Izmael Mitschett

KURZGESCHICHTE | »Zieh dir was Warmes an!«, fordert Mutter mich auf. »Es ist noch sehr frisch.«
»Nicht nötig«, brummel ich, ziehe die Wohnungstür hinter mir zu und den Rucksack auf den Rücken. Morgen früh um halb sieben vorne am Eck, an der Straßenlaterne, trug mir Vater gestern beim Mittagessen auf, als er offenbarte, mich in den vor mir liegenden Osterferien nicht in der Gebäudereinigung zu beschäftigen sondern im Tiefbau. Da siehst du mal was anderes und der Verdienst ist gut, begründete er seinen Plan. Um mir ins Gedächtnis zu rufen, dass seine Ehre auf meinen Schultern lastete in diesen drei Wochen, hängte er sein übliches ‚Mach mir keine Schande‘ an.
Das mit der Schande habe ich am nächsten Tag wieder vergessen und trotte kurz vor halb sieben in der Früh zur besagten Straßenlaterne Cäsarstraße Ecke Bonner Straße. Hundert Meter und eine auf die Seite gekickte Bluna-Packung. Es ist tatsächlich kühler als vermutet. Mutter hat recht gehabt. Vorne auf der Bonner Straße fährt ein Krankenwagen vorbei. Gerade als ich mich an den Laternenmast lehne, rollt ein gelber VW-Bus mit schon geöffneter Schiebetür heran und ich erkenne glimmende Zigaretten auf der hinteren Rückbank. Zwei Stück, ohne Gesichter dazu.
»Auf! Rein! Ist kalt!«
Eine Dreierbank nur für mich. Genug Platz. Ich steige ein, schließe die Tür und rutsche ans Fenster. »Guten Morgen«, begrüße ich die Zigaretten. Sofort setzen wir uns in Bewegung. »Schalam«, höre ich von der hinteren Bank. Ich drehe den Kopf. Die nächste Laterne erhellt für einen Augenblick ein unrasiertes, sehr dunkelhäutiges Gesicht. Das einzig Helle sind das Augenweiß und die Glut einer Zigarette. Der Mann neben ihm schweigt und starrt durch die Scheibe. Aus dem Nichts kommt eine Packung Roth-Händle auf mich zu. »Willsch Schigarette?«
»Nein, vielen Dank. Ich rauche nicht.« Von vorne höre ich Gelächter.
»Wir rauchen alle. In zwei Wochen wirst du einen Glimmstängel in der Hand halten«, prophezeit der Fahrer. Ich räuspere mich, schweige lieber und blicke aus dem Seitenfenster. Die Bonner Straße fliegt vorbei, Ewalds Kiosk, Möbelgeschäfte, Penny, Mehmets türkischer Teppichladen, der Rote Drache, unser erstes China-Restaurant in der Südstadt. Wir fahren Richtung Chlodwigplatz. Neben dem Fahrer sitzt ein Stiernacken mit gelbem Bauhelm auf dem Schädel, der sich ebenfalls eine anzündet. Die zur Verfügung stehende Atemluft löst sich in Rauch auf. Drei Wochen, denke ich. Drei Wochen durchhalten. Mehr nicht. Vielleicht kann ich ab morgen mit dem Fahrrad zur Baustelle fahren, wenn sie nicht allzu weit weg ist.
»Du bist das Söhnchen vom Rudolf?«
Ich blicke auf den Jackenkragen des Fahrers. »Ja. Ich heiße Heinrich.« Wir queren den Chlodwigplatz.
»Dein Vater hat gesagt, wir sollen dich drei Wochen malochen lassen. Bisschen im Tiefbau schnuppern. Schaffste das?« Ruckartig lenkt er den VW-Bus in eine Parklücke vor dem Severinstor und bleibt diagonal drin stehen. Bevor ich antworten kann, steigt er aus, schaut ins Fahrzeug. »Ich gehe zum Merzenich und hol das Übliche. Du auch was, Heinrich?«
»Äh, was ist das Übliche?«
»Dreißig Brötchen und zehn Dosen Leberwurst«, erklärt er tonlos.
»Ist okay, warten Sie, ich gebe Ihnen Geld …«
Er winkt ab und verschwindet. »Geht aufs Haus«, informiert mich der Stiernacken auf dem Beifahrersitz.
»Imme Lebewuscht …«, höre ich von hinten und drehe mich zum unrasierten Gesicht. Es zieht ein letztes Mal an der Roth-Händle, drückt sie am Seitenblech aus und blickt mich an. »Du auch esse Lebewuscht?« Was hätte ich sagen sollen? Schulterzuckend nicke ich und vermute einen türkischen Kollegen.
»Nigsch gut«, sagt er und sieht hinaus. Nach ein paar Minuten öffnet der Fahrer die Schiebetür, legt drei große Tüten und zwei Rollen Leberwurstkonserven auf meinen Schoss.
»Gut achtgeben«, weist er mich an und es geht weiter. Eine halbe Stunde später erreichen wir Merheim, parken auf einer Wiese beim Krankenhaus. Unübersehbar eine Tiefbaustelle mit allem Drum und Dran. Wir steigen aus. Die Männer strecken sich lautstark, gähnen ausgiebig. Der Stiernacken blickt in den Himmel und lächelt zufrieden.
»Heute wird es schön! Izmael …«, er deutet auf den Unrasierten, »du nimmst Heinrich mit in die Grube. Der erste Sammler muss diese Woche fertig werden.« Izmael nickt, dreht sich von uns ab, sagt ein paar Sätze auf Türkisch. Der Stiernacken greift sich in den Schritt, rückt die Unterhose zurecht. »Heinrich, hast du Stahlkappen?«, fragt er mit einem Blick auf meine Schuhe.
»Ja, Sicherheitsschuhe von meinem Vater«, bestätige ich.
»Gut! Astrein.« Er nickt Richtung Fahrer. »Werner fährt den LKW.« Dann zum dritten in der Riege. »Der Heinz am Bagger und ich bin Hartmut, der Polier. Komm mit zum Bauwagen. Ich geb dir Helm und Handschuhe.« Er holt eine zerknüllte Packung Reval aus der Brusttasche, fingert darin herum und flucht. »So ein Driss! Leer!« Achtlos wirft er sie in den Dreck und geht geradewegs auf einen gelben Bauwagen zu, schließt ihn auf und verschwindet darin. Ich folge, nehm alle vier Stufen auf einmal und renne gegen eine Wand aus unergründlichen Gerüchen. Schweiß in allen Nuancen. Von feucht bis zum besten Schweizer Käse. Ich traue mich zu atmen.
»Puh!«, rutscht mir raus.
»Das riecht ein wenig streng, was?«
»Mh.«
Den Rücken zu mir gewandt, kramt Hartmut in einer Holzkiste vor dem gegenüberliegenden Fenster, findet ein neues Paar Handschuhe und wirft es mir mit einem Grinsen zu. »Musste dich dran gewöhnen. In der Pause ziehen wir meist die Schuhe aus. Damit die Füße trocken werden. Wegen dem vielen Schweiß und so … weißte?« Ich nicke, versuche in die Handschuhe zu kommen, aber sie sind zu klein.
»Passen nicht«, stelle ich fest.
Hartmut kratzt sich den Kopf. »Na gut … in einer Stunde kommen der Ingenieur und die vom Tiefbauamt. Ich muss sowieso ne Liste machen mit benötigtem Material. Schreib ich zwei Paar und ne Öljacke drauf. Die wirste brauchen.«
»Danke, Hartmut.«
Er nickt, klatscht in die Hände und kommt auf mich zu. »Jetzt hol mal die Fressalien, leg sie hier auf den Tisch, dann ab zu Izmael in die Grube. Er sagt dir, was du machen sollst.«

Wie sich herausstellt, ist ‚Grube‘ eine starke Verniedlichung. Es ist ein geradezu monströses Loch im Boden. Rechteckig, sicher fünfzehn auf zehn Meter und fünf Meter tief. Auf dem Grund erblicke ich ein fast ebenso großes Betonfundament, eingerahmt von hervorstehenden Stahlarmierungen. So etwas wie betonierte Kanäle kommen von drei Seiten und ein doppelt so breiter verlässt das Fundament Richtung Westen. Alle vier Grubenseiten sind mit Spundwänden verkleidet und an einem der Stahlprofile hat jemand Meterangaben aufgepinselt. Über eine Leiter steige ich hinunter. Izmael inhaliert die letzten zwei Züge einer weiteren Zigarette, wirft sie in den Dreck und klatscht in die Hände. »Scho!« Er deutet auf zwei Paletten rote Ziegel. »Hasch scho gemauert?«
Ich schüttle den Kopf. »Nein. Normalerweise sitze ich in der Schule, wenn grad keine Ferien sind und arbeite nachmittags in der Reinigungsfirma.«
»Aha«, nickt er. »Alscho arbeite geht.«
»Ja, geht.«
»Jetsch komm mit. Isch scheig dir Schpeisch mache.«
»Schpeisch?«
Izmael kneift ein Auge zu, klettert die Leiter nach oben, wirft die Mischmaschine an, drückt mir eine Schaufel in die Hand und nimmt selbst den Wasserschlauch. »Hier, nimmsch vier Schaufel Schand, ein Schaufel Schement …« Ich drücke die Schaufel in den großen Sandhaufen, ziehe sie heraus und Izmael hebt beschwörend die Hände. »Bei Allaaah! Schaufel imme du machsch voll!«
»Null Problemo.« Ich mache sie voll. Vier Mal. Dann eine ebenso volle Schaufel Zement. Izmael zeigt auf die Trommel, sieht hinein und folgt mit dem Kopf der rotierenden Öffnung.
»Guggsch du!«
Vorsichtig nähere ich mich dem ratternden Etwas. Zwei angeschweißte Stahlrechen mixen Sand und Zement gut durch. »Guggsch du«, fordert er mich erneut auf und hält den Wasserschlauch hinein. Langsam öffnet er das Ventil und kontrolliert sorgfältig die Menge, stoppte bald. Fasziniert verfolge ich die Veränderung. Mit fortschreitendem Mischen erinnert mich die Masse an Nutella. Izmael hält die Menge an Wasser für ausreichend, stoppt den Wasserfluss, wirft den Schlauch auf die Seite. Einige Umdrehungen später drückt er den AUS-Knopf, zückt einen Spachtel aus der Gesäßtasche, entnimmt der Masse eine ordentliche Menge und hält sie vor meine Nase. Sie klebt auf dem Metall. In Zeitlupe löst sich das graue Zeug. »Gib mal Hand.«
Ich strecke sie ihm hin und er lässt den Klumpen auf die Handfläche fallen. Das fühlt sich überraschend gut an. »Ziemlich pastöse Masse …«, sage ich erstaunt.
»Wasch? Paschdösch? Scho musch schei. Erschd wenig Wascher. Langscham. Wenn tschu viel Wascher, isch Kacke. Nigsch gut.«
»Ich gebe mir Mühe«, kündige ich an und er grinst verdächtig. Ich bin irritiert. »Was? Hab ich was Falsches gesagt?« Izmael zieht mit dem Zeigefinger die Haut unterhalb seines rechten Auges runter.
»Isch brauch Maschin voll!« Er stellt einen großen Behälter unter die andere Seite der Trommel. »Hier! Machsch tschwölf Schand un drei Schement. Dann mit grosche Eimer un Scheil nach unne. Isch nehm ab. Trommel leer mache kannsch du?« Ich verstehe die Frage nicht und biege die Mundwinkel nach unten. Er seufzt, schaltet den Mischer wieder ein, packt einen Hebel, zieht ihn zu sich und kippt die ganze Konstruktion auf die andere Seite. Die Rechen in der Trommel schieben den Speis raus.
»Nicht schlecht«, merke ich an. Die Packung Roth-Händle taucht vor meiner Nase auf. »Nein, vielen Dank, Izmael. Ich rauche nicht.« Er zuckt mit den Schultern.
»Gut Junge … jetsch machsch du voll un Ischmael holt schich Schteine.« Er zündet die Zigarette an und steigt wieder ins Loch. Ich mache mich ans Werk.
Die erste Ladung Speis verwässere ich. Es ist mir peinlich, trete an den Rand der Grube, beobachte ihn eine Menge Ziegel umschichten. Dann traue ich mich. »Izmael! Zu viel Wasser! Und jetzt?« Er bleibt auf der Stelle stehen, die Ziegel vor der Brust und starrt herauf.
»Ah, egal! Nimmsch tschwei Schement daschu un ein Schand!« Ich starre ihn an. Sein plötzliches Grinsen. Was er sagt, leuchtet mir ein. Natürlich! Wieder dicker machen! Dass ich da nicht von selbst drauf gekommen bin … Dann fällt mir auf, dass ein nachträgliches Andicken die Trommel ziemlich voll macht. Das ist also der Sinn der Mit-dem-Wasser-aufpassen-Regel. Ich dicke an, leere in den großen Kübel und lasse eimerweise den Speis nach unten. Dann winkt mich Izmael in die Grube und wir beginnen mit dem Mauern. »Was machen die anderen?«, erkundige ich mich, nachdem ich die Eimer der zweiten Ladung abgelassen habe.
»Bauwage. Nigsch gut Kollege.« Izmael presst die Hände in die Nieren, drückt das Kreuz durch und grinst den Himmel an.

Erst der dritte Tag und schon keinen Bock mehr, sinniere ich an die Decke starrend. Konzentriert versuche ich, alle schmerzenden Muskeln in meinem Körper zu orten, überrascht davon, wo man überall Schmerzen empfinden kann. Vom Kalenderblatt springt mich der 4. April 1980 an. Ausgerechnet ein Mittwoch. Ich hasse Mittwoche und weiß nicht mal warum. Mir schwant, dass diese drei Wochen die Zeit in zähen Morast verwandeln werden. Waten in Speis. Soll ich aufstehen? Oder besser eine Erkältung vortäuschen? Mutter klopft.
»Heinrich! Aufstehen!«
»Komme!«
Izmael alleine zu lassen ist mir nicht möglich. Es fühlt sich an wie Landesverrat. Also schiebe ich einen Fuß unter der Decke hervor und zwinge mich zum Aufstehen. Kurz nach sechs Uhr und Vater sitzt schon am Frühstückstisch. »Wie läuft es bei der Arbeit?«, nuschelt er in seine Kaffeetasse.
»Könnte nicht besser sein. Vielleicht mache ich nach der Schule eine Lehre im Tiefbau«, erwidere ich mit freudiger Stimme. Er stoppt mitten im Kaffeeschlürfen, kneift ein Auge zu und fixiert mich mit dem anderen über den Rand der Tasse hinweg. Ich stürze das Glas Kaba runter, stecke zwei Scheiben trockenes Toastbrot in die Brusttasche der Latzhose und stehe auf. »Ich muss pünktlich sein. Tschüss …«

Kaum an der Laterne, hält auch schon der VW-Bus mit der üblichen Besatzung. Ich frage mich, ob einer dieser Männer jemals krank war oder wurde. Es folgt das Besorgen von dreißig Brötchen und zehn Dosen Leberwurst, was Izmael ebenso standardmäßig lautstark ablehnt. Ich bin in einem Ritual gefangen. Dazu gehört, dass Hartmut, Werner und Heinz den Tag im Bauwagen verbringen, um sich dem Stapel Reissdorf-Kisten zu widmen. Besucher der Baustelle, etwa das Tiefbauamt der Stadt Köln, die Wasserwerke oder der Bauleiter, kündigen sich vorher an. Dreißig Minuten vor einem solchen Termin erhöhen sich die Aktivitäten von Hartmut, Werner, Heinz und Maschinen sukzessive auf einhundert Prozent, um sich fünfzehn Minuten danach erneut dem EXPRESS, erstem FC und einer Flasche Kölsch zu widmen. Geht die Tür vom Bauwagen auf und nähern sich offizielle Stimmen, quittiert Izmael das mit erhobenem Zeigefinger, Stille und lauschenden Ohren. »Guggsch du! Komme Scheffe von Schdad«, lässt er mich wissen. Wir machen unbeirrt weiter.
An diesem dritten Tag jedoch schieben sich von Westen graue Wolken über Köln, die sich mehr und mehr verdichten. Kurz vor Mittag beginnt es zu regnen. Die Speiswanne ist so gut wie leer. »Kacke! Guggsch du, Regen. Un Middach. Kippsch de Schpeisch ausch. Gehen eschen.«
»Auskippen? Wohin denn?«
Izmael reckt die Hände gen graue Wolken. »Oh Allah! In de Dregg!«
»Na gut …« An einer Stirnseite der Grube ist es eine Vertiefung im Erdreich. Mir kommt der Gedanke, dass sie nicht grundlos dort gegraben wurde, wische das aber beherzt beiseite und leere den Rest der Masse hinein. Dann folge ich Izmael, wasche die Hände am Wasserschlauch, sehe ihn im Toilettenwagen verschwinden und öffne die Tür des Bauwagens. Eine Nebelwand vor mir. Der Rauch dutzender Zigaretten hängt wie ein Klotz im Wagen und schafft es nicht raus, weil die Kälte ihn daran hindert. Die Luft ist zum Schneiden, erinnere ich mich an Mutters Standardspruch, wenn Vater im Auto raucht. Izmaels Hand drückt mich von hinten die Stufen hoch.
»Losch! Rein! Isch werd nasch!«
»Tür zu! Es wird kalt!«, rief Werner. Sie klopfen Karten. Skat. Eine Menge Münzen liegen auf dem Tisch. Hustend halbiere ich ein Brötchen, streiche eine Zentimeterschicht Leberwurst drauf, nehme ein Reissdorf, stemme den Kronkorken an der Tischkante ab und setze mich neben Hartmut. Sein Blatt ist außerordentlich gut und er grinst mich an.
»Esch regnet«, meldet sich Izmael aus der Ecke. »Wenn esch regnet, nigsch arbeite in Grube. Isch will Dach!« Hartmut deckt seine Karten ab und sieht zum Fenster.
»Das bisschen Regen … stell dich nicht so an …«
»Nigsch bischen Regen! Kommt bald mehr! Dach oder nigsch arbeite!«, erwidert Izmael sehr nachdrücklich. Hartmut rollt die Augen.
»Wir ham die große Teerplane für die Betonarbeiten … die ist groß genug für das ganze Loch«, erwähnt Werner. Hartmut mustert ihn.
»Und wie sollen wir daraus ein Dach bauen?«, stellt er die Frage im Zigarettenrauch ab. Sie überlegen. Ich beiße herzhaft ins Brötchen, mixe das mit einem Schluck Kölsch und stelle fest, dass Kölsch und Leberwurst gut passen. Man merkt deutlich, wie ihre Fantasie die Flügel ausbreitet und zu einem spektakulären Höhenflug ansetzt; bis sie schließlich grinsen.
»Wir ham doch die Dachlatten für die Verschalung. Daraus nageln wir eine Tragekonstruktion«, schlägt Heinz vor.
»So machen wir’s«, legt Hartmut fest. »Dachlatten, aber hochkant, wegen dem Gewicht. Alle Meter, abwechselnd Einfach- und Doppellattung, das tragen wir über die Grube und legen die Planen drauf.« Werner atmet tief ein und dreht sich zu Izmael, der eine Tomate in Scheiben schneidet und vor sich hinbrummt. »Siehste Ischmael, so sorgen wir für dich …«
»Achtzehn«, meldet Hartmut.
»Bin weg«, erwidert Heinz.
Ich stecke den Rest des Brötchens in den Mund und schiele auf den Füllstand der Tüten. Noch ausreichend Inhalt, stelle ich beruhigt fest und leere das Reissdorf.

Gib Männern Hammer, Nägel, Holz, und sie bauen dir eine ganze Welt. Ein abgedroschener Spruch meines Vaters. Bei ihm gehört die Beißzange noch dazu, weil er jeden zweiten Nagel krumm schlägt. Hier, auf der großen Wiese vor dem Krankenhaus, entsteht allerdings ein Meisterwerk der Baukunst. Und nageln können die Kollegen. Schnell wird ihnen bewusst, dass man eine siebzehn mal zwölf Meter große Lattenkonstruktion, inklusive Auflagefläche, nicht am Stück tragen kann, weswegen sie zwei Teile anfertigen, die wir gemeinsam über die Grube legen und sorgfältig mit Bohlen beschweren, falls Wind aufkommt und unter die Plane greift. Der Regen hat in der Tat zugenommen, wie von Izmael prophezeit. Die Teerplane ist allerdings so schwer, dass wir sie nur zu viert tragen können. Als sie vor unseren Füßen liegt, dreckig, klebrig, starren wir uns abwechselnd an. Das ist der Augenblick, in dem uns bewusst wird, dass wir keine Ahnung haben, wie man eine Plane von solcher Größe über die ganze Fläche ausbreiten soll, ohne in die Tiefe zu stürzen. Über unseren Köpfen beginnt die Luft zu flimmern. Dann endlich, nach quälenden Minuten der Stille, schnippt Heinz mit den Fingern. »Ich hab’s! Wir legen die Plane auf einer Seite gefaltet aus. Ich nehme einen in die Schaufel und bewege ihn über die Grube. So kann er die Plane richtig ausbreiten.« Erwartungsvoll blickt er in die Runde.
»So machen wir’s!«, stimmt Hartmut dem Vorschlag zu. »Auf, wir ziehen sie auf der linken Seite auseinander!« Es dauerte nur einige Minuten, dann liegt sie in ganzer Länge vor uns, mehrfach gefaltet.
»Und wer geht in die Schaufel?«, fragt Heinz. Ich will mich klein machen, zurücktreten, denn solche Jobs überlässt man meist den unteren Rängen.
»Izmael! Du bist der Türke hier!«, ruft Werner mit einem Lächeln auf den Lippen. »Außerdem wirst DU ja nass. Nicht wir …«
»Ich kann das auch machen«, gehe ich mit erhobener Hand dazwischen, ohne überlegt zu haben, was ich da sage. Etwas trieb mich dazu, Izmael da rauszuhalten, aber Hartmut winkt ab.
»Vergiss es! Du bist der Sohn vom zweiten Chef. Wenn dir was passiert, reißt mir dein Alter den Kopf ab! Heinz, schmeiß den Liebherr an. Izmael in die Schaufel!« Der hebt die Hände zum Himmel und bittet Allah um Beistand. Dann stellt er sich neben die voluminöse Schaufel. Der Motor springt an. Heinz hebt den hinteren Arm und bringt die Grundfläche der Schaufel in die Horizontale. Izmael klettert hinein und verschwindet fast darin. Die Ketten setzen sich in Bewegung, bis zwei Meter vor den Grubenrand. Dann schwenkt der Aufbau nach links, der zweite Arm streckt sich zur Ecke und Heinz lässt Izmael, im Stahl stehend, nach unten. Der packt die Plane.
»Werner und Heinrich! Nehmt die andere Ecke und sorgt dafür, dass die Plane gespannt ist!«, ordnet Hartmut an. Wir laufen auf die gegenüberliegende Seite und tun wie uns geheißen wurde. Und tatsächlich! Die Zusammenarbeit klappt hervorragend. Stück für Stück bedeckt das schwere Ding die Grube. Bald hängt Izmael über der Mitte, beseitigt Falten, zieht mal links, mal rechts und Heinz erweist sich als ein Meister der hydraulischen Feinmotorik. Nach einiger Zeit ist es geschafft. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Heinz uns bedeutet, aus dem Bereich des Baggers zu gehen. Ich halte es für eine Vorsichtsmaßnahme, aber dann klappt er die Schaufel ein, hebt den hinteren Arm. Izmael fällt mit einem Schrei um. Er schwebt samt Schaufel zwei Meter über dem Boden und Heinz drehe den Aufbau über den Drehkranz. Zuerst langsam, dann beschleunigt er und macht aus seinem Liebherr ein Karussell mit Izmael als unfreiwilligem Mitfahrer, der sich immer wieder versucht aufzurichten, wieder umfällt, bald mit beiden Händen an den Stahlkanten festkrallt und alles erduldet. Heinz gibt alles. Mir war nicht klar, dass sich der Drehkranz eines so großen Baggers derart schnell drehen kann.
Werner und Hartmut halten sich die Bäuche vor Lachen. Ich bin sprachlos. Kann weder lachen noch etwas sagen. Was soll ich tun? Hoffen, dass es bald aufhört! Oder Hartmut in die Eier treten? Meinem Vater sagen? Izmael verschwindet in der Schaufel. Seine Hände lassen los und Heinz verlangsamt, stoppt, senkt die Hydraulik ab. Wie ein Stück Bauholz purzelt der Gepeinigte heraus. Er versucht sich aufzurichten, fällt um, probiert es erneut. Zwecklos. Ich gehe zu ihm, greife unter seine Arme, ziehe ihn hoch, bugsiere Izmael zu den Zementsackpaletten und setze ihn ab. Den Oberkörper nach vorne gebeugt, übergibt er sich heftig. Ich springe zurück. Unsere Kollegen wanken lachend in den Bauwagen. Der Regen wird noch stärker und ich setze die Kappe der Öljacke auf.
»Nigsch gut Kollege«, murmelt Izmael.

Die nächsten vier oder fünf Tage schweigt er. Keine Begrüßung, keine Verabschiedung. Mittags ein kurzes Gebet gen Südosten, das Notwendigste zur Arbeit, das war’s. Ich erledige meinen Job. Speis machen, den ich inzwischen von gleichbleibender Qualität anfertigen kann, alles mit Eimer und Seil in die Grube lassen, dann hinab und Izmael die Ziegel angeben. Ich lerne Bitumenstreifen als Basis für die Mauer aufzukleben, das Ausnivellieren mit Wasserwaage und Richtlatte, wie man eine Schlagschnur benutzt oder das Senklot einsetzt. Izmael zeigt mir alles, aber ohne Worte. Wir sind in der zweiten Woche und meine Muskeln gewöhnen sich an die vielen neuen Bewegungsabläufe. Hartmut, Werner und Heinz sitzen sich weiterhin die Hintern im Bauwagen platt, aber der Vorteil ist, dass wir unsere Ruhe haben. Izmael ist schnell und gut. Inzwischen weiß ich, dass wir einen Sammler mauern, ein Behältnis zum Auffangen des Regenwassers aus den verschiedensten Richtungen, inklusive einer Sedimentabscheidung. Die drei Wochen sind keine Belastung mehr für mich, weil ich merke, was ich hier alles lernen kann. Und so steige ich am Freitag der zweiten Woche frohgelaunt aus dem gelben Bus. Izmael sagt zum ersten Mal wieder Schalam und aufgrund meines Telefonats mit Kemal aus meiner Klasse kann ich mit dem Gegengruß Aleikum-a-salam antworten. Izmael starrt mich an und zwinkert mir zu, bevor er sich auf den Weg zum Bauwagen macht. »Kannste jetzt schon Türkisch?«, fragt Hartmut erstaunt, eine Reval aus der Packung ziehend.
»Ist Arabisch. Aber gläubige Türken benutzen das auch«, kläre ich ihn auf.
»Aha … woher weißte das denn?«
»Hab ein paar Türken in der Klasse. Die hab ich gefragt.«
Er zündet die Filterlose an und bläst den Rauch in den Himmel. »Na dann«, ist seine Antwort und dreht sich weg. Ein Schrei kommt aus dem Bauwagen. Fast unmenschlich. Gleich darauf folgt Izmael, den Eimer mit Kellen, Spachteln und Traufeln in der Hand. »Nigsch gut Kollege!«, brüllt er, schleudert Eimer und Werkzeuge in hohem Bogen von sich weg. Scheppernd landet alles neben dem Toilettenwagen. Hartmut grinst und presst die Luft aus. Werner und Heinz brechen in homerisches Gelächter aus und ich verstehe nicht, was vor sich geht, trotte aber zum Eimer und will die Werkzeuge einsammeln.
Izmael tobt, dreht rennend eine Runde nach der anderen um den Bauwagen. Er ruft nicht nur nach Allah, nein, er stößt fortwährend laute Sätze aus, auf Türkisch. Vermutlich Flüche und Beschimpfungen. Als ich die Werkzeuge anfasse, fühle ich die schmierigen Griffe, lasse sie angeekelt fallen und rieche an meinen Händen. Leberwurst! Die Kollegen haben alles mit Leberwurst eingerieben! Ich schäme mich. Was soll ich jetzt tun? Kurz spüre ich den Impuls, allen drei aufs Maul zu hauen, sammle aber lieber das Werkzeug ein, gehe in den Toilettenwagen und fange an, die Griffe mehr als gründlich mit Seife abzuwaschen. Einen könnte ich locker umhauen, male ich mir aus, aber da gibt es noch zwei. Und alle drei sind gestandene Kerle. Also schrubbe ich lieber ein zweites Mal. Jemand kommt die Treppen zum Wagen hoch, dann stehet Izmael neben mir. »Wiede schauber?«
»Nix mehr dran, Izmael. Ich bin gut im Saubermachen.«
Er nickte, legt jedes der Werkzeuge sorgfältig in den schwarzen Eimer und geht hinaus. Ich sehe kurz in den Spiegel und folge ihm in die Grube. Der Sedimentabscheider muss fertig werden.

Die dritte Woche beginnt. Laterne, VW-Bus kommt, ich steige ein. Werners Frage nach dem Üblichen. »Dreißig Brötchen und zehn Dosen Leberwurst?«
»Für mich nicht«, sage ich ihm. »Hab mein eigenes Essen dabei.« Er starrt mich für einen Moment an. Hartmut drehte den Kopf.
»Was los? Ist dir das mit dem Scherz am Freitag nicht bekommen? Izmael wird’s überleben. Türken sind zäh.«
Ich sage nichts. Es gibt auch nichts mehr zu sagen. Was sollte ich ihm antworten? Sie sind unten durch. Alle drei. Die Menge blieb gleich. Dreißig Brötchen und zehn Dosen Leberwurst. »Müssen wir halt mehr essen«, kommentiert Werner und fährt los. Nun bin ich nicht mehr auf ihrer Seite. Zwar kommt mir dieser Gedanke nicht auf der Fahrt, aber eine halbe Stunde, nachdem wir in der Grube stehen, steigt Hartmut zu uns runter und fordert mich auf, mitzukommen. Wir gehen an die östliche Spundwand.
»Hier gibt es einen Durchbruch zum Kanal der vom Krankenhaus kommt. Da muss ein Sinkkasten betoniert werden. Dafür brauchen wir ein Fundament. Hundert mal hundert Zentimeter und achtzig tief.« Er sticht mit dem Spaten das Stück ab, kontrolliert mit dem Meter, korrigiert die Linie und drückt mir den Holzgriff in die Hand. »Zwei Stunden haste Zeit«, sagt er und verschwindet. Ich sehe ihm nach, dann zu Izmael.
»Machsch du. Schpeisch isch voll. Schtein hol isch mir.«
Also fange ich an und stelle umgehend fest, dass der Grund bröckelig und hart ist. Der Stahl geht gerade mal ansatzweise hinein. Drauftreten nutzt nichts. »Holsch Piggel«, rät Izmael. Das tue ich und es dauert keine halbe Stunde, da wachsen ordentliche Schwielen an meinen Handflächen. Ich schlage abwechselnd mit der linken, dann mit der rechten Hand. Kräftig wie ich bin, machte das kaum einen Unterschied zu beidhändigem Hauen. Nach der Frühstückspause kommt der Tiefbau-Ingenieur, um den Fortgang der Arbeiten zu begutachten, klettert zu uns in die Grube. Er stellt sich neben mich, dreht den Plan nach allen Seiten und kratzt sich den Kopf. »Ähm … Entschuldigung, Sie sind doch Konstantin Junior, nicht wahr?«
»Bin ich«, bestätige ich und wische den Schweiß von der Stirn.
»Ja … was Sie da machen, ist nicht richtig. Laut Plan passiert an dieser Stelle nichts …«
»Aber der Polier hat gesagt, ich solle das Loch graben für einen Sinkkasten …« Der Ingenieur winkt ab, grinst fast mitleidig.
»Pläne lesen ist nicht einfach. Der Sinkkasten ist genau auf der anderen Seite. Kommen Sie!« Er wechselt zur gegenüberliegenden Spundwand. Ich seufze und nehme zur Kenntnis, dass ich verarscht worden bin. »Sehen Sie … hier ist die Lattenmarkierung. Und Sie müssen auch nicht so tief. Wir brauchen nur vierzig Zentimeter, weil der Kanal sowieso höher ankommt.« Ich nicke. Er kann ja nichts dafür, der Ingenieur.
»Kein Problem. Das hab ich ruckzuck draußen«, versichere ich ihm.
»Sehr gut …«
»Nigsch gut Kollege«, hört ich Izmael murmeln. Der Mann mit dem Plan wendet sich Izmael zu, kontrolliert die Abmessungen der Sammlerwände, Winkel und Wandstärken, lobt die sehr gute Arbeit und verlässt das Loch. Ich lasse den Pickel in den Boden hacken. Aber dort wie drüben mit demselben Ergebnis. Die Schwielen wachsen und jeder Schlag tut weh.

Als die Mittagspause kommt und ich Bammel davor habe, mit den schmerzenden Händen die Leitersprossen anzufassen, klopft Izmael mir auf die Schulter. »Nigsch Bauwage. Hier schitsche, Pausche mache.«
»Ich muss mein Essen holen, Izmael …«
»Nigsch. Hab Esche da. Du schedsch dich.« Ich lege ein paar Ziegelsteine auf das Betonfundament und mache es mir bequem. Aus seiner Tasche zieht er eine Packung hartgekochte Eier, Fladenbrot und eine große Tupperdose mit hellbrauner Paste. »Dasch Hommosch. Schehr gut. Nimmsch Ei, Brot, Hommosch.«
»Danke, Izmael.« Vom Brot reiße ich ein Stück ab, tunke es in die hellbraune Paste und probiere vorsichtig. Doch die Vorsicht ist unnötig. Es schmeckt ausgezeichnet. Brot, das Zeug und ins Ei gebissen … um Klassen besser als Leberwurstbrötchen.
»Schmeggd?«
»Schmeckt fantastisch, Izmael.« Er grinst über beide Ohren. Zum ersten Mal sehe ich ein so breites Grinsen an ihm. Die Formen in seinem Gesicht verändern sich schlagartig. Alles Misstrauische, Dunkle, Zurückhaltende verschwindet und wandelt sich zu einem Leuchten. Sein Blick öffnet sich als würde man aus einem dunklen, kalten Tal in eine warme, sonnendurchflutete Auenlandschaft treten. Aus der Stille in vielstimmiges Vogelgezwitscher. »Darf ich dich was fragen, Izmael?« Mehr als ein ‚Mh‘ schafft er nicht mit dem vollen Mund. »Woher aus der Türkei kommst du?«
Er schluckt ein paar Mal, spült mit Wasser nach, zieht einen Baubleistift aus der Hemdtasche und zeichnet auf den Beton die Umrisse der Türkei. Im Nordosten drückt er einen dicken Punkt aufs Grau. »Kirdili.«
»So heißt das Dorf?«
»Ja. Dorf heischd Kirdili.« Ich tippe mit dem Finger außerhalb der gezeichneten Türkei auf den Beton.
»Da ist das Schwarze Meer, nicht wahr?«
»Ja, Meer … isch schön … alles schön in Kirdili.«
»Gib mir mal bitte den Bleistift.« Er nickt und reicht ihn rüber. Mitten in die Türkei schreibe ich: Ismael aus Kirdili. Aber er schüttelt den Kopf.
»Nigsch ‚sch‘, Ischmael Mitschett!«
»Ismael Mitschett? Ist das dein Name?«
Sein Kopf richtet sich gen Himmel. »Allah, hilf Ischmael …« Dann nimmt er den Bleistift und kritzelt Izmael daneben, tippte auf das ‚z‘. »Mitschett«, betont er aufgeregt. Schlagartig fällt das Brett vor meinem Kopf auf den Boden. Ich meine sogar, den Aufschlag zu hören.
»Ach so! Du heißt Izmael, aber mit ‚z‘. Nicht mit ‚s‘!« Jetzt lacht er und entblößt zwei kräftige Reihen weißer Zähne. Sie sehen aus wie neu. Dazwischen erkenne ich eine Art Restzunge, irgendwie verstümmelt. Er bemerkt meinen Blick und schließt den Mund sofort. Beschämt senkt er den Kopf. »Schuldigun …«
»Was ist da passiert mit deiner Zunge? Ein Unfall?« Er rupft ein Stück Fladenbrot ab, tunkt es in die Paste, führt alles zum Mund. Ich lege die Hand auf seinen Unterarm und stoppe die Bewegung. »Na komm, Izmael. Erzähl … was ist mit deiner Zunge?«
Er kämpft mit sich, bewegt den Kopf hin und her, redet Unverständliches. Soll ich noch einmal fragen? Izmael sieht aus, als müsse dieser Brocken endlich raus, nur wie er das anstellen soll, scheint ihm nicht klar zu sein. Von einem Moment auf den anderen, sackt er in sich zusammen. Ein Häufchen Elend, mehr nicht. Spontan lege ich die Hand auf seine rechte Schulter. »Ist schon gut«, versuche ich ihn zu beruhigen. Er zieht eine Art Perlenkette aus der Jackentasche und beginnt die kleinen, braunen Kugeln zu zählen in einem Mischmasch aus Türkisch und schlechtem Deutsch.
»Ischmael Kurdisch«, sagt er nach drei oder vier Zählrunden. »Scholdade, du weischd? Ischmael Gefängnisch, Scholdade …«, er demonstriert mit der flachen Hand so etwas wie ein schneidendes Messer, sieht mich mit aufgerissenen Augen an. Wieder dauert es einen Moment, bis ich die Geste kapiere. Dann schrecke ich zurück.
»Sie haben dir die Zunge abgeschnitten?«
»Ja, ja, Schunge, vorne, Schunge, mid Mescher … un Schäne alle weg! Ischmael jedsch neue Schäne. Gredit, arbeide in Almanya für Schäne. Gude Schanardsch in Almanya …« Izmael presst die Lippen aufeinander und nickt in einem fort. Die Augen auf mich gerichtet.

Diese Geschichte

Entstanden im Jahr 2022 und erzählt eine Geschichte aus dem Jahr 1979. So passiert wie aufgeschrieben. Von Alltagsrassismus und gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit war damals noch nicht die Rede. Die Soziologie in den Kinderschuhen, was das angeht. Damals war das normal. Es war aber keinesfalls so, dass die Alltagsrassimus praktizierenden Menschen nicht wussten, dass es falsch ist, was sie tun. Sie wussten es. Ihnen war es lediglich egal. Und ebenso hört der junge Heinrich zum ersten Mal etwas über Kurden und dass es in der Türkei offenbar ein Problem gibt. Denn bis jetzt waren für alle Menschen aus der Türkei einfach nur Türken.

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