immer das Leben selbst. Inzwischen habe ich den Text mehrfach überarbeitet. Vor allem in die Gegenwart geholt. Ich finde, der Kontakt zu den Leser:Innen ist auf diese Art intensiver.

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