Apfelsine

KURZGESCHICHTE | »Heinrich! Altes Haus! Lange nicht gesehen!«
»Gestern Abend erst.«
»Sag ich doch! Dröhnung?« Nicken und Hand heben, was Zustimmung bedeutet. Siegfried zupft am Ziegenbart, nimmt ein 0,4-Glas von der Spüle, gießt Southern-Comfort ein. Ein Drittel. Der Rest ist Cola und ein Schnapsglas Zitronensaft, Deckel dazu, Strich drauf.
»Danke, Siggi.« Ich lege den Schreibblock auf die Theke, trinke einen tiefen Schluck. Ein Motor, den es nach frischem Öl dürstet.
»Ah! Heute wieder Gedichte schreiben?«
»Ja, das Zeug muss raus, sonst wird’s kritisch.«
»Kommt mir bekannt vor«, sagt er wissend und nickend. »Die Scheiße muss raus, ansonsten frisst sie dich auf.« Wo er recht hat, hat er recht.
»Ich geh mal ins Eck, Siggi. Macht dir doch nix aus, oder?«
»Nee, verstehe ich.« Er packt das Geschirrhandtuch am Gürtel, trocknet ein Cognac-Glas und schaut auf die Uhr. Seit fünf Minuten ist offen, ich der einzige Gast und er kann noch die Musik hören, die ihm Spaß macht. Auf Knopfdruck kommen die Stones aus den Canton-Boxen. Ich gehe ins Eck, kleiner Stehtisch mit Hocker. Deckel und Glas auf die Holzplatte, Block und Kuli, dann hinsetzen. Durchatmen. Über mir zupft Keith Richards die Saiten. Gimme Shelter … wer wünscht sich das nicht? Noch ein Schluck. Für dieses Zeug gibt es keine Grenzen. Zwei Männer kommen herein, setzen sich an die Theke, Hände schütteln mit Siggi, das Pils steht kurz drauf vor den Köpfen. Ich kenne beide. Die Barhocker auf denen sie sitzen, haben bereits deren Gesäßform angenommen. Vorsichtig schlage ich den Block auf. Blättere zur ersten leeren Seite. Der Kuli klickt. Meist muss ich nicht viel tun, um den Worten die Tür zu öffnen. Ein, zwei Schluck oder drei, vier Tränen.

Von der Wahrheit // Von Flasche zu Flasche / Glas zu Glas / Von Schluck zu Schluck / Schweigen zu Schweigen / lausche ich den Stimmen / von Zuversicht und Hoffnung / von Freundschaft und Liebe / alle mit vollen Gläsern / vor ihren Köpfen / und beiden Händen / auf dem Thekenholz / Uns trennt nur / der Füllstand der Gläser / und die Sicht auf / den gleichen Misthaufen / Eines noch trennt / mich von ihnen / Sie jammern und / ich schreibe / Macht es nicht besser

Letzter großer Schluck. Schon leer. Eine Hand greift danach. Sie steckt in einem langen Ärmel, orange, Apfelsine. So glänzend. Es ist Seide. »Darf ich das mitnehmen? Möchtest du noch was?«
Die Stimme ist neu. Klar und doch weich, angenehme Frequenz, nicht zu hoch, herzlich, mit Freude drin. Ich lege den Kuli aufs Blatt und schaue, wer da steht. Eine Apfelsine, in der Tat. So was wie ein Batik-Kleid. Kann man Seide mit Batik versehen? Ich weiß es nicht. Von Stoff und Kleidern habe ich keine Ahnung. Aber es ist nicht nur das intensive Orange, auch das Gesicht wirkt wie in diese Farbe getaucht. Pausbacken und sehr große, blaue Pupillen, die kaum Platz fürs Augenweiß lassen.
»Ja, gerne. Eine Dröhnung. Siggi weiß Bescheid.« Das Wort Dröhnung überrascht sie nicht. Als wäre es das Normalste der Welt, einem Gast eine Dröhnung zu bringen.
»Kommt gleich«, sagt sie und verschwindet hinter der Theke, umkreist Siggi gekonnt, holt ein neues Glas und sagt das Wort. Siggi hebt die Hand und lächelt in meine Richtung.
»Der Dichter braucht Stoff!«, kommentiert er. Der Dichter nickt. Apfelsines Haare sind enorm lang, aufgetürmt zu einem Berg aus unterschiedlich abstehenden Hügeln. Sie reichen sicher bis an ihre Hüfte. Dunkelblond, würde ich sagen. Und sie ist korpulent. Das Kleid hängt senkrecht herab, ohne Form. Eine kleine Wulst ist erkennbar. Streckt sie sich, passt sich die Seide ihm an. Gestern hat sie noch nicht hier gearbeitet, heute ist also ihr erster Tag. Aber die Handgriffe hat sie drauf. Nicht der erste Job in einer Kneipe. Sie kommt zurück, stellt das Glas ab, zieht den Strich und lächelt.
»Danke.«
»Zum Wohl!«
Gute Laune auf zwei Beinen. Das passt so gar nicht hier rein. Es sei denn, die Pegel sind entsprechend hoch. Sie entschwindet. Der erste Schluck. Qualität, wie immer. Ich denke an den Tag, wandere entlang der Erinnerungen von Bundespost zum Kiosk, zum Café, nach Hause und nehme den Kuli.

Tage // Es gibt Tage / da stehen wir auf / oberster Treppenstufe / lachenweinenschreien / oder werfen uns / auf die Gleise / Personenschaden / oder kniend vor der / Kaufhalle einen Finger / abschneiden in die / Menge werfen / und nicht wundern / dass ihn jemand / einsteckt und als / Schlüsselanhänger benutzt

Es wird voller. Ich kenne alle, sie kennen mich. Zunicken, ein Wie? und Klar! und Okay! und gestern ging’s noch. Der langhaarige Bombenleger am Thekeneck ist Fensterputzer. Wahrscheinlich in dritter Generation. Er betrachtet die gespülten Gläser von allen Seiten, bis Siggi ihm auf die Finger schlägt. Das Getränk zieht mich magisch an. Seltsam. Der Dienstarzt sagte, meine Leberwerte würden Polka tanzen, dabei ist seine Nase mit dunkelblauen Adern nur so überzogen und könnte als Nebelschlussleuchte herhalten. Wer wird schon bei der Bundespost Dienstarzt?

