Kaltzeit

KURZGESCHICHTE | Ich stehe auf Stelzen. Knochenstelzen. Die Haut dunkelblau, lila, das Fleisch runzlig und rot. Eiskristalle wachsen in die Wunden. Millimeter um Millimeter. Ich bin mir nicht sicher, den Ton halten zu können. “O Du Fröhliche, o Du Selige / Gnadenbringende Weihnachtszeit! / Welt ging verloren / Christ ist geboren / Freue, freue Dich, o Christenheit!“, singen wir und starren durch das Schneetreiben auf die roten Klinker. Jede Flocke ein Stich in meinem Gesicht, jeder Windstoß kalter Stahl, der mich peitscht. »O Du Fröhliche, O Du Selige / Gnadenbringende … ich weiß nicht mehr … Todeszeit?«, was dem Herrn sei Dank niemand hört.
Der Baum ist so hoch. Die Spitze im Schneewehen nur schemenhaft erkennbar. Ich schaue zu diesem kleinen, hübschen Jungen mit den großen Augen voller Angst. Seine Hand in der seines Vaters. Zärtlich. Sie singen beide. Mit uns. Mit den Männern und Frauen aus dem großen, dunklen Klinkerbau. Dann falle ich in den Schnee. Wie die Tanne im Wald. Meine Knochenstelzen sind gebrochen. Oder mein Herz zu schwach. Vielleicht? Ich weiß es nicht. Es ist mir egal. Ich möchte weinen und tue es. Die wunderbaren Tränen sind warm. Aber nur kurz. Dann frieren sie fest und stechen kleine Risse in die Haut. „O Du Fröhliche, o Du Selige / Gnadenbringende Weihnachtszeit! / Welt ging verloren / Christ ist geboren / Freue, freue Dich, o Christenheit!“, singen die anderen.
Ich schweige. Den Kopf auf der Seite, hauche ich eine Kuhle in das Weiß, in die ich meine Zunge stecke und allen Schnee lecke, den ich nur bekommen kann. Wasser! Eine Köstlichkeit. Der Junge zieht an der Hand seines Vaters und deutet mit der anderen auf mich. Das Gesicht des Mannes sehe ich nicht. Die schwarze Schirmmütze sitzt tief. Der Schal ist so schneeweiß und rein. Perfekt gebügelte Reithosen in perfekt geölten Stiefeln. Ich weiß, sie sind die Herren. Und ich weiß, wer er ist. Der Kommandant. Zwischen diesen Mauern ist er unser Schicksal. Dann verwischt das Bild. Ich sehe grau-weiß. Ein anderes Gesicht. Wieder ist ein Mensch gefallen. Eine von uns. Aus dem Frauen-Block. Ihre Augen sind leer. Aus ihrem Mund kommt kein Atem. Keine Kuhle entsteht.
„O Du Fröhliche, o Du Selige / Gnadenbringende Weihnachtszeit! / Welt ging verloren / Christ ist geboren / Freue, freue Dich, o Christenheit!“, singen die anderen.
»Ein neues Lied!«, brüllt der Kommandant und sogleich beginnt der Chor mit einem neuen Lied. „O Tannenbaum, o Tannenbaum! / Wie grün sind Deine Blätter / du grünst nicht nur zur Sommerzeit / nein auch im Winter, wenn es schneit / O Tannenbaum, o Tannenbaum / wie grün sind Deine Blätter“, singen die Übriggebliebenen.
Der Schnee zittert hinter mir. Ein Weiterer ist gefallen. Ich höre die dunkle Stimme nicht mehr, die alle anderen getragen hat. Also ist Meier umgekippt. Der älteste von uns allen.
»Aufhören!«, brüllt der Kommandant. »Das hat ja keinen Zweck mehr!« Die Stimmen versiegen nach und nach. »Bringt sie rein«, höre ich ihn sagen. Dann stehen seine Stiefel vor meinem Gesicht.
»Meier lebt noch. Aber sieht schlecht aus.« Es ist Röders Stimme. Der Lakai des Herrn. Die Stiefelspitze des Kommandanten stößt gegen meine Brust. »Lemberger atmet. Er ist der beste Schuhmacher, den ich kenne. Ab ins Lazarett mit ihm.«
»Jawohl, Sturmbannführer.«
Dann klickt es über mir. Ich weiß, was es ist. Der Schuss fällt. Es gibt ein dumpfes Geräusch, als die Kugel in Meiers Leib fährt. Hände greifen nach mir und ziehen mich weg. Weg vom Baum, weg von Meier, dessen Blut den Schnee taut. Weg von dem Jungen, der mir nachstarrt. Er reibt sich beide Augen. Es müssen Tränen sein.
»Entschuldige, Sohnemann. Jetzt konnten wir gar nicht das Lied zu Ende hören.«
Der Kommandant kniet neben den Kleinen. Mit seinen weißen Handschuhen trocknet er die Tränen. »Wir holen das nach«, verspricht er ihm. Sie schleppen mich in den Lazarett-Bau. Die Tür geht zu und die pralle Wärme eines Kanonenofens umgibt mich.

