Die Augen

KURZGESCHICHTE | Ein Blick. Aus einem Dutzend Blicke und doppelt so vielen Augen. Welcher trifft mich? Seiner. Nicht die der anderen. Die Blicke der anderen haben sich an Karin geheftet. Auf das kleine Schwarze, auf 85D, Kleidergröße 36, die Trennlinie von Kleid und Haut eine Handbreit über den Knien. Setzt sie sich? Rutscht es hoch? Das sind die Blicke der Anderen. Seiner fixiert mich. Und ich ihn. Es ist gruselig heiß und Karin hat das Schwarze geschenkt bekommen von ihrer Schwester. Sie sieht fantastisch aus. Allerdings sieht sie auch in allen anderen Klamotten fantastisch aus. Karin erwidert die Blicke und die Augen der Anderen suchen Alternativen. Die halb abgebrannte Kippe im Aschenbecher, gerissene Fingernägel, den Billardtisch, ein Glas. Verstohlene Seitenblicke werden daraus. Julchen kommt, die Chefin.
»Hi, ihr beiden, was kann ich euch bringen?«
»Ein Bitter Lemon für mich, bitte«, sagt Karin, nimmt einen Bierdeckel vom Stapel und legt ihn vor sich.
»Für mich einen großen Milchkaffee, bitte.«
»Klar«, bestätigt Julchen und sieht mich an. »Wenn es nächsten Sonntag so scheiße heiß ist, verlegen wir die Lesung um eine Woche, oder?«
»Kein Problem. Wird ja auch schnell zu stickig. Lampen, Kerzen, alle rauchen, das macht keinen Spaß.«
Sie nickt. »Was meinste, wann sollen wir das entscheiden?«
Ich puste Luft aus, wackle mit dem Kopf. Links, rechts, keine Ahnung, wie ich da entscheiden soll. Aber irgendetwas muss ich natürlich sagen. »Heute ist Freitag, warten wir ab bis Mittwoch. Mittwochabend entscheiden wir dann. Ist das rechtzeitig genug für dich?«
Julchen nickt. »Bin einverstanden.« Sie zieht ab, ich rutsche den Hocker an die Wand und lehne mich an.
»Bisschen unwohl fühle ich mich ja schon in diesem Ding«, sagt Karin leise und zieht es ein Stück nach unten. Vergebliche Liebesmühe.
»Frag doch mal Julchen, ob sie Ersatzklamotten hat. Ich wette, da lässt sich was finden. Ihr habt die gleiche Größe. Außerdem wohnt sie nebenan. Sie leiht dir bestimmt eine Hose.« Karin schüttelt den Kopf.
»Nee, ist schon okay. Ich wollte es ja anziehen, aber … können wir die Plätze tauschen? Die starren alle rüber. Ich kann gar nicht entspannt sitzen.«
»Gerne. Ich bin aber erst mal auf Toilette.«
»Lass mich nicht so lange alleine.«
»Wenn was ist, geh zu Julchen. Die schmeißt die Kerle hochkant raus.« Karin nickt und ich muss an das rechte Ende der Theke schauen. Der Blick. Das Gesicht. Älter als ich, zehn Jahre mindestens. Ich kenne es. Zügig gehe ich zur Toilette.


Zweimal muss ich noch die Augen des Anderen suchen auf dem kurzen Weg zum Klo. Ich sehe ein schwarzes Hemd, starken Bartwuchs in blassem Gesicht. Schwarze Haare. Aber nur noch zur Hälfte. Eine Art nach vorne offene Tonsur hat ihm das Meiste genommen. Und ich wette, die Hose ist ebenso schwarz. Die Tür quietscht hell, als ich sie öffne. Niemand drin. Ich kenne den Kerl. Bei Julchen sehe ich ihn allerdings zum ersten Mal. Die Augen; oder eher: der Blick. Schnell Wasser abschlagen, Hände waschen und zurück zu Karin. Vielleicht ist es gut, irgendwohin zu fahren. Ins Grüne, Obst und Brezeln dabei. Oder wir könnten ihre Mutter besuchen. Dort steht immer ein gedeckter Apfelkuchen auf dem Tisch.