Toller Abend // Kneipe / Kumpels / Freunde / Freundinnen / Lachen / Witze / Fassade vorher / geduscht und / gebürstet / Toll Super Astrein / Arbeit Urlaub / Fernseher neu / Politik scheiße / Trinken und auf / Schultern klopfen / Nach Hause gehen / Allein / Nichts geschieht / Nur Tränen / hinten im / Bus

Heute läuft es gut. In einem Schluck ziehe ich leer und hebe die Hand über mich, Richtung Keith Richards. Paint It Black. Siggi nickt und schickt Apfelsine. Die bringt ein volles und nimmt das leere Glas mit. Strich und ein Lächeln. Ihr Blick geht für zwei Sekunden auf den Block, dann ist sie wieder weg. Ich mag sie, so viel steht jetzt schon fest. Sie ist viel mehr, als das, was ich sehe. Die beiden Eiswürfel klickern am Glas, ich trinke und nehme den Kuli.

Unordnung // Wenn ich schreibe / trete ich über / in einen anderen Kosmos / Gedanken Muskeln Hand / sind eigene Personen / Wille ist Nebelmeer / Steuerloses Schreiben von / Worten aus einem / Tiefseegraben voller / Eiseskälte / Die andere Seite von / Leben und Wärme / Dort unten existiert / nur Druck / Tausende Tonnen / Erinnerungsfetzen / Emotionale Entropie

Brechend voll. Ein Aschenbecher fliegt. Siggi schmeißt den Kerl raus und vorsichtshalber den Rest vom Tisch hinterher. Keine halben Sachen. Apfelsine schwitzt nicht. Sie lächelt oder lacht gar. Ein Kerl konnte den Klaps auf ihren Hintern nicht unterbinden. Die Ohrfeige kam prompt und Siggi war zur Stelle, um ihn rauszuwerfen. Man muss Grenzen setzen. Ich dehne meine noch etwas aus und bestelle ein weiteres Glas. Sie kommt, schaut erst auf den Block, stellt das Glas ab, zieht den Strich. Einen Augenblick verharrt sie, aber Siggi ruft. Mit ihr zu reden, ist sicher schön. Beruhigend. Ich glaube, sie weiß viel und kennt allerlei seltsame Dinge. Da liegt der Kuli.

Ein Mensch // Mir ist so kalt / dass beim Kratzen / zwei Finger abbrechen / Da liegen sie / Noch nicht mal / Blut ist zu sehen / Einfach liegenlassen / Wer nimmt / nun mein Herz / Noch nicht gefroren / aber auf dem / besten Weg dorthin / Wer hat den Schlüssel / zum Leben denn / die Welt gehört mir / aber ich nicht / der Welt

Die Stimme. Warm und lieblich. Dunkler als üblich, fast rauchig. Wie die Dame der Zeitansage. Stundenlang könnte ich dort anrufen. Schreiben klappt nicht mehr. Worte werden zu Mürbeteig. Also müssen sie für heute drin bleiben, sich eine Höhle suchen, um bis morgen zu überleben. Die Striche sind zu einem Balken angewachsen. Lieber klappe ich den Block zu, bevor das Geschriebene ebenfalls eine Dröhnung bekommt. Alles auf dem Papier ist wertvoll. Es darf nicht verloren gehen. Apfelsine schaut vorbei.
»Na? Alles klar?«
»Wie ist dein Name?«
»Bianca.«
»Heinrich«, erwidere ich. »Konstantin.«
»Heinrich? Oder Konstantin?«
»Beides. Das eine vorne, das andere hinten.«
»Möchtest du zahlen?«
»Besser ist das.«
Ich zahle und gehe. Kurz vor Mitternacht. Bis nach Hause ist es weit. Bianca, sage ich am Brückengeländer und schaue auf den Fluss. Alles dunkel, da unten. Die Forellen werden schlafen.


Der Tag war nicht besonders lang, dafür entsprechend langweilig. Bundespost. Innendienst. Frühschicht bis 13 Uhr. Dann durch die Stadt, in irgendein Café, später Zahnbürste kaufen, Rasierklingen, Shampoo. Noch mal in ein Café. Der Cappuccino war nicht besser als im ersten. Dann in die Wohnung. Stille. Einkauf wegräumen. In der Küche ist es sogar noch stiller als im Rest. Warum, frage ich mich und sehe aus dem Fenster. Fünfter Stock, Hinterhof. Auf dem Dach der Mehrfachgarage liegt immer noch das große Küchenmesser. Im Kühlschrank steht Rotkraut und Knäckebrot liegt obenauf. Morgen habe ich Nachtdienst, also mehr als einen Tag frei. Das Messer sieht aus wie neu. Vielleicht sollte ich mit einer Leiter aufs Dach und es holen. Aber ich habe keine Leiter. Ich kann mich aber von hier oben auf das Messer stürzen. Vielleicht. Ob ich die Parabel hinbekomme? Dazu müsste ich was getrunken haben. Also Kneipe. Alles schweigt mich an, Pflanzen, Wände, das Telefon. Ich greife nach Schlüssel, Block und Kuli, ziehe die Tür hinter mir zu.
Weinen im Hausgang. Nein, das ist im dritten Stock. Die Kinder. Und jetzt ein Schrei, noch einer, aber leiser. Vor der rechten Wohnungstür bleibe ich stehen und lausche. Sie wimmert. Ich klingle. Kaum verstummt das schrille Scheppern, geht schon die Tür auf. Er ist es. Geht mir bis zur Brust.
»Auf dem Garagendach liegt ein Küchenmesser. Gehört das Ihnen?«
»Nee! Warum?«
»Dachte nur, jemand hätte versucht, einen anderen umzubringen. Das Messer nach der Person geworfen, nicht getroffen, dafür ist es durchs Küchenfenster gesegelt und auf der Garage gelandet.«
»Hä? Noch alles in Ordnung bei Ihnen?«
»Bei mir schon. Bei Ihnen vielleicht bald nicht mehr. Verprügeln Sie nicht ihre Frau. Das ist widerlich.«
»Kümmer dich um deinen eigenen Scheiß!«
»Denken Sie an meinen Rat.«
Er schlägt die Tür zu. Ich zähle bis sechzig. Es bleibt still. Weiter nach unten, zum Briefkasten. Er ist leer. Eine kleines Insekt krabbelt darin herum. Auf zum Bus.