Jemand hat mich zugedeckt mit einer schwedischen Rotkreuz-Decke. Wann war das? Ich muss eingeschlafen sein in der wundervollen Wärme. Dick eingebundene Füße schauen am Feldbettende unter der Decke heraus. Neben mir höre ich Atemgeräusche und drehe den Kopf. Es ist der Junge. Er sieht mich neugierig an. Auf seiner Backe ist eine breite Schramme, die fast bis unter den Kiefer reicht. Er hat die Hände auf den Knien.
»Hast du dich verletzt?«, frage ich ihn. Keine Antwort. Nur der neugierige Blick. »Ich habe mich wohl verletzt«, fahre ich fort, »sonst wäre ich ja nicht hier im Lazarett. Stimmt’s? So wie du.« Seine Pupillen bewegen sich ein wenig. Sie suchen mein Gesicht ab. Vielleicht versucht er all das Schlechte zu entdecken, weswegen ich in dieser Lage bin. »Muss dein Vater noch etwas erledigen? Und hat dich solange hier gelassen? Na, keine Angst, ihr werdet bestimmt bald nach Hause gehen und Weihnachten feiern.«
»Sind Sie ein böser Mann?«, kommt es unvermittelt.
»Du meinst, so was wie ein Verbrecher?«
Er nickt.
»Du kannst aber schwierige Fragen stellen, mein Junge. Wie heißt du denn?«
»Rudolf.«
»Rudolf«, wiederhole ich langsam, »das ist ein schöner Name. Ich heiße Karl. Karl Lemberger. Aber du darfst Karl zu mir sagen.«
Er nickt. »Warum sind Sie umgefallen?«
»Ich glaube, heute Morgen habe ich zu wenig gegessen. Und man muss immer viel essen, damit man stark bleibt. Nicht wahr, Rudolf?«
»Ja, Herr Lemberger.«
»Karl.«
Er nickt.
»Ich bin neugierig, Rudolf, hast du noch Geschwister?«
»Ja, eine Schwester und einen Bruder. Aber die sind noch klein.«
»Das ist schön, Rudolf. Du hast immer jemanden zum Spielen.«
»Haben Sie auch einen Bruder? Oder eine Schwester?«
Wie Messer tauchen seine Worte in mich ein. Ich ziehe die Decke ein Stück höher. »Aua!«, rufe ich und hebe ein Bein.
»Was ist?«, will er wissen.
»Oh, mein Bein tut ziemlich weh«, erkläre ich. »Kennst du das, wenn man weinen muss, weil es ziemlich weh tut?«
Der Kleine nickt. »Hm. Ich bin schon mal vom Apfelbaum gefallen. Das hat furchtbar weh getan. Da hab ich geweint.«
»Weinen ist nicht schlimm, Rudolf. Alle Menschen tun das, wenn sie starke Schmerzen haben.«
»Mein Vater nicht.«
Ich lächle ihn an. »Dann ist dein Vater sicher ein starker Mann.«
»Ja«, sagt er stolz und wächst ein bisschen auf dem Stuhl. Sein Finger taucht ins rechte Nasenloch.
»Oha«, sage ich, »darf man in der Nase bohren?«
Sofort wird Rudolf rot, zieht die Hand nach unten und setzt sich drauf. Der Vorhang wird zurückgezogen. Der Kommandant mustert uns beide für einen Moment.

»Ich habe mir erlaubt, ein wenig dem Gespräch zu lauschen.« Die Kälte von draußen ist noch in seinen Augen, stürmt hin und her und weiß nicht wohin mit ihrer Gewalt. Rudolf steht auf und stramm.
»Entschuldigung, Vater.«
»Herr Lemberger hat recht, Rudolf. Dafür möchte ich mich bei ihm bedanken. In der Nase bohren macht ein hässliches Loch«, er nickt in meine Richtung. »Schau dir ruhig Herrn Lembergers Nase an. Ich denke, er hat als Kind sehr viel in der Nase gebohrt, so groß und krumm wie sie ist.«
»Ja«, bestätige ich. »Und in großen Nasenlöchern wird es schnell kalt, dauernd zieht es wie durch ein offenes Fenster herein.«
Rudolf kichert.
»Und jetzt sag ‚Auf Wiedersehen‘ zu Herrn Lemberger.«
»Auf Wiedersehen, Herr Lemberger.«
In diesem Moment sehe ich Rudolfs Hand vor meinen Augen und die Kälte fällt von oben herab. Direkt aus dem Kopf des Kommandanten, aus seinem Blick, den Worten, die er nicht sagt, den Gedanken, die hinter seiner Stirn erstarren. Ich nehme die kleine Hand. Sie ist warm und zart wie alle Kinderhände. Ohne jede Schuld und noch voller Leben. Mit einem Ruck zieht der Kommandant den Kleinen zu sich, dreht ihn ruckartig.
»Geh bitte hinaus! Sturmführer Röder wartet dort auf dich. Er bringt dich zum Wagen.«
»Ja, Vater.«
Am Hinterkopf schiebt er ihn durch den Vorhang und ist für ein paar Atemzüge still, die Hände in die Hüften gestemmt. Die Kälte kehrt zurück. Seine schwarze Uniform nimmt dem spärlichen Licht alle Kraft. Dann rückt er den Stuhl an das Bett und setzt sich. Eisiger Atem vor einem gefrorenen Blick. Die Glut des Ofens ist zu schwach. Ich friere. So liege ich und betrachte ihn. So starrt er mich an.

Diese Geschichte

Entstanden im Jahr 2021 aufgrund einer Ausschreibung für eine Anthologie der Literaturzeitschrift Johny an der Goethe-Uni Frankfurt. Der Text wurde angenommen und abgedruckt. Auf was basiert der Text? Mein Großvater Willi Tessmann war Kommandant im Gestapo-Gefängnis und KZ-Außenlager Hamburg-Fuhlsbüttel. Zu Weihnachten ließ er von Häftlingen einen Baum vor dem Hauptgebäude aufstellen und organisierte einen Chor. Seine Familie (Oma mit den Kindern), ließ er dann holen. Sie feierten Weihnachten mit den Insassen. Also eine tatsächliche Begebenheit. Hier kann ich nicht ‚viel Spaß beim Lesen‘ wünschen. Aber es sollte gelesen werden. Zumal in diesen Zeiten.

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