Als ich die Tür wieder öffne, sehe ich sie schon auf dem anderen Hocker sitzen. Julchen ist bei ihr. Sie rauchen beide und reden. Der Kerl liest etwas und ich bin froh. Doch kurz vor dem Stehtisch hebt er den Kopf und sieht mich an. Ich weiß in diesem Augenblick, dass sich seine Augen in mich gebrannt haben. Nicht gestern. Nicht bei der Bundespost oder sonst wo in den letzten Jahren. Aber wann?
»Ich gehe mit Jule kurz rüber und zieh mir was anderes an«, sagt Karin.
»Wir tauschen Klamotten. Ich finde das Teil super«, ergänzt Julchen.
»Es wird dir stehen.«
Sie grinst und winkt der Aushilfe hinter der Theke zu, nimmt Karin an die Hand. Kurz vor dem Ausgang lachen alle beide. Der Milchkaffee riecht gut. Einen Löffel Zucker hinein, umrühren, die weiße Kugel wird in den Pulk der anderen Billardkugeln gestoßen. Es klickert vielmals. Ich hatte recht. Er hat eine schwarze Hose an. Pusten, dann einen Schluck trinken. Von tief unten nähern sich die Augen. Sie sind in mir. Das weiß ich jetzt. Und dunkel, vielleicht schwarz. Im Unterbauch kribbelt es. Pochen am Hals, Schweiß auf den Handflächen. Ich muss tief einatmen. Sehr tief. Und noch einmal. Aber es nutzt nichts. Etwas geschieht. Rechts auf einem Vorsprung an der Wand liegen Zeitschriften. Ich greife zum SPIEGEL und beginne zu lesen. Nein, lesen kann ich es nicht nennen, eher durchblättern. Ablenkung suchen, wo es keine gibt. Ich trinke Schluck um Schluck, egal wie heiß es noch ist, zahle für uns, hebe kurz die Hand und gehe ins Freie.
Die Hitze trifft mich. Von den beiden ist nichts zu sehen. Kurzentschlossen bringe ich die wenigen Meter bis zum übernächsten Haus hinter mich und klingle bei Julchen. Der Summer tönt. Hochparterre, die Stimmen sind deutlich zu hören. Lachen, sie haben Spaß. Jule schaut ums Eck.
»Heinrich? Komm rein!«
Langsam beruhige ich mich und nehme in der Küche Platz. Ziemlich unaufgeräumt. Eine Junggesellin, niemand meckert wegen des Geschirrs in der Spüle. Karin kommt.
»Was ist passiert?«
»Ich weiß nicht … hab mich unwohl gefühlt. Als ob da eine Darmgrippe kommt.«
»Oha«, sagt Jule. »Dann bleib bitte auf Abstand. Das kann ich gar nicht brauchen.«
Karin legt die Hand auf meine Stirn. »Ui, ganz schwitzig und heiß. Ist vielleicht Fieber.« Sie hat eine ausgewaschene Jeans an, die ihr sehr gut steht. Dazu eine orangene Bluse mit breitem Revers.
»Sieht wirklich toll aus«, stelle ich fest.
»Bleibt es dabei? Du meine Klamotten und ich das kleine Schwarze?«
»Klar, Jule. So Kleider sind nicht meins. Ich fühle mich echt unwohl. Die ganze Zeit wird man angestarrt.«
»Dann lass uns gehen«, sage ich und stehe auf.


Im Hinterkopf ist er. Der Blick. Selbst hier im Grünen. Die Idee, in den Wald zu fahren, war gut, aber die meisten meiner Gedanken sind nicht bei den Bäumen, nicht bei dem Obstsalat oder Karins fein gezeichnetem Profil. Selbst die zur Attacke trompetenden Ameisen sind weit weg. Karin hat zwei Esslöffel vom Obstsalat hinter einem Baum auf den Boden gelegt. Das Schlaraffenland für die kleinen Tierchen.
»Was ist denn mit dir? Du bist so weit weg. Stimmt was nicht?« Ich stehe auf, schaue auf meine Schuhe, Karins kurze Haare. Sie hebt den Kopf.
»Können wir gehen?«
Nur ein Nicken von ihr. Etwas kommt. Noch ist es hinter einem entfernten Grat verborgen. Aus der Kneipe geflüchtet, nun raus aus dem stillen Wald, kaum was vom Obstsalat gegessen. Wohin jetzt?
»Ich weiß nicht, was ist. Keine Ahnung. Darmgrippe ist es auf jeden Fall nicht. Ich bin so unruhig. Kann mich keine Sekunde konzentrieren.« Karin packt zusammen, nimmt meine Hand, gibt mir eine Lucky, aber sie schmeckt nicht. »Weißt du noch, dieser Katastrophenfilm? Mit dem Erdbeben? Als die Kamera in die Erde geht, unten baut sich das Chaos auf und oben ist noch alles in Ordnung?« Karin nickt, raucht die Zigarette weiter. Ich tue ihr unrecht. »So fühle ich mich. Alles ist in Ordnung, aber da hinten in meinem Kopf, da ist ein Blick. Da sind Augen.«
»Augen?« Ihre Stimme klingt nicht sehr überzeugt.
»Erinnerst du dich an den Kerl, der nicht dich angesehen hat, sondern mich?« Sie kratzt die rechte Backe. Eine Mücke hat zugeschlagen. Nachdenken bis zum Ende der Kippe, die sie austritt und einsteckt.
»Ehrlich gesagt, nein. Ich könnte dir noch nicht mal sagen, wie viele mich angestarrt haben. Aber das war unheimlich. Ich habe mich gefühlt wie das Schaf vor dem Wolfsrudel.«
»Ja, kann ich verstehen.« Ich löse die Hand und lege den Arm um ihre Schulter. Sie drückt sich an mich. »Wir könnten uns von unterwegs Pizza mitnehmen und dann mal sehen, was in der Glotze kommt. Oder wir lieben uns einfach bis wir einschlafen.«
»Pizza und lieben«, höre ich. Eine schöne Vorstellung. Die Angst im Nacken werde ich hoffentlich neben ihr los.


Über uns sind zwei Monde. Warum sind es denn zwei Monde?, frage ich jemand, der nirgendwo steht, aber doch bei mir ist. Ganz nah. Weiß nicht. Offenbar weiß es niemand. Sie stehen so nah beieinander. Fast unmöglich. Gravitation, will ich sagen, aber dieser Jemand streckt die Hand, den Finger, zeigt nach oben. Es sind keine Monde. Es sind Augen. Seltsame Worte. Augen? Die Monde kommen näher. Es sind Augen! Noch näher. Schwarze Augen! Je näher, desto kleiner. Lass uns weg!, rufe ich. Renn! Aber niemand rennt weg. Warum denn nicht?! Um Gottes willen, können Beine so schwer wie dorische Säulen werden? Da höre ich doch eine Stimme, die ich kenne. Es ist meine. Sicher? Ganz sicher. Und dann bin ich vor mir. Wusste nicht, dass ich mal so klein war. Die Augen sind nicht bei mir, sie sind um den Kleinen. Kreisen drum herum. Das Bündel auf dem Boden wimmert. Schreien geht nicht. Rufen geht nicht. Die Welt ist eine Leere. Seltsam, dass ich weiß, wie es im Kleinen aussieht, der ja ich bin. Die Augen meinen nur ihn. Immer drum herum, dann stoppen sie und sehen mich an, den Großen. Ich kann nicht mehr atmen. Ersticken werde ich. Der Tod kommt mal so nebenbei, stolpert, fällt über mich, sagt Hallo und wird mich mitnehmen.

Nicht die Augen schlagen mich. Ich schlage mich. Der Kleine schlägt mich. Immerzu, in einem fort. Eiskalt wird es.
»Heinrich! Wach auf, verdammt!«
»Nimm den Jungen mit«, sage ich verzweifelt. »Er muss mit!«
»Welcher Junge?«
»Ich!«
Stille ist im Zimmer. Heftiges Atmen einen Moment später. Ich bin das. Völlig verschwitzt, alles klebt, die Decke feucht, das Laken. Licht wird angeschaltet. Karin kniet neben mir. Nichts an, wie ich. Wir schlafen immer nackt, halten uns fest, sommers, wie winters.
»Meine Wangen brennen.«
»Ich hab dir ein paar runtergehauen. Du hast fantasiert, dich hin und her gewälzt, geredet, geweint, bist gar nicht wach geworden. Ich hatte Angst um dich! Wirklich, Heinrich, das war furchtbar.«
Mehr als Nicken schaffe ich nicht. Mein Puls hat sicher noch mehr als 120. Ich stehe auf und gehe in die Küche, trinke ein Glas Wasser. Das im Fenster bin ich. Lieber auf den Stuhl sitzen, Beine ausstrecken. An Karin denken, die Pizza und wie wir uns liebten. Nichts steht zwischen uns. Doch. Jetzt ist da etwas. Falsch, es ist nicht zwischen uns, es ist in mir. Ich bin es.


Ich schlafe schlecht seit zwei Wochen. Eine unruhige Nacht folgt der nächsten. Tagsüber bin ich kaum zu gebrauchen. Meinen Dienst bei der Bundespost stört das nicht, dort gibt es noch mehr, die im Halbschlaf herumlaufen. Die Tätigkeit im Innendienst ist auch in reduziertem Zustand problemlos zu bewältigen. Jeden Tag in diesen zwei Wochen war ich bei Jule, habe den Schwarzen Mann jedoch nicht mehr gesehen. Bis heute. Bis jetzt. Wieder ein Freitag. Karin unterhält sich mit einer Bekannten am Nachbartisch und durch eine Gruppe Billardspieler entdecke ich den Blick. Ich bin sein Ziel. Ich könnte hingehen und ihn fragen, weshalb er mich anstarrt. Nur eine technische Möglichkeit, nichts was ich will, denn er ist der Grund von Unruhe, Erschöpfung, Müdigkeit, Zweifel und der Panik, die sich täglich hinterrücks anschleicht, egal zu welcher Tages- oder Nachtzeit. Oder wie in diesem Moment. Atemnot, Druck auf der Brust. So muss sich ein Stück Fleisch im Schraubstock fühlen. Ich tippe auf Karins Schulter.
»Ich muss mal raus. Frische Luft schnappen. Nur ein paar Minuten.« Sie nickt. Julchen kommt mit einem Tablett voll Getränke. »Geh mal fünf Minuten an die frische Luft«, rufe ich ihr zu. Okay, formen ihre Lippen. Hören kann ich sie nicht in diesem Lärm. Dann bin ich vor der Tür. Immer noch sehr warm, schwül, nichts zu sehen von Sternen oder Mond. Ich wünsche mir ein Gewitter. Lang und laut. Ein reinigendes Sommergewitter, die Straßen riechen nach Staub, Gummi und dem dampfenden Regen. Kann es sein, dass ich einen Herzinfarkt habe? Ich fühle mich eingeengt und nehme lieber auf einer Steinbank Platz, lege mich hin. Die Augen. Und ich höre eine Stimme. Zum ersten Mal. Im Kopf, nicht in meinen Ohren. Eine Kinderstimme. Um diese Zeit gibt es hier keine Kinder auf der Straße. Keine Ahnung, was die Worte sind. Undeutliches Geschwätz. Ein Stechen in der Herzgegend lenkt mich ab. Ich richte mich auf, sitze starr und lausche nach innen, lege die rechte Hand auf meine Brust. Mit 25 hat man noch keinen Herzinfarkt, oder? Karin kommt aus der Kneipe, schaut sich um, sieht mich und winkt. Ihr Lächeln ist weit weg. Was mich berühren und beruhigen könnte, tut es nicht mehr.
»Fahr mich ins Krankenhaus, ich glaube, ich habe nen Herzinfarkt.«
Sie stutzt, fühlt den Puls am Hals. »Ich hole das Auto«, sagt sie dann. So landen wir im Klinikum, der Notaufnahme. Die Symptome sprechen dafür, sagt der Assistenzarzt, misst Blutdruck, macht ein EKG, Sauerstoffgehalt, ich bekomme Kochsalz und Blutverdünner. Karins Sorgenfalten wollen nicht weichen. Immerhin, wenn es ein Herzinfarkt ist, hat es einen Namen. Ich weiß Bescheid. Hat der Gegner erst mal einen Namen, kann man ihn stellen und etwas dagegen tun. Das beruhigt mich aber nicht wirklich. Nach einer Viertelstunde kommt der Oberarzt, schaut in meine Pupillen, liest Papiere, Graphen, das Kardiogramm und hustet in die Faust.
»Ich wette, Sie schlafen unruhig, sind völlig erschöpft, ausgelaugt, laufen nur auf zwei Zylindern …« Er lacht kurz. »Und sie träumen doch bestimmt«, will er wissen.
»Stimmt. Mit den Träumen hat es angefangen. Nassgeschwitzt, hoher Puls. Vor zwei Wochen. Seither ist nichts mehr, wie es war.« Er nickt und schreibt etwas auf eine Karteikarte.
»Ihr Herz ist völlig in Ordnung. Das wird sie noch weit durchs Leben tragen. Rauchen Sie?« Ich nicke. »Und Alkohol?« Noch mal nicken. »Tja, dann wird es Sie vielleicht doch nicht so weit durchs Leben tragen. Aber im Moment läuft es wie am Schnürchen.«
»Was ist es dann?«, fragt Karin und greift fest um meine Hand.
»Nach meiner Meinung sind das Panikattacken. Wiederkehrende Panikattacken. Da arbeitet etwas in Ihnen und will raus. Das kann erhebliche organische Auswirkungen haben, Symptome eines Herzinfarkts etwa, Atemnot, Schlaflosigkeit, der Körper schaltet auf Notstrom, wenn Sie wissen, was ich meine.«
»Ich kann es mir vorstellen.«
Er steht auf, atmet tief ein. »Letztendlich ist es nicht mein Fachgebiet. Ich bin Internist. Wir lassen Sie heute Nacht hier zur Beobachtung. Ich bin mir aber sicher, meine Vermutung stimmt. Die Schwester gibt Ihnen etwas zur Beruhigung, dann kommen Sie zur Ruhe. Ihre Freundin darf gerne hierbleiben.« Der Doc lächelt und klopft mir auf die Schulter. »Ich schicke die Schwester. Entspannen Sie sich.« Dann geht er. Karin legt den Kopf auf meine Unterschenkel. Ich höre sie schniefen. Ich weiß, dass der Doc recht hat. Es sind die Augen.


Die Bundespost war gnädig. Eine Woche Urlaub auf die Schnelle. Das war Karins Idee. Sie muss Überstunden abbauen und hat mich förmlich gedrängt, daheim zu bleiben, auszuruhen. Deswegen kann ich jetzt um neun Uhr morgens am Fenster sitzen, auf dem breiten Sims vor mir Kladde, Füller, eine Tasse Kaffee. Die Lesung ist am Sonntagmorgen um 11 Uhr. Vielleicht schaffe ich noch ein paar Gedichte, einige neue würde ich schon gerne zum Besten geben. Aber was schreiben? Aus Konfusem wächst kein Wort. Keine Zeile. Der wandernde Blick aus dem Fenster schafft keine Ruhe, kein Raum entsteht. Etwas ist falsch. Wieder lande ich bei mir. Immerzu. Immerfort. Kein Wald und doch so viele Bäume. Da ist Karins Hand auf meinem Kopf, kraulend.
»Geht es nicht?«
»Nein. Ich bin ein Flussbett in der Wüste und es regnet nicht.«
»Vielleicht muss es ja nicht regnen. Vielleicht musst du nur das Flussbett und die Wüste beschreiben.« Sie beugt sich herab, küsst mich. Wir küssen uns. Etwas von ihr fließt auf mich über. »Ist es okay, wenn ich zum Friseur gehe?«
»Ja, natürlich.«
»Ich bringe Eis mit. Pistazie und Nuss für dich.«
»Zum Mittagessen?«
»Warum nicht?« Karin lacht. Es gibt wenig Menschen, deren Lachen wie ein gut gestimmtes Glockenspiel klingt. Sie ist ein solcher Mensch. Vielleicht muss es ja nicht regnen, hat sie gesagt. Vielleicht darf ich nicht so schreiben, wie ich das immer tue. Auf Gefühle reagieren und Worte dafür finden. Vielleicht … Karin geht und ich schließe die Augen. Schließe die Augen, um die anderen Augen zu sehen. Und sie kommen. Nur wenige Augenblicke dauert es, dann umkreisen die schwarzen, leeren Kreise mein Inneres. Nicht bewegen, nicht danach greifen. Kommen lassen. Je länger ich ihre Bewegungen beobachte, desto deutlicher treten sie hervor, desto intensiver krampft mein Unterleib. Die Zeit ist weit entfernt, irgendwohin verschwunden. Ein Kopf entsteht, formt aus sich ein Gesicht. Der Schwarze Mann, aber ganz jung. Aus dem Dunkel schälen sich weitere Gesichter. Fünf sind es. Sie lachen. Funkelnde Augen in jedem der Köpfe, aber lange nicht ein solch leerer Kosmos wie der des Schwarzen Mannes, der jetzt ein Junge ist. Ein Junge wie ich, der Zentrum eines Kreises ist, um dessen Peripherie die anderen stehen. Warum? Was ist mit ihnen? Was bin ich in diesem Spiel? Angst kommt gleich einem Tsunami, wächst über sich hinaus. In sich trägt sie ein Nichts. Der Schwarze Junge hat etwas in der Hand und die anderen ziehen dem in der Mitte die Kleider aus. Ich bin die Kamera. Einzelbild. Das in der Hand ist ein Stock. Gewachsen als Ast an einem Baum. Jetzt grün, moosig, nicht gerade, Biegungen, kleine Winkel. Er steckt es in den Jungen. Nein, er steckt es in mich. Ich schaue dem Jungen der ich bin in die Augen. Da ist niemand. So weit unten hat er sich versteckt. Raus. Rein. Geht es tiefer? Der Tod wird kommen, wenn ich schreie. Ich will die Augen öffnen. Es geht nicht. Gefangen in Einzelbildern. Blende auf. Blende zu. Langsam schneller werdend, bis ein Film daraus wird. Ich bin angekommen. Ich weiß, wer er ist, der Schwarze Mann. Ich weiß, wer die Augen sind. Der Junge muss sich Haare ausreißen, dann wird er die Augen aufmachen müssen. Das tut er.

Ich finde mich auf dem Schiffsparkett wieder. Gerade bin ich die zehntausend Meter in unter einer Minute gelaufen. Dass ein Herz so laut pochen kann, wusste ich nicht. Alles in Ordnung, sagte der Doc. Und die Schwester meinte, ich solle in eine Tüte atmen beim nächsten Mal. Ich habe keine Tüte, nur zitternde Hände, einen Krampf in der Wade, weinen muss ich und über mir die Zimmerdecke. Aber etwas muss ich TUN! Töten werde ich die Augen. Den Stock in die Pupillen. Einmal, zweimal, mehrmals. Das Geräusch, als würde man einen Gummistiefel aus dem Matsch ziehen. Da oben in meinem Kopf lasse ich ihn sterben, den Kerl, der aus dem Nichts kam. Und die anderen knöpfe ich mir danach vor. Bald sind alle tot und die Umrisse ihrer Körper lösen sich auf. Mehr als stille Schwärze bleibt nicht. So müde war ich schon seit langer Zeit nicht mehr. Ich weiß, was passiert ist. Und schlafe ein.


So hat Karin mich gefunden. Mit Mühe und Not ins Bett verfrachtet. Es ist dunkel draußen, aus dem Bad höre ich den Wasserhahn, dann den Fön, einen Lichtschalter. Kurz vor Mitternacht, zeigt der Wecker. Wo sind die Stunden hin? Einfach verschlafen? An nichts kann ich mich erinnern. Ein traumloser Schlaf war das. Vielleicht eine Art Totenschlaf. Karin kommt, sieht dass ich wach bin und legt sich neben mich. Wir schweigen. Nur ihre Hand ist auf mir, bewegt sich sachte hin und her. Ich kann sie nicht berühren.
Beim nächsten Blick hat der neue Tag schon seit zwanzig Minuten begonnen, ich drehe mich auf die Seite und entdecke Karins zusammengepresste Lippen. Die Angst steht ihr wie eingemeißelt ins Gesicht geschrieben. Ich bin nicht mehr der, den sie kennengelernt hat. Etwas ist dazu gekommen. Aus einem Grab gestiegen. Ich darf nicht schweigen.
»Hast du mein Eis in den Kühlschrank gestellt?« Sie nickt, dann kommen die Tränen. Nichts von all dem ist ihre Schuld. Ich nehme sie in den Arm. »Ich kann dir jetzt sagen, was passiert ist. Aber nur, wenn du es hören möchtest.«
Schweigen. Dann ein leises Okay.
Mit jedem Wort kommen mehr Bilder, aus jedem Bild wird ein Tag, eine Woche, Monate. Bin ich wirklich erst in meinen Zwanzigern? Oder ein Methusalem? Geschichten aus fernen Jahrhunderten. Meine Geschichten. Der Stock. Viele Stöcke. Vieles andere. Die Jungs. Viel älter als ich. Ich wollte nur eines nicht: sterben. Um nicht zu sterben, musste ich schweigen. Die einfachste Rechnung der Welt.
»Und das war der Kerl bei Jule?«
»Das war er.«
»Was wirst du jetzt tun? Ich meine, wenn du ihn wiedersiehst, jetzt, nachdem du dich erinnerst.«
»Nichts. Ich werde nichts tun. Er weiß, was er getan hat und weiß, dass ich es bin und ihn erkenne. Ich lebe noch. Er nicht. Die Augen sind leer.«

Diese Geschichte

Entstanden im Jahr 2024. Der Text behandelt das Auftauchen von vergrabenen Erinnerungen durch einen Trigger. Mehr und mehr schwappen sie ins Bewusstsein, beeinflussen Leben, Denken, Fühlen, beeinflussen Beziehungen, meist negativ, ohne dass man dies möchte. In der Gesellschaft ist die Akzeptanz für das Problem noch nicht sehr ausgeprägt und auch die Toleranz gegenüber entwürdigender Gewalt noch viel zu hoch; oder sie wird ganz verschwiegen, wenn es innerhalb von Familien oder im Umfeld geschieht. Das darf nicht sein. Die Spätfolgen sind kaum überschaubar und verursachen Folgeprobleme, die nur schwer zu handhaben sind.

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