Beim Hauptpostamt steige ich aus und überquere die Straße, nehme die paar Stufen und bin in der Hauptwache. Ein Polizist hinter der Scheibe brütet über einem Kreuzworträtsel. Ich klopfe.
»Ja, bitte?«
»Ich möchte einen Kerl melden, der seine Frau schlägt.« Ohne etwas zu erwidern, drückt er auf einen Knopf. Die Sicherheitstür öffnet. Ich stehe in einem langen Flur und setze mich auf eine altertümliche Holzbank. Die muss hier schon vor dem Krieg ihren Dienst verrichtet haben. Zügig kommt ein älterer Beamter auf mich zu. »Sie möchten Anzeige erstatten?« Ich nicke, weil ich nicht weiß, ob ich Anzeige erstatten kann oder will oder was man in so einem Fall tut. »Kommen Sie bitte.«
In seinem Büro ist alles etwa so alt wie diese Bank auf dem Flur. Tische, Stühle, Regale und die Telefone. Es riecht wie in einem alten Archiv. Papierstapel, Umlaufmappen, Ordner, ein einziges Durcheinander. Er legt zwei Blaupapiere zwischen drei Formulare und spannt alles in die Walze der Triumph-Adler.
»So!«, beginnt er. »Was möchten Sie denn zur Anzeige bringen?«
»Einen Mann, der täglich seine Frau verprügelt. Manchmal sehe ich sie im Hof. Blutergüsse an Armen, Beinen, im Gesicht. Aber sie ist kaum draußen. Die beiden Kinder weinen, wenn er das tut. Ich hab ihm schon ein paar Mal gesagt, er soll das lassen.«
»Hm.« Wieso ‚Hm‘? Er tippt nicht, reibt über sein Kinn. »Haben Sie das denn gesehen?«
»Gesehen? Na, ich höre es. Wenn aus der Wohnung jemand kommt, der offensichtlich verprügelt wurde, Sie wissen, wie das aussieht, und man von drinnen die Geräusche hört, was muss ich da noch sehen?«
»Wie ist denn die Adresse?« Ich gebe ihm die Adresse, das Stockwerk und den Namen. Er telefoniert mit jemand und fragt, ob unter dieser Adresse oder dem Namen schon eine Anzeige eingegangen ist. Nichts. »Tja«, beginnt er zögernd, »wissen Sie, wenn das Opfer keine Anzeige erstattet, dann sind uns die Hände gebunden …«
»Moment, das ist doch eine Straftat. Körperverletzung. Ich dachte, da müssen Polizei oder Staatsanwalt von sich aus tätig werden?«
»Aber es gibt ja keinen Zeugen.«
»Doch. Ich.«
»Sie haben es nicht gesehen. Sichtbar, mit Uhrzeit und Ort. Am besten noch einen zweiten Zeugen.« Ich muss tief einatmen. Abgestandene Luft, Staub und Gerüche aus Jahrzehnten.
»Können Sie nicht mal vorbeifahren und klingeln? Sagen Sie, jemand hätte Schreie aus der Wohnung gemeldet. Das schüchtert den Kerl vielleicht ein.«
Er zieht die Bögen aus der Walze und nickt, notiert auf einem Handzettel etwas. »Ist gut, ich sage den Kollegen, sie sollen mal einer Meldung nachgehen.« Er räuspert sich. Ich habe verstanden und stehe auf. Hier komme ich nicht weiter.
»Gut, danke. Dann mal einen schönen Tag noch.«
»Ihnen auch.«


Geburtstag. Johannes, einer der Stammkunden, wird heute vierzig. Lokalrunde, solange die Kneipe noch nicht so voll ist. Eine Dröhnung auf seine Kosten. Bianca hat ein bunt bedrucktes Batik-Kleid an, Baumwollstoff, halblange Ärmel, ein Kettchen um das rechte Fußgelenk, blaue Espadrilles und die Haare zu einem Zopf geflochten. Ich kann mir nicht helfen, aber sie sieht umwerfend aus. Am besten so tun, als würde ich nichts sehen, die Dröhnung genießen, auf Johann anstoßen und das leere Blatt Papier vor mir anstarren. Ich sehe die Frau aus dem dritten Stock. Kein Entkommen möglich. Wohin sollte sie mit den Kindern? Und die Kinder? Verkriechen sich hinterm Fernsehsessel.

Tagein tagaus // Warten auf Hände / die nicht schlagen / Warten auf Sinn / der Sinn ergibt / Warten auf Hoffnung / die am leben bleibt / Warten auf Liebe / zu sich selbst / Warten auf Befreiung / vom eigenen Hass / Warten auf Verachtung / fürs verachtet werden / Warten aufs / Gesehen werden

Ich muss sehen, ob meine Schnürsenkel zu sind, zwischen T-Shirt und Tischkante durchsehen. Die Tränen müssen weg, wenige zwar, aber ausgerechnet hier. Ich bin hilflos.
»Was schreibst du eigentlich die ganze Zeit?« Drei leere Gläser auf dem Tablett, steht sie am Tisch und nimmt meines gleich mit. »Noch ne Dröhnung?« Ich muss den Kopf heben. Sie runzelt die Stirn. »Was ist mit dir?«
»Hab mir grad auf die Zunge gebissen. Tut ziemlich weh. Ein wenig Desinfektion könnte helfen.« Sie lacht.
»Bring ich dir gleich.« Siggi ruft. Eine Menge Bestellungen warten. Bianca zieht ab und in meiner Hosentasche finde ich ein altes Papiertaschentuch. Die eine Hand am Kopf, die andere fährt schnell über die Augen. Zum Schreiben brauche ich eine klare Sicht.

Herrlich // Immerhin / ne volle Kneipe / Immerzu / nur leere Gläser / Immergleich / sind wir Fremde / Immerfort / kettet uns die Leere / wie Zement aneinander / Uns zugekiffte / bewusstlose / Ärsche

Der Abend gestaltet sich friedlich. Keine Ausfälle, gehobene Stimmung, in die Arme fallen, mehr als nur Geplänkel. Dreht sich die Welt plötzlich anders herum? Ich muss erst morgen um 21 Uhr zum Dienst antreten, kann ausschlafen, also bis zur Sperrstunde hier sitzen, Bianca anlächeln. Was ich nicht vermeide, ist der entstehende Nebel, dass die Worte aller zwar meine Ohren erreichen, aber kaum noch mein Denken. Das Blatt ist schon wieder leer und da liegt der Kuli. Da ist so viel, was raus muss.

Bilder // Ein Foto / vielleicht zwei / Nur Personen / keine Menschen / Jahre vergangen / Schmerzlos / im Meer einer / schwarzen Zukunft / Ich träume Glück / in wirren Zeiten / Köpfe ohne Augen / Körper ohne Arme / Fotos ohne / Erinnerungen / ohne Seele

»Du hast mir noch nicht gesagt, was du die ganze Zeit schreibst?« Die Stimme. Jimmy Page zeigt, was er kann. No Quarter auf dem Live Album. Kann ich so tun, als hätte ich nichts gehört? Siggi wird bald rufen. Eine Dröhnung wird abgestellt. Habe ich eine neue geordert? Egal. »Danke«, höre ich jemand sagen.
»Darf ich mal lesen? Sind das Gedichte?«
»Bianca! Tisch 3!« Robert Plant hat keine Chance gegen Siggis Organ. Bianca zuckt mit den Schultern. Schnell einen großen Schluck. Was kann ich gegen den Prügler vom dritten Stock tun? Was ist mit den Kindern? Ein paar Meter unter mir, umgeben von uns Hausbewohnern, und doch allein. Ich kann morgen früh zum Jugendamt gehen. Das klingt gut. Jugendamt. Menschen, die sich kümmern werden. Das Glas ist noch fast voll. Beruhigend. Ich beobachte zeitversetzt. Ein paar Sekunden hänge ich hinterher. Schreiben ist nicht mehr. Vielleicht muss ich mir ein Taxi rufen. Ist nur noch ne halbe Stunde, bis hier dicht gemacht wird. Das schaffe ich, schließlich ist es ein schöner Abend. Ein Batik-Ärmel, lange Finger, der Block rutscht, nein, jemand nimmt ihn und liest. Die Telefonfrau, Sie ist schön, da lässt sich nicht dran rütteln. Und sie liest, blättert zurück, liest. Dann starren mich die großen Augen an, legen den Block auf den Tisch. Ich will lächeln, aber nehme doch das Glas; und bin wieder alleine. Schwer zu sagen, wie viele Striche auf dem Deckel gezogen wurden. Meine Güte, ich muss pinkeln!


Mit Mühe und Not habe ich den Nachtdienst hinter mich gebracht. Aufgewacht bin ich gestern in Siggis Getränkeraum, auf einer Iso-Matte zwischen leeren und vollen Kisten. Immerhin. Der Griff zur Sprudelflasche war einfach. Nach einem Rülpser, der fast Grund zutage gefördert hätte, ging es besser und ich hab es nach Hause geschafft. Am putzenden Siggi vorbei. Daheim ins Bett, kurz vor Dienstbeginn aufgewacht mit dem Schädel eines Yak-Bullen und ab unters postalische Neonlicht. Bis Mitternacht verteilen, dann grillen. Nichts hab ich runtergekriegt. Trockenes Baguette, das war es dann gewesen. Niemals habe ich bei Siggi nur Dröhnung getrunken, denn niemals ging es mir danach wie gestern. Aber ich kann mich nicht mehr an das Ende erinnern.
Ein Blick auf den Wecker. Nachmittag, kurz nach zwei Uhr. Heute Abend der zweite Nachtdienst. Das Telefon klingelt. Warum so oft? Mein Block fällt mir ein. Hatte ich den mitgenommen? Und mein bester Kugelschreiber! Egal, das lässt sich wieder kaufen. Es werden mehr Kugelschreiber geklaut, als Banken ausgeraubt, hab ich mal gelesen. Schon wieder das Telefon. Ich muss pinkeln, gehe auf die Knie und stemme mich hoch. Vor dem Alter habe ich Angst, wenn ich mich jetzt schon so anstelle. Im Flur ziehe ich den Telefonstecker aus der Dose und bin endlich im Bad. Auf der Toilette sitzen, wegdösen, bis die Beine einschlafen. Es klingelt an der Tür. Um Gottes willen, was ist denn los? Schnell abgewischt, Hände und Gesicht waschen, Tür auf, aber niemand ist da. Mir fällt auf, dass ich nackt bin. Ich ziehe mich an, nehme das Telefon, stopfe es in den Rucksack, esse Rotkraut mit Knäckebrot und mache mich auf den Weg in die Stadt. Aber zu Fuß.

Im Telefonladen hole ich das blaue Tastentelefon aus dem Rucksack und lege es auf den Tisch, huste in die Faust. Ein wenig Parfüm wäre nicht schlecht gewesen.
»Ist es kaputt?«, will der Mann hinter dem Tisch wissen.
»Nein. Ich will meinen Anschluss kündigen.«
»Ah, verstehe. Sie ziehen um. Dann brauchen wir das Umzugsformular.«
»Nein, ich ziehe nicht um.« Jetzt sucht er nach Worten. »Ich will kündigen. Kein Telefon mehr, verstehen Sie? Die Nummer ist 54433. Perfekte Nummer, ich weiß, aber ich bin es leid.« Kopfschüttelnd zieht er ein anderes Formular aus der Schublade.
»Na, meinetwegen. Aber Sie können dann keine Hilfe mehr rufen oder die Feuerwehr, wenn es brennt, Freunde, die Familie …«
»Es gibt keine Hilfe. Hören Sie, ich hab es eilig. Machen Sie einfach.« Er nickt, füllt den Zettel aus, Adresse, Ausweis, lässt mich unterschreiben, storniert die Mietgebühr für das blaue Ding und lächelt gequält. »Danke«, sage ich und bin wieder draußen. Das nächste Café ist um die Ecke. Ein Espresso wird Wunder wirken. Danach zwei oder drei karierte Schreibblöcke und zwei Lamy. Das wird den Tag retten.


Extradienste, anderthalb Wochen lang. Drei Kollegen sind im Urlaub krank geworden. Wenn Junggesellen nach Spanien an den Pool fahren. Jetzt liegen sie mit Magen-Darm-Virus in Benidorm im Krankenhaus. Das muss einem erst mal einfallen. Wir anderen haben deren Schichten mitgemacht. Dafür habe ich fünf Tage frei bekommen und heute ist Tag Nummer vier. Ich bin in der Stadt. Von Schaufenster zu Schaufenster. Unbekleidete Modellpuppen, bekleidete, Spielzeug, Fotoausrüstungen, Bücher, Zeitschriften und überall die Menschen. Rein und raus. Ich suche und weiß nicht, was es ist. Bis eine Frau an mir vorbeigeht, eine Zimtschnecke halb in der Tüte und ein Stück abbeißt. Bianca, ist der erste Gedanke. Aber nein, ähnlich ja, aber sie ist es nicht. Der Name Bianca schlägt wie ein Klöppel an die Bronzewände meines Schädels. Zwölf Uhr plus Ruf zur Messe. Gut, ich hab verstanden. Klar, an was ich leide. Ich bin verliebt und fühle mich wie nach zehn Espresso. Das brauche ich jetzt. Kaffee oder Cola und noch eine kleine Starthilfe drin.

Es gibt nicht viele Cafés, in denen man ein paar Stunden sitzen und schreiben kann. Man nimmt den Platz weg und schlürft eine Stunde an einem Getränk oder bestellt nicht genug, um das lange Ausharren zu rechtfertigen. Ist ein Zeitrahmen überschritten, kommt alle zehn Minuten ein Mensch und fragt, ob man noch etwas möchte, ob man zufrieden ist, aber nicht, wann man gedenkt, den Platz endlich zu räumen, obwohl noch vierzehn andere Plätze unbelegt sind. Couragiert zu sein, ist sehr selten geworden. In diesem Café hier ist das nicht so. Man lässt mich in Ruhe und es gibt Alkoven, die nur schmalen Einblick gewähren. Runder Tisch, vier Stühle, links und rechts Trennwände aus mit Stoff bezogenem Holz. Nicht bis zur Decke. Man kann hören, was gesprochen wird an anderen Tischen. Und hier ist das Verhältnis von Osborne zu Cola weitaus weniger der Cola zugeneigt, was meinem Geschmack entgegenkommt. Bald stellt sich das Flimmern in meinem Denken ein, als könnte man die beiden Relativitätstheorien überarbeiten und verfeinern. Ich höre mehr, rieche mehr, sehe mehr und schreibe intensiver. Über Bianca. Kurz vor achtzehn Uhr bin ich zufrieden mit einem Gedicht, löse das Papier vom Block, rolle es zusammen und frage den Kellner nach einem Haushaltsgummi. Er bringt es, ich zahle, inklusive sehr gutem Trinkgeld. Mein Dank für ein paar Stunden Frieden. Das Gedicht zusammenrollen, in den Rucksack und dann mache ich mich auf den Weg zu Siggi. Das Flimmern im Kopf. Es beruhigt mich. Nur an Ampeln muss ich aufpassen, nicht einfach loslaufen.


Selten hat mein Herz so gepumpt, wie beim Öffnen der Kneipentür. Ich sehe das Kleid. Apfelsinenorange. Das ist perfekt. Die Haare zu einem langen Zopf geflochten, der über die Schulter gelegt ist und auf der Brust baumelt. Das ist umwerfend. Ich will gleich das Gedicht übergeben, stante pede, aber natürlich hat sie zu tun. Also Begrüßung, Siggi, altes Haus! Klar, eine Dröhnung. Ja, fünf Tage Urlaub, immer noch. Vielleicht hänge ich noch drei an, bis zum Wochenende, da habe ich eh frei, klar, Siggi. Danke.
Ich finde mich an meinem Tisch wieder. Deep Purple. Child in Time. Ein Klassiker. Block raus, Lamy, aber ich kann nicht schreiben. Viel zu nervös. Das Gedicht, leider etwas geknickt, dank allerlei anderem Zeug im Rucksack, aber der Inhalt, der ist wichtig. Dröhnung, Deckel, Strich, Bianca lächelt. Sie lächelt anders, intensiver, länger. Ich greife zur Poesie, will sie überreichen, aber sie ist schon weitergezogen. Wait for the ricochet singt Ian Gillan. Ich hoffe, mein Gedicht wird kein Querschläger. Und da ist er, der Gedanke, der Einstieg, die Tür nach innen. Ich greife nach dem Lamy, trinke das halbe Glas leer und schreibe.

Lichtlos // Tiefschwarz / Sterbender Herbst / Die kalte Winterhand / schlängelt heran / Ist schon im Rücken / mit eisigem Hauch / Keine Strohfeuer mehr / Kein wärmender / Blick grüner Augen / Einfach weg / Im Kopf noch / Nase Lippen Lachen / Sommersprossen / samtene Haut / Doch ohne Duft / Weder Worte / noch Stille / noch Berührung / Einfach weg

»Du schreibst wieder. Darf ich mal lesen?«
»Gerne.« Es ist noch nicht viel los. Drei an der Theke, das erledigt Siggi, ein Pärchen im hinteren Raum mit ausreichend Getränken und jeweils einem Schinken-Käse-Baguett. Bianca nimmt dieses Mal nicht den Block, sie stellt sich neben mich und liest. Ich kann sie riechen, schließe die Augen und genieße jeden Atemzug durch die Nase. So schweigend lesen, nichts sagen. Warum kommen keine Worte?
»Ich habe etwas für dich. Das gerollte Papier.« Schnell die Augen auf. Ihr Blick ist auf mir, blau und neugierig. Dann schaut sie auf das Präsent, nimmt und entrollt es, hält das Papier wie ein Herold der eine Proklamation verkündet. Wer so ein Gedicht schreibt, kann nicht mehr schweigen.
»Ich hab mich in dich verliebt, Bianca. Heftig.« Drei Gäste kommen, suchen sich einen Platz. Siggi wirft einen Blick zu uns, eine Augenbraue hochgezogen.
»Schreib mir deine Adresse auf. Ich komme heute Abend, dann können wir reden. Jetzt muss ich arbeiten.« Sie geht, steckt das Blatt in ihre Kleingeldbörse und Ian Gillans Stimme wandert in ungeahnte Höhen. Ich weiß nicht, wie das enden wird und mach mir fast in die Hose. Schnell auf die Toilette.

Kleine Straße // Rote Lichter fliehen / Motor wird leiser / Stille / Straßenlaterne spendiert / flackerndes Licht / in Eiseskälte / Nacht ohne / Anhaltspunkte / Mein Ich / steht neben mir / hält meine Hand / Selbst die / Einsamkeit / fürchtet sich

Die dritte Dröhnung ist getrunken, das Gedicht auf dem Blatt braucht seine Ruhe. Und ich halte es hier nicht mehr aus, packe zusammen und bezahle. »Muss heute früher heim, Siggi. Kopfweh. Wir sehen uns morgen.«
»Klar, pass auf dich auf. Bis morgen.«
Der Heimweg ist ein Wandern durch finstres Tal. Gab es da nicht so einen Psalm, den sie uns im Konfirmationsunterricht eingetrichtert haben? Egal. Kirche ist auf einem anderen Planeten. Nicht auf meinem. Der Fluss ist trüber, die Menschen trostloser, schweigender, der Autoverkehr schiebender, drückender, ungeduldiger. Nur im Bus ist Ruhe. Ganz hinten, rechter Sitz. Jede Bodenwelle verursacht ein Kitzeln im Unterleib. Ich denke an den kleinen Heinrich im Schulbus. Das Kitzeln im Unterleib. Ob sie kommt? Natürlich wird sie kommen. Sie hat es gesagt. Bianca, nicht von der Stange, bestimmt nicht auf dem Titelblatt der Fernsehzeitschrift, aber beeindruckend schön. Als ich um die Ecke komme, zwei Betrunkenen ausweiche, die aus dem Fürst Blücher torkeln und in deren verirrten Augen ich mich entdecke, sehe ich die Frau stehen. Bademantel, schwanken auf nackten Füßen, eine Hand an der Hauswand. Schritt auf Schritt kommt sie auf uns zu. Die beiden Angetrunkenen kneifen die Augen zu, starren auf die unwirkliche Gestalt.
»Wer ist das?«, höre ich den einen sagen und renne los, die wenigen Meter. Aus dem Hauseingang kommt er. Der Mann. Jogginghose, grünes T-Shirt, um ihn herum förmlich ein Flimmern von aufsteigender Hitze. Er kreischt ihren Namen. Jetzt weiß ich, dass sie Margarethe heißt, dann bin ich bei ihr, nehme die freie Hand, den Unterarm und drücke sie Richtung Fürst Blücher.
»Vorwärts! In die Kneipe! Wir rufen die Polizei!«, beschwöre ich Margarethe, den Kerl im Auge, der im Kopf die Szene fünf Meter vor ihm auseinandernimmt, um abschätzen zu können, was in seiner Macht steht. Er nimmt Anlauf und schreit. Ich reiße Margarethe weg von der Wand. Ein Fliegengewicht. Sie jammert. Mein Griff tut ihr weh, irgendwo auf dem Körper. Der Kerl tritt nach ihr, kommt ins Straucheln, fängt sich und holt aus. Zu kurze Arme und ich bin nach hinten gebeugt, Margarethe im Rücken. Mein Hieb gegen seine Brust wirft ihn an die Hauswand. Das nutzt er, um sich abzustoßen, aber wieder können wir ausweichen. Margarethe ist wie ein Teil von mir. Ich stelle dem Kerl ein Bein und er landet in der Rabatte am Bürgersteigrand, die hauptsächlich als Hundetoilette dient. Ich knie mich auf seinen Hintern, drehe den rechten Arm auf den Rücken und bin froh, dass die Schulzeit mich einiges gelehrt hat. Er wehrt sich, aber ich kann seinen Schmerz kontrollieren. Am liebsten würde ich den Arm brechen.
»Margarethe! Geh in die Kneipe und ruf die Polizei!« Das tut sie. Die Betrunkenen stehen Salzsäulen gleich vor dem Zigarettenautomat. Beide Kinder kommen aus dem Hauseingang, bleiben stehen, halten sich krampfhaft an den kleinen Händen. Ihr Blick brennt sich in mich.


Die Worte des jungen Polizisten gehen mir nicht aus dem Kopf. Widerstand gegen die Staatsgewalt, der Verhaftung widersetzt, Hausfriedensbruch, die Kinder rufen nach Mama und Papa, das gäbe Geldstrafe, paar Monate auf Bewährung, dann ginge alles von vorne los. Margarethe will keine Anzeige erstatten, wegen der Kinder. Genau wegen der Kinder sollte sie Anzeige erstatten, sagte ich, aber nach dem Aufnehmen der Aussage bin ich in den fünften Stock, hab die Tür zugeschlagen und einen Teller aus dem Fenster geworfen. Genau neben dem Küchenmesser ist er zerschellt. Ich sitze am Küchentisch, kein Licht, die Kaffeemaschine wartet auf etwas, das nicht kommt. Weinen muss ich, wie ein Schlosshund. Es will gar nicht aufhören. Irgendetwas muss ich tun. Aber was? Und gegen wen? Und warum? Zwei Gläser Osborne helfen. Und noch zwei, um die ersten zwei zu vergessen. Das Flimmern im Kopf stellt sich ein. Der Wechsel in eine andere Zeitebene. Ein zähes Universum voller Gelatine, das all meine Bewegungen verlangsamt und die Gedanken an die Kandare nimmt. Die Tränen hören auf. Ich dusche. Dann beginnt das Warten auf Bianca.

Gelatine. Auf und ab. Dagobert Duck fällt mir ein. Wie er Ringe auf dem Teppich läuft, tiefer und tiefer im Laufe der Jahrzehnte, den Glückstaler in der Mitte. Ich kann ihn verstehen. Ein Blick aus dem Fenster. Autoverkehr, ein Kommen und Gehen im Busdepot gegenüber, es stinkt nach Diesel. Die Nacht ist endgültig über uns. Ich will schreiben.

Schlechte Aussichten // Tränen auf Raufaser / Wunden auf / makellosem Körper / Pflaster ist alle / Zellen werden Gelee / Wut allenthalben / mit Blindheit geschlagen / entscheide was zu tun ist / und tue es

Bianca könnte es sich anders überlegen, das Telefonbuch nehmen und meine Nummer raussuchen. Anrufen. Aber kein Anschluss unter dieser Nummer. Ausgerechnet jetzt habe ich kein Telefon mehr. Ich schwitze und gehe lieber noch mal duschen. Ausgiebig. Noch zwei Stunden bis Mitternacht. Mit der Rasur nehme ich es ganz genau. Langsam und bloß nicht schneiden. Dann Davidoff. Kann nicht schaden. Und ein halbes Glas Osborne, um im anderen Universum zu bleiben. Osborne ist ein köstlicher Weinbrand, aber nur die ganz alte Variante. Ich bekomme sie beim Spanier, der ein Restaurant in der Weststadt hat und allerlei Zeug importiert. Eine Stunde vor Mitternacht denke ich an den Briefkasten und dass ich noch nicht nachgeschaut habe, ob Post drin ist. Also runter. Tatsächlich. Lohnzettel der Post und Werbung. Die schmeiße ich beim Zwerg in den Schlitz und zähle die Stufen bis ganz hoch. Es sind 86. Wie jeden Tag. Fernseher habe ich keinen, aber eine Schallplatte kann ich auflegen, setze mich jedoch vors Fenster, schaue hinaus, den Block auf dem Sims, ein volles Glas Osborne daneben, möchte schreiben; und schlafe ein.

Die Klingel schrillt. Noch einmal. So gut es Osborne und Halbschlaf zulassen, spurte ich zur Tür, drücke den Summer und schalte das Treppenhauslicht an. Zwischen Absätzen schaue ich nach unten. Eine Hand am Geländer, die langsam höher kommt. Im dritten Stock höre ich sie laut atmen. »Hier oben«, sage ich so laut, dass sie es hören muss. Endlich steht sie vor mir und schnauft. Ihre Brust hebt und senkt sich deutlich.
»Junge, Junge, das hättest du mir sagen können, dann wären wir zu mir ins Hochparterre.«
»Entschuldigung, ich denke da nicht mehr dran.«
»Na, jetzt bin ich hier.« Sie geht an mir vorbei in die Wohnung. Ich zittere wie Espenlaub. Tür zu, Licht im Gang aus. Ich finde sie im Wohnzimmer auf der Couch.
»Möchtest du etwas trinken?«
»Ein Glas klaren Sprudel, wenn du hast.«
»Kommt sofort.« In der Küche habe ich noch einen Southern Comfort. Ein Schluck könnte mein Zittern besiegen, vielleicht. Aber ich lasse es, schenke Sprudel in ein Cola-Glas und bring es ihr, setze mich gegenüber in den Sessel. Warum zuckt jetzt meine rechte Schulter? Und auch mein Augenlid. Wie seltsam.
»Schöne Wohnung. Nicht so viel Zeug drin, kein Tinnef, das gefällt mir. Wohnst du alleine? Ich meine, hast du keine Freundin?«
»Ich wohne alleine, ja. Nein, keine Freundin.« Sie mustert mich ausgiebig und ich schweige dazu.
»Ich bin müde«, sagt sie dann. »War viel los heute. Eine Menge Lauferei.«
»Das verstehe ich. Wir hätten uns an einem anderen Tag treffen können. Montag hat Siggi geschlossen, vielleicht können wir dann essen gehen und jetzt kann ich dich ja nach Hause bringen …«
»Hast du ein Brot oder irgendwas?« Die Frage erwischt mich auf dem falschen Fuß. Was soll ich jetzt antworten? Knäckebrot und Rotkraut aus dem Glas? Na gut, vom Knäckebrot immerhin drei Sorten. Aber ich habe noch …
»Salzstangen, die großen und Chips und Erdnüsse.«
»Oh ja, das wäre fein.«
»Kommt sofort.«

