»Patrón.«
»Jorge … warum jetzt?« Kopfschüttelnd schaue ich Jorge an, dann ziehe ich intensiv am Joint. Die Glut erreicht schnell meine Fingerspitzen. Der Schmerz wird heftig. Ich ziehe noch einmal und werfe den Stummel auf den Boden. Ein gutes Kraut. Wahrlich. Mit dieser Qualität kann ich mich überall sehen lassen. Auf jeder Party, bei jedem Händler. Es ist sein Geld mehr als wert. Jorge setzt sich mir gegenüber und wird warten, bis ich ihm zunicke. Was ich auch tun werde, aber zuvor schließe ich die Augen, lege den Kopf zurück aufs Polster und genieße dieses Gefühl von Freiheit, von Kraft. Durch die Windungen in meinem Hirn rauschen Ideen und Bilder wie auf einer Achterbahn in jeden Winkel, und von manchen habe ich den Eindruck, dass ich sie niemals ohne dieses Kraut denken könnte. Nur langsam verebbt diese Welle aus Freude und Licht, die Geräusche des Clubs treten wieder hervor. Jorge unterhält sich mit jemand. Einer Frau. Ich öffne ein Auge und sehe nach.
»Ich bin verliebt«, sagt Jorge zu dem Mädchen, »in dich.« Sie antwortet nicht, ringt sich ein Lächeln ab und stellt die leeren Gläser vom Tisch auf ihr Tablett. Dieses Mädchen ist wahrlich eine intensive Schönheit. Ein Gesamtkunstwerk. Aus einem Guss.
»Wie heißt du?«, fragt Jorge. Sie sieht ihn an. Natürlich weiß er, dass Namen in diesem Club nicht genannt werden. Die Mädchen hier drin sind tabu. Keiner weiß, wie sie heißen. Die meisten von ihnen studieren und arbeiten nur ab und zu hier, wenn Semesterferien sind. Aber vor allem gehört dieser Club dem Polizeichef. Alles hier drin gehört dem Polizeichef. Auch die Mädchen. Jorge weiß das.
»Jorge …«, versuche ich mein Glück. Aber er fixiert sie wie ein Fuchs das Mauseloch.
»Bitte! Ich muss es wissen. Ich bringe mich sonst um.«
Bevor ich ihm ans Schienbein treten kann, hält die Schönheit kurz inne und schaut ihn an. »Pandora«, sagt sie.
Pandora, denke ich, wer heißt denn Pandora?
»Pandora?«, stutzt Jorge und macht einen überraschten Gesichtsausdruck. Dann verzieht er den Mund. Diese Mimik kenne ich. Ihm ist etwas eingefallen. »Pandora«, wiederholt er, »so ein schöner Name. Darf ich deine Büchse öffnen?«
Ich beuge mich über den Tisch und gebe ihm eine kräftige Ohrfeige. Er zuckt zurück und starrt mich an. Das Mädchen winke ich zu mir. »Entschuldigung, Señorita, aber Jorge ist ein dummer Junge. Ich versuche dauernd, ihn zu erziehen, aber Sie sehen ja, es gelingt mir nicht. Bitte nehmen Sie dies.« Aus meiner Hemdtasche ziehe ich zwei oder drei Scheine und stecke sie ihr in den Hosenbund. Sie zählt nicht nach, denn sie weiß, dass es viel ist und ab jetzt weiß niemand mehr, um was es hier ging.
»Gracias, Patrón.«
Ich nicke sie weg. Sie wird so schlau sein, nicht mehr an diesen Tisch zu kommen. Jorge hält sich die Wange. Ich kann mich wieder anlehnen und einen kräftigen Schluck Mescal trinken. Jorge schweigt. Er kennt mich.
»Jorge …«
Er beugt sich vor. »Patrón?«
»Jorge, weißt du eigentlich, was es mit dieser Pandora auf sich hat?«
»Sie arbeitet hier.«
Ich trinke noch einen Schluck. »Ich meine, die mit der Büchse.«
Er starrt auf den Tisch und kratzt Figuren auf seine Jeans, schüttelt dann langsam den Kopf. »Ich hab das irgendwo gelesen, Patrón. Ich glaube, beim Friseur. Da lag so eine Zeitschrift. Da stand was von einer Pandora und ihrer Büchse.«
»Und du dachtest, es wäre ihre Pussy gemeint?«
»Was denn sonst?«
»Jorge, hol mir zwei Schalen Erdnüsse.«
Sein Gesicht hellt sich auf. Er ist froh, etwas tun zu dürfen und springt auf. »Klar, Patrón. Sofort.« Ich nehme mir vor, ihm das eines Tages zu erklären.
Als er zurückkommt, hat er den Polizeichef bei sich. Der breitet die Arme aus und kommt um den Tisch herum, aber ich stehe nicht auf, reiche ihm nur die Hand. »Señor Fuegas! Wie schön. Haben Sie frei?«
Aber Fuegas ist Profi. Wie alle hier drin. Er setzt sich mit einigem Abstand neben mich. Da ich nicht weiß, ob er etwas von mir will wegen dieses Mädchens, schweige ich und warte ab. Fuegas nickt. »Pablo. Sagen Sie mir zuerst, wie es Ihrer Familie geht?«
»Wir sind alle zufrieden mit dem, was wir haben. Die Kinder sind in der besten Schule der Stadt, meine Frau plant mal wieder eine neue Inneneinrichtung, und Mutter wird uns noch alle überleben.«
Fuegas lacht herzlich unehrlich und ich lächle mein bestes Lächeln. »Das freut mich, Pablo.« Er lehnt sich an und legt den Arm aufs Kopfpolster. »Pablo, ich möchte Ihnen jemanden vorstellen. Einen Wissenschaftler.«
Ich horche auf. »Einen Wissenschaftler? Das höre ich gerne. Der Wissenschaft habe ich meine wundervollen Cannabis-Pflanzen zu verdanken.«
Fuegas wiegt den Kopf leicht hin und her. »Dieser Wissenschaftler ist ