Fatou

Erster Akt

KURZGESCHICHTE | Malik Benaissa lockert mit dem Stock den Humus in der Kiste, setzt das Pilzgeflecht ein und legt ein nasses Tuch über die Stelle. Es ist gut für heute, denkt er, dreht sich, zählt die Kisten, die er heute geimpft hat, und ist zufrieden. Aus der Felsenhöhle strömt kühle Luft, voll der intensiven Pilzaromen. Malik hebt den Kaftan etwas an, schaltet das Licht aus, steigt die knarrenden Holzstufen empor und schließt die Bodenluke. Er geht ins Freie, hebt kurzentschlossen den Daumen gegen den Sandstrand unter der felsigen Anhöhe, auf der seine Hütte steht. Zwei Daumen breit bis zum Meer. Vor einem Jahr passten noch drei Daumen dazwischen. Das Wasser kommt. Zehn Meter sind es nach unten zum Sand der Bucht von Chréa. Zehn Meter über von Wind, Wasser und Zeit zermürbten Holzstufen. Er beugt sich über die Brüstung und sieht hinunter. Ein Sprachenwirrwarr kommt von dort. Helle Stimmen, Frauen und Mädchen offenbar. Sie müssen sich unterhalb der überhängenden Felskante aufhalten. Am östlichen Ende der halbmondförmigen Bucht macht sich eine Gruppe Menschen auf den Weg übers Meer. Sie schieben alte Schlauchboote ins dunkelgrüne Wasser, binden sie zusammen. Malik weiß, was sie erwartet.

Um die Landzunge von Taza kommt ein Schiff, nimmt Kurs auf den Strand. Es ist ein alter Trawler, dem Malik nicht einen seiner Pilze als Passagier anvertrauen würde. Nicht für eine halbe Stunde! Der in allen Farben und Richtungen gestrichene Bug des Schiffes hält auf die drei Gummiboote zu, die inzwischen mehr Menschen tragen, als gut sein kann. Kurz davor dreht es bei. Vom Heck fliegt ein Tau zum ersten Boot. Viele Hände halten es fest und der Kapitän beschleunigt, wendet Richtung Norden, Richtung Europa. Das Gewicht der Boote ist so außerordentlich, dass die Hände der Menschen alleine keine stabile Verbindung herstellen können, selbst so viele nicht. Einige gehen sofort über Bord, werden von der Kraft des schleppenden Schiffes und der Behäbigkeit der Masse weggerissen. Sie schreien, landen im Wasser. An einigen Stellen färbt es sich rot. Malik schüttelt den Kopf. Und doch greifen weitere Hände nach dem Tau, das sich unbarmherzig über die Köpfe der Menschen hinwegzieht, ins Wasser durchhängt, und endlich gibt es einen Ruck. An etwas oder jemand ist es hängen geblieben. Die, unter all den Körpern kaum sichtbaren Hoffnungen aus Gummi, bewegen sich aus der Bucht hinaus. Großer Jubel brandet herüber, Jauchzen, Freudenschreie, winkende Hände.
»Bis bald, ihr Narren«, murmelt Malik, geht in seine Hütte, stellt den Wasserkessel auf die Heizplatte, stopft einen Minzzweig in die Karaffe und setzt sich. Er wartet, lauscht dem Geräusch des warm werdenden Wassers, versucht die Stimmen dazwischen zu erkennen und hört plötzlich ein Knarzen. Malik zieht die Schrotflinte unter dem Tisch hervor und richtet sie auf die Tür. Das Wasser brodelt, er schaltet die Platte aus. Nichts ist zu hören auf der Veranda. Dann ein Klopfen.

»Hau ab!«, sagt er auf Arabisch und Französisch. Das muss reichen. Wieder klopft es. Das Pochen kommt vom unteren Teil der Tür. Es wirkt schwach und etwas daran erinnert ihn an die vielen Male, die er als Kind an die Tür seines Großvaters klopfte. Sehr ärgerlich, denkt er, ich muss meinen Tee aufgießen und darf die Flinte nicht loslassen. Es pocht erneut. Noch zaghafter dieses Mal.
»Wer ist da!?«, ruft er auf Französisch.
»Fatou …« Eine leise Mädchenstimme.
»Bist du allein?«
»Ja, mein Herr … wirklich!«
Malik überlegt und kommt zu keinem Entschluss. Ein Mädchen kann ja nicht gefährlich sein. Aber hinter ihr könnten andere stehen … allerdings, das Knarzen klang so schwach …
»Bist du krank? Hast du das Virus?«
»Nein, niemand von uns ist krank«, kommt es verzweifelt von der Veranda. »Der Doktor hat gesagt, ich bin eine Immune.«
»Ich habe eine Waffe. Mach ganz langsam die Tür auf!«
Der Holzriegel hebt sich, das Türblatt schwenkt auf. Malik sieht eine große Nase auf Riegelhöhe. Die Nasenflügel beben heftig. Eine rechte Hand schiebt sich durch den Spalt, winkt in den Raum hinein. »Darf ich kommen?« Den Lauf der Flinte gen Tür steht Malik auf und geht leise zur Anrichte.
»Komm rein! Mach sofort hinter dir zu und setz dich vor der Tür auf den Boden!«
»Mach ich, mein Herr …« Im Nu schlüpft eine dunkle Gestalt in den Raum, schließt die Tür sachte, setzt sich, dreht den Kopf zum Stuhl, auf dem Malik noch vor einem Moment saß. Aus dem schwarzen Gesicht strahlen große, weiße Augen wie Scheinwerfer in das Halbdunkel. Das sind aber besonders schöne Augen, findet Malik und räuspert sich. Die Kleine entdeckt ihn und rutscht beim Anblick der Schrotflinte entsetzt an die Tür zurück, zieht die Knie hoch. Sie schweigt und zittert. Keine anderen Geräusche sind zu hören, weder Stimmen noch die knarzende Treppe.
»Du bist also wirklich alleine, Fatou …«
»Ja, mein Herr«, krächzt sie mit trockener Kehle.
»Komm her und gieß auf. Dann werden wir zusammen einen Minztee trinken.« Malik senkt den Lauf der Flinte und setzt sich wieder. Fatou tut, was er ihr aufgetragen hat. Beim Eingießen hebt und senkt sie den Wasserkessel mehrmals. Es sprudelt nur so in der Karaffe. »Sieh an, du weißt, wie man guten Minztee zubereitet«, stellt er anerkennend fest. Fatou nickt eifrig, trägt den Kessel zurück und schiebt sich vorsichtig auf den zweiten Stuhl, als wollte sie mit der langsamen Bewegung seine Erlaubnis einholen.

Zweiter Akt

»Du bist aber ganz schön schwarz. Woher kommst du?«
»Aus dem Senegal, mein Herr.«
»Senegal!?« Er kräuselt die Stirn, blickt durch sie hindurch. »Senegal, das sind mindestens 3.000 Kilometer bis hier … alle Achtung! Aber du bist sicher nicht allein gekommen, nicht wahr?«
»Nein.« Fatou sieht auf ihre Finger, dreht die Handflächen und starrt dann auf den lindgrünen Tee. Ölige Schlieren ziehen von den Blättern in alle Richtungen. Es beginnt stark zu duften. Nein heißt nein, denkt Malik. Und wenn sie nichts mehr sagt, wird es ihr bestimmt gehen, wie den meisten, die hierher kommen: unterwegs stirbt die Hälfte. Irgendwo. In der West-Sahara, Mauretanien oder sonst wo in der Wüste.
»Von was leben Sie, mein Herr?«
»Ich brauche nicht viel«, weicht er misstrauisch aus. »Alte Männer wie ich essen kaum.«
»Ich esse auch kaum. Hab mich dran gewöhnt«, erklärt sie wie selbstverständlich. »Aber Durst hätte ich schon …« Malik zieht den Duft des Tees in die Nase. Er riecht fertig. Aus dem Regal nimmt er zwei Tonschälchen, stellt eines vor Fatou auf den Tisch und schenkt ihr ein. Zieht die Karaffe hoch. Es sprudelt. Dann senkt er sie ab, tut dasselbe bei sich.
»Dann lass es dir schmecken, kleine Fatou.«
Sie grinst und leert laut schlürfend das Schälchen. Malik sieht verwundert zu, wartet sekündlich auf den Schrei. Das kann doch niemand so heiß trinken! Doch Fatou schließt lediglich die Augen und atmet deutlich sichtbar ein. Der kleine Körper wächst fast über sich hinaus. »Mh … war das gut. Darf ich noch?«
Malik ist fasziniert von ihrem Augenweiß und schenkt nach. »Willst du nach Europa?«
»Nein«, erwidert sie, schlürft wieder leer und blickt auf die Karaffe. Nein? Er wundert sich. Wo könnte man sonst hinwollen?
»Du kannst den ganzen Tee leer trinken.«
Fatou richtet sich auf, zeigt ein breites Grinsen und weiße Zähne. »Danke, mein Herr.«
»Ich bin nicht dein Herr. Ich heiße Malik.«
»Ja, Herr Malik.«
Er seufzt und trinkt den Tee, darauf achtend, sich nicht die Lippen zu verbrühen. Im Hinterkopf entsteht der Gedanke, Fatou etwas zu essen anzubieten. Von seinem Essen, das er im Keller züchtet. Und von dem außer ihm niemand etwas weiß und das unbedingt so bleiben soll. Ein Dilemma.
»Die anderen Frauen und ich wollen auf eine dieser Inseln, Herr Malik. Dort werden sie uns brauchen. Ich zum Beispiel kann kochen, putzen und Männer befriedigen.« Malik verschluckt sich und hustet lautstark. Er tut so, als hätte er das nicht gehört, räuspert sich einige Male und setzt sich aufrecht. Die Flinte auf dem Schoß wird zu schwer. Er steckt sie wieder unter den Tisch, entspannt den Hahn.
»Du bist alleine geflohen, hab ich recht?«
Fatou schlürft den Tee und nickt dabei, setzt dann ab und gießt nach. »Mein Stiefbruder ist mit mir gegangen. Er war ein Idiot. Ein Skorpion hat ihn eines Nachts gestochen und er ist zwei Tage später gestorben.« Sie sieht sich um. »Haben Sie ein Kind, Herr Malik?«
Er presst die Lippen zusammen. Was er sieht, ist ein elf- oder zwölfjähriges Mädchen, das Dinge sagt, für die er als Kind windelweich geschlagen worden wäre. »Ich konnte nie Kinder bekommen. Ein paar Jahre lang habe ich es versucht, aber eines Tages sagte ein Doktor, dass es … nun ja, dass es noch nie funktioniert hätte, also, mein, äh …«
»Ist ja auch egal, warum«, beendet Fatou Maliks Gestammel. »Aber bereuen Sie es?«
»Kein Kind bekommen zu haben?«
»Hm.«
Er atmet lautstark ein und denkt an den Strand, die Boote, die täglich angeschwemmten Toten, nicht wenige mit unzähligen Schusswunden. An die Dürre und das fischlose Meer. »Nein. Ich bereue es nicht. Es ist gut so, wie es ist.« Fatou sieht ihn auf rätselhafte Weise an. Er kann den Blick nicht deuten. Traurig vielleicht … was hatte sie gesagt: die Inseln? »Ich habe von den Inseln gehört«, lenkt er ab, »aber noch keine gesehen. Die Menschen erzählen davon, zumindest kann ich es von hier oben hören, aber, wie du siehst, habe ich kein TV, kein Radio, nichts. Weißt du denn mehr?«
Sie wirkt plötzlich wie ausgewechselt und Malik sieht etwas, was er schon sehr lange vergessen hatte. Kleine Finger, die drehend ineinandergreifen – aus Freude oder Verlegenheit. »Sie bauen die Inseln für junge Menschen wie mich!«, berichtet Fatou erregt. »Wir sind ja schließlich die Zukunft! Draußen auf dem Meer kann man Stürme und Dürren überleben, sagen sie!«
Es ist das, was Malik auch gehört hat, dem er aber keine Bedeutung beimisst. Schließlich erblicken allerlei verrückte Hoffnungen das Licht der Welt, wenn es den Menschen an den Kragen geht. »Und wie kommst du darauf, dass sie ausgerechnet auf dich warten?«
Fatou lacht oder lacht ihn vielleicht sogar aus. »Ich bin jung und sehr kräftig! Ich habe es bis hierher überlebt! Und wenn die Inseln so groß sind, wie ich gehört habe, viele Menschen auf ihnen wohnen, dann brauchen sie dort jemanden wie mich, denn auch dort muss man putzen und kochen! Genau das kann ich am allerbesten! Soll ich dir das zeigen, Herr Malik?«
Er hebt abwehrend die Hände und grinst über ihre Aufgeregtheit. Sogar ins Du ist sie gefallen, freut er sich und weiß nicht mal warum. »Sieh mal, Fatou, alles ist sauber bei mir, nicht wahr?«
Fatou sieht sich um, feuchtet ihre Finger an und streicht über das Bord an der Wand. Lange kontrolliert sie die Fingerspitzen und riecht daran. »Das stimmt, Herr Malik. Sie sind ein sauberer Mann. Ist sehr selten …«
Er kann nicht anders und lacht. Malik lacht, wie seit … er weiß es nicht genau. »Sag mal, Fatou … hast du Hunger?« Sie erstarrt sofort und beugt sich nach vorne.
»Wenn Sie mich so fragen, Herr Malik … ja, sogar einen Mordshunger.«
»Gut, dann komm mal mit.«

Dritter Akt

Er steht auf, hebt den Stuhl auf die Seite, öffnet die Bodenklappe und arretiert sie mit dem Wandhaken. Fatou weicht mitsamt Stuhl zurück. Das Weiß ihrer Augen tritt umso deutlicher hervor, je weiter sie abrückt. Dann erreicht die Lehne die Wand. Es geht nicht weiter. Zum ersten Mal registriert Malik ein Flattern in ihrer Stimme. Angst. »Sind Sie doch ein Verrückter, der kleine Kinder frisst?«
Er sieht sie ungläubig an. »Wer sagt denn so was?«
»Die Frauen da unten …«
»Warte hier. Das Essen ist natürlich versteckt. Ich wäre schon lange tot, wüsste davon jemand …«, sagt es und steigt hinab. Über die knarzenden Stufen ins kühle Loch. Sein Kopf verschwindet und Fatou beugt sich vorsichtig über die Kante. Die Stiege endet in der Dunkelheit. Sie zählt bis zwanzig und nimmt sich vor, das drei Mal zu wiederholen und dann zu fliehen. Vielleicht zünde ich diese Hütte an, denkt sie. Es klappert dort unten. Sie hört Malik husten und ihr Blick fällt auf den Schaft der Schrotflinte. Ich könnte sie nehmen und dann … etwas Wulstiges kommt aus dem Loch, gehalten von der Hand des Alten. Der Kopf folgt, seine Brust, eine verbeulte Schüssel vor sich, dann der Rest.
»So, unser Essen«, schnauft er ein wenig aus der Puste. Ohne auf Fatou zu achten, stellt er alles auf dem Tisch ab, verschließt die Klappe, rückt den Stuhl mit einem kontrollierenden Blick zurecht und setzt sich. Dann fängt er Fatous skeptischen Blick auf und muss schon wieder lachen. Danke, meine Kleine, denkt er und holt aus der Schublade des Tischs drei Knoblauchzehen, ein Messer und vom Bord die kleine Flasche Arganöl.
»Was ist denn das alles?«
»Hast du noch nie Pilze gesehen?«
»Also …«, sie überlegt lange. Malik schält den Knoblauch und beginnt, ihn in feine Scheiben zu schneiden. »Das Wort kenne ich, aber ich wusste nicht, was es ist … das kann man essen?«
»Es gibt Menschen und Tiere, die gehören zusammen, es gibt Pflanzen, und dann gibt es noch eine Lebensform auf der Erde: das sind die Pilze.«
»Und die wachsen im Dunkeln?«
Vorsichtig bewegt sie den Zeigefinger auf einen der dicken Pilze zu, berührt dessen Schirm. »Der ist ja ganz fest«, wundert sie sich. Malik nimmt ihn aus der Schüssel und riecht daran. Er muss nicht mal Verzückung vortäuschen ob des Duftes. Langsam und tief zieht er das Aroma in sich hinein. »Hm, das ist wunderbar, Fatou.« Vorsichtig langt er über den Tisch, wedelt mit dem Pilz, stoppt direkt vor ihrer Nase. »Riech mal! Du wirst sehen, dass es nichts Vergleichbares mehr gibt.«
Fatou schnuppert vorsichtig. Dann packt sie Maliks Hand, nimmt den Pilz und drückt ihn sich direkt vor die Nasenlöcher, dreht ihn nach allen Seiten, schnüffelt und schnüffelt. Fast meint Malik, der ganze große Pilze verschwände demnächst in Fatous Nase.
»Lass noch was übrig von diesem guten Stück. Wir wollen ihn jetzt essen.«
Andächtig legt sie ihn zurück und beobachtet genau, was er tut. Die Pilze sehr dünn schneiden, auf einen großen Teller legen, Arganöl darauf träufeln und in die Scheiben einreiben, den Knoblauch verteilen. Zum Schluss gibt er eine Prise Salz darüber.
»Jetzt warten wir fünf Minuten, bis Öl, Knoblauch und Salz ihre Wirkung tun.«
»Was für eine Wirkung?«
»Den vollen Geschmack der Pilze für uns öffnen.«
Fatou zieht die Augenbrauen hoch. »Vielleicht sind Sie ja doch so was wie ein Hexer, Herr Malik« Darauf kann er nur lachen. Hoffentlich hört man ihn nicht unten am Strand.
»Was bin ich denn noch alles? Ich esse Kinder, kann hexen …«
»Die Frauen da unten haben Angst vor Ihnen, Herr Malik …«
Erstaunt hört er auf zu lachen. »Angst vor mir? Obwohl sie gar nichts über mich wissen? Na ja, das ist keine schlechte Sache. Dann lassen sie mich auch in Ruhe.«
Fatous Hand wandert über den Teller. »Darf ich jetzt?«
»Meinetwegen, aber … du musst an zwei Dinge denken: ganz langsam essen, kleine Bisse und sehr gut kauen. Einverstanden?« Er nimmt eine Scheibe, steckt sie in den Mund und macht es vor.
»Warum?«
»Ganz einfach. Die Pilze haben alles, was ein Mensch braucht, aber es kommt besser raus, wenn du genügend kaust. Und langsam essen, weil sie ihre Zeit brauchen, bis sie verdaut werden. Das Öl hilft dir dabei.« Fatou nickt, lässt im Nu eine Scheibe im Mund verschwinden, kaut drei oder vier Mal und nimmt die nächste. Malik seufzt.

Vierter Akt

»Wann wirst du diesen Ort verlassen?« Fatou hebt den Kopf. Sie hält sich den Bauch. Malik ist sicher, dass sie mindestens schwaches Bauchweh hat und keine Lust die Frage zu beantworten. Er wiederholt sie. »Gehst du morgen oder übermorgen?«
»Ich glaube, du hast mich vergiftet«, antwortet sie stattdessen.
»Dann habe ich mich ja selbst auch vergiftet.«
»Du bist ja der Hexer. Der kann sich nicht vergiften.«
»Pilze sind schwer verdaulich, deswegen riet ich dir, langsam zu essen und lange zu kauen, nicht wahr? Und? Hast du meinen Rat befolgt?« Er steht auf, stellt Wasser für Schwarztee auf und reicht Fatou eine kleine Flasche mit transparenter Flüssigkeit.
»Was ist das?«
»Fenchelschnaps. Zwei, drei Schluck und es geht dir wieder besser.« Fatou schüttelt den Kopf, verzieht dabei schmerzhaft das Gesicht, stöhnt und hält sich den Bauch. Sie greift ruckartig nach der Flasche und setzt sie an. Ohne mit der Wimper zu zucken, trinkt sie. »Zwei, drei Schluck. Denk an meine Worte.« Dieses Mal hört Fatou und setzt ab. »Mit Alkohol kennst du dich offenbar gut aus. Das Gebräu hat gute 45%.« Sie rülpst und wirkt enorm erleichtert. Malik gießt den Schwarztee auf.
»Ich werde morgen früh abgeholt, zusammen mit den anderen Frauen.«
»Nur Frauen? Wie habt ihr bezahlt? Wie hast du bezahlt?« Sie sieht ihn schweigend an.
»Ich will es gar nicht wissen«, winkt er ab und weiß nicht, was er tun oder sagen soll. Plötzlich kommt es ihm vor, als wäre es falsch, sie wegzulassen. Mit beiden Händen fährt er sich übers Gesicht und atmet schwer.
»Ist Ihnen nicht gut, Herr Malik?«
»Doch, alles in Ordnung. Ich dachte nur … meinst du, diese Idee mit den Inseln ist ein guter Plan?« Fatou richtet sich auf und Malik stellt ihr eine Tasse Schwarztee hin. »Trink das. Ist gut für die Verdauung.« Sie nippt am Tee, fixiert die dunkel schimmernde Oberfläche. Vielleicht denkt sie ja nach, mutmaßt er. Vielleicht gefällt es ihr ja bei mir … sei kein Narr, schilt er sich. Als sie den Kopf hebt und ihn verwundert anschaut, fast mitleidig, wie er meint, weiß er die Antwort schon.
»Herr Malik … sehen Sie nicht, dass ich weg muss? Hier werde ich sterben. Früher oder später. Es gibt immer mehr kranke Menschen. Dieses Virus holt uns alle ein. Ich habe es im Senegal gesehen, in Mauretanien, Marokko, es ist überall. Bleiben die Menschen liegen, deckt sie der Sand zu. Sie verdursten. Wasser gibt es nur von Männern, denen ich Gutes tun muss. Fische gibt es keine mehr vor den Küsten, Herr Malik! Wissen Sie, was die Menschen unterwegs essen!?« Ihre Stimme überschlägt sich. »Soll ich es Ihnen sagen!?«
Fatou steht auf, es reißt sie förmlich vom Stuhl. Dann fängt sie an zu schluchzen, leise, aber nur einen Moment später ist es wie die Sintflut. Nichts hält mehr die Tränen. Kraftlos sinkt sie zu Boden. Das Mädchen wird durchgeschüttelt von 3.000 Kilometern Flucht, Hunger, Durst und Tod. Was soll ich tun? Malik setzt sich neben das Häufchen Elend und drückt es an sich. Es dauert, doch dann krault seine Hand ihren Kopf und er spricht etwas, was er schon lange verloren glaubte. Ein Gebet. Eine Botschaft für diesen Einen, an den er sich nicht mehr erinnern wollte. Er bittet ihn, dieses Mädchen zu beschützen, über sie zu wachen. Dann sitzen beide nur noch da und schweigen.

»Glauben Sie etwa an einen Gott, Herr Malik?«, fragt Fatou nach einer Weile. Der Holzboden ist angenehm kühl. Durch die Fugen dringt ein kaum wahrnehmbarer Duft von prächtigen Pilzen.
»Ich habe es mal, Fatou. Er ist mir irgendwie abhanden gekommen.« Sie dreht sich seitlich weg, legt den Kopf auf seinen Schoß und blickt ihn von unten an. Im Halbdunkel sind Boden, Kaftan und ihr ebenholzschwarzes Gesicht kaum zu unterscheiden. Ihre Augen hingegen liegen da wie die weißesten aller weißen Perlen auf dem Meeresgrund. So rein wie nichts, was Malik kennt.
»Manche der Frauen da unten sagen, dass Gott nun die Menschen bestraft, weil sie alles kaputt gemacht haben.« Malik seufzt. Das sind die Fragen und Einsichten, die den Kindern eigen sind, denkt er und überlegt, was er als Kind alles gefragt hat. Er musste an Gott glauben, sonst hätte es was gesetzt. »Gibt es nicht auch gute Menschen, Herr Malik?«
Die Frage überrascht ihn. »Also … doch, es gibt natürlich auch gute Menschen.«
»Dann kann es keinen Gott geben«, folgert Fatou. »Denn auch die guten Menschen werden jetzt sterben. Das kann kein Gott wollen. Ich jedenfalls würde das nicht tun, als Göttin. Das wäre dumm. Erst mache ich die Welt und die Menschen und wenn einige Mist machen, bringe ich alle um … so ein Blödsinn.«
Malik starrt sie an. Dann schüttelt er sich vor Heiterkeit. Ihr Kopf wackelt hin und her auf seinem Schoß. Fatou steht auf, setzt sich an den Tisch und trinkt den Schwarztee leer. »Darf ich die Pilze sehen, Herr Malik?«

Fünfter Akt

»Das ist ja wie eine Höhle«, wundert sich Fatou und schreitet langsam die Gestelle ab, auf denen die Kisten mit den Pilzen stehen.
»Nun, es ist eine Höhle. Die algerische Küste ist zwischen Algier und Annaba voller großer und kleiner Höhlen. Sie sind meist sehr feucht. In manchen sammelt sich das Wasser zu kleinen Bächen. Und die Temperaturen schwanken nur wenig. Immer um die 13 Grad. Das mögen die Pilze.«
Fatou nähert sich einer Kolonie mit der Nase, atmet tief ein. »Mh, riechen die gut. Wie heißen die?«
»Das sind braune Champignons und da drüben steht der weiße Champignon.«
»Woher wissen Sie das alles?«
Malik blickt zur felsigen Decke, nimmt mit dem Finger einen Wassertropfen vom Stein und steckt ihn in den Mund. Er schmeckt wunderbar nach Erde und Fels. Fatou bleibt vor einem leicht gelblichen Wust aus vielen kleinen und großen Pilzen stehen, beugt sich ganz nah heran, schließt die Augen und riecht.
»Limonenpilze. Auf die bin ich stolz. Ohne Tageslicht werden sie nicht so gelb. Aber sie sind sehr gesund.« Er legt die Hand auf das Nest, tätschelt die schwachgelben Schirme. »Ich habe früher eine Pilzgärtnerei gehabt, oben auf dem Plateau. In Annaba habe ich jeden Samstag Pilze verkauft. Deswegen weiß ich, wie das funktioniert.«
Fatou sieht sich noch einmal um, blickt jedes Gestell an. »Wenn Sie das den Menschen beibringen und es hier so viele Höhlen gibt, dann verstehe ich nicht, warum Sie nicht helfen? Tun Sie doch etwas gegen Hunger und Durst!«
Malik schiebt sie langsam zur Stiege. »Bist du der Meinung, die paar Pilze können all die Millionen versorgen, die kommen? Von Tanger bis Tunis sind viele Strände voller Menschen aus halb Afrika. Wir haben hier Glück, weil der Abhang so steil ist. Was würden die Menschen tun, wenn sie sähen, dass es irgendwo Essen gibt, aber niemals für alle reicht?« Fatou steigt hinauf. Es knarzt kaum, so leicht ist sie.
»Sie würden töten, Herr Malik. Ich verstehe schon. Und alles essen, was herumliegt. So wie auf dem Weg vom Senegal hierher …« Als sie oben ist, dreht sie sich um und blickt Malik in die Augen. Das Weiß wird feucht, glasig und schimmert.
»Hast du …« Malik traut sich nicht die Frage zu beenden, aber Fatou hat verstanden.
»Ja, habe ich«, erwidert sie tonlos. »Ich habe es getan. Und es gibt nichts, was ich dagegen tun kann. Jeder Bissen steckt heute noch wie eine Dorne in meinem Hals.« Sie verschwindet. Malik steigt nach oben, verschließt den Boden, stellt einen Stuhl darüber und kontrolliert die Fugen. Die Stimmen vom Strand sind lauter. Als er sich umdreht, sieht er die offene Tür. Der Atem stockt ihm. »Fatou …«
Sie sitzt auf der Veranda, die Füße auf das Geländer gelegt. Malik nimmt neben ihr Platz. Fatou lässt den Oberkörper gegen Maliks Seite rutschen, packt seinen Arm und legt ihn um sich. Es ist dunkel geworden und in der Ferne sind ab und zu Positionslichter zu sehen. Grüne, rote und weiß blinkende. »Fatou, siehst du die Lichter auf dem Meer?« Er spürt ihren nickenden Kopf auf dem Kaftan. »Das sind die Schiffe der Europäer. Frontex, so heißt die Grenzpolizei. Es sind viele, sehr viele. Sobald ihr Radar ein Boot entdeckt, eröffnen sie das Feuer. Niemand kommt nach Europa. Jeden Tag bringt die Strömung die Leichen zurück, die sich ein paar Tage zuvor auf den Weg gemacht haben.«
Fatou steht auf und beugt sich über das Geländer. Die Stimmen der Frauen unten am Strand sind versiegt. Sicher müde und ausgehungert in den Schlaf gefallen, vermutet Malik und überlegt, wie er ihr das Vorhaben ausreden kann. »Ich will gar nicht nach Europa«, sagt sie leise Richtung Horizont. »Nur irgendwie nach Gibraltar. Dort bauen sie die Inseln, hat eine der Frauen gesagt. Wir können alles für die Menschen auf den Inseln tun, alles. Sogar Kinder für sie bekommen. Egal was, Herr Malik … ich will nur leben.«
Sie dreht sich unerwartet zügig um und starrt ihn an. Nein, diese weißen Augen starren ihn an. Selbst die schwärzeste Nacht wäre nicht imstande, dieses Weiß zu brechen. »Ich gehe jetzt nach unten, Herr Malik. Machen Sie es gut und … vielen Dank.« Aus ihm kommt kein Wort, kein Atemzug, nicht der Hauch einer Reaktion, so gelähmt ist er von ihren Worten. Dann umarmt sie Malik mit kräftigem Druck und verschwindet fast lautlos zwischen den Felsen. Noch nicht mal die morschen Holzstufen knarzen.

Diese Geschichte

Entstanden im Jahr 2022 und die dritte Geschichte von zwölf Klimatexten. Die Bevölkerung flieht aus Nord- und Westafrika. Die schiere Masse wird von Frontex abgefangen. Die Mittel der Wahl dafür sind dezimiert. Waffen. Was im Text nur angedeutet wird, ist am Horizont zu sehen. Wetterextreme, Austrocknung, Futtermangel für Vieh, Überfischung der Meere vor Afrika durch europäische und/oder chinesische Fangflotten, Unterminierung der afrikanischen Landwirtschaft durch Saatgutkonzerne mit Patentrechten und Knebelverträgen, Landkauf durch China, Ausbeutung und Rodung der verbleibenden Regenwälder und noch eine Menge mehr Gründe werden die Menschen nach Norden treiben. Eine klare Sach- und Handlungslogik. Fatou versucht ihr Glück und Malik weiß, was geschehen wird.

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