Bis ich alles einigermaßen adrett angerichtet habe, ist eine Viertelstunde vergangen. Mit drei Schüsseln gehe ich ins Wohnzimmer. Bianca hat sich der Länge nach auf die Couch gelegt und ist tatsächlich eingeschlafen. Ich setze mich ihr gegenüber, knabbere abwechselnd Chips, Erdnüsse, mit Osborne gemischt, was gar nicht schlecht schmeckt und betrachte sie vom Kopf bis zu den Füßen, das kleine Kettchen, die Zehen, etwas von den Waden ist zu sehen. Bei ihr muss ich in Bildern denken, nicht in Worten. So ist es wesentlich einfacher, ihre Schönheit zu erfassen. Also stelle ich mir einen Fjord in Norwegen vor, das tiefe Wasser zwischen den mächtigen Steilwänden, rot lackierte Fischerhütten auf keinen Wiesen. Es ist friedlich. Die Sambesi-Fälle fallen mir ein, tosende Wassermassen stürzen in die Schlucht, Gischt über allem, überall ist es grün und bunte Vögel balzen um Aufmerksamkeit. Die Wüste bei Sonnenuntergang, rötliche Wanderdünen, von den Kämmen löst sich feiner Sand, der das letzte Tageslicht zum Leuchten bringt und ein stiller Bach mäandert durch eine Aue, schlängelt sich an Bäumen und Sträuchern vorbei, an einem Frühlingsmorgen, die Vögel versuchen sich im Gesang zu übertreffen. So viele Bilder sehe ich auf der Couch liegen und schlafen. Ich stehe auf, trinke noch ein Glas auf ex und decke Bianca zu. Dann gehe ich ins Bett.


Jemandes Hand ruht auf meiner Wange und der Doc sagt, dass die Niere nur noch zu 80 Prozent funktioniert. Ich solle nur so weitermachen, dann hätte ich mich bald selbst konserviert. Ich riet ihm, die Hand aus meinem Gesicht zu nehmen und lieber selbst die Flaschen unterm Schreibtisch zu zählen. Er lacht und ich stehe im Freien, an einem unbekannten Ort und die Hand ist immer noch an mir. Meine ist es nicht. Also was will sie von mir? Er hat recht, der Weißkittel. Die Schmerzen wachsen, rechts hinten. Als läge ich auf einer glühend heißen Fakirmatratze. 100er-Nägel, dicht beieinander stehend. Das muss aufhören, sagt einer, den ich nicht sehe.
»Das muss aufhören«, sagt die rauchige Stimme. Der Schmerz. Ich brauche Tee und viel Wasser. »Das muss aufhören.« Ich öffne die Augen und finde mich in meinem Bett, die Gardine zugezogen, draußen ist Tageslicht. Die Hand auf meiner Backe.
»Was muss aufhören?«
»Das Trinken.«
»Ich weiß.« Mit wem rede ich? Etwas bewegt sich links. Ich drehe mich um. Bianca in ihrem Kleid, auf der zweiten Decke liegend. Es war ihre Hand auf meiner Backe. Mit Schreck denke ich dran, dass ich immer nackt schlafe, spüre aber die Decke unter der Achsel. Der Osborne rumpelt im Kopf.
»Guten Morgen, Heinrich.«
»Hallo, Bianca.«
»Danke, dass ich bei dir schlafen durfte und …« Und? Warum schweigt sie? »Ich habe Brötchen geholt. Du hast nichts gemerkt. Es hätten wohl Bomben fallen können, ohne dass du aufgewacht wärst.«
»Wie spät ist es?«
»Schon kurz nach elf.«
Kurz nach elf? »Egal, ich habe heute noch frei.«
»Ich bin schon früh wach geworden. Du hast mich zugedeckt. Das war lieb.« Ich sehe ihr nur in die Augen. Und auf die vollen Lippen, wie sie die Worte formen. Stundenlang könnte ich das tun. Nichts sonst. »Und ich habe in dem Block auf dem Fenstersims geblättert und gelesen. Ich hoffe, das ist dir nicht unrecht?«
»Nein, gar nicht. Sind lediglich Worte.«
»Und was für welche. Die machen mir Angst.«
»Mir auch«, kann ich nur zugeben. Wir schweigen. Sie aus einem anderen Grund als ich, nehme ich an. Sechzig Zentimeter zwischen uns und doch eine ganze Hemisphere. Mein Herz wird auch weiterhin alleine schlagen. Die Erkenntnis liegt zwischen uns auf der Matratze.
»Du bist nicht in mich verliebt, nicht wahr?« Leichtes Kopfschütteln, dann kommt ein leises Nein. Ich muss tief durchatmen. Seltsam, dass so was meist ein Reflex ist. Ob es jemanden gibt, der weiß, warum?
»Ich bin schon mit jemand zusammen. Eine junge Frau, Heinrich. Schon seit paar Jahren. Und ehrlich gesagt, haben sich auch nicht viele Männer in mich verliebt. Zwei, um genau zu sein.«
»Und einer bin ich?« Sie nickt.
»Bin nicht so der Männertyp, denke ich.« Mit der Hand tippt sie auf den Bauch, der sich unter ihrem Kleid abzeichnet.
»Du bist, wie du bist«, sage ich und will sie in den Arm nehmen, aber am liebsten wäre es mir, wenn sie jetzt ginge.

»Ich habe auch Eier mitgebracht, und Käse und einen Gemüseaufstrich. Meine Freundin und ich essen kein Fleisch. Soll ich die Eier wachsweich kochen?«
»Wachsweich ist okay, aber zum Aufstehen musst du raus, ich schlafe immer nackt.« Bianca grinst und steht auf. Ihr Zopf streicht über die halbe Matratze, so lang ist er. Sie schließt die Tür, ich stemme mich hoch. Auf dem Balkon steht noch eine Flasche Jim Beam. Ein Schluck kann nicht schaden. Und ein zweiter hilft beim Frühstück. Dann ziehe ich mich an und atme tief durch.

Diese Geschichte

Entstanden im Jahr 2024 als ein Text aus der Farbenreihe. Zwei Menschen, die nicht zusammenkommen werden. Deren Empfinden so weit auseinanderliegen, dass keine Annäherung möglich ist. Wahrscheinlich nicht mal eine freundschaftliche, denn der würde sich der Protagonist aus der Logik seiner Persönlichkeit verweigern. Das Schreiben ist das, was bleibt. Lasst mir gerne Kommentare da. Ich lese alles und gerne. Viel Spaß mit dem Text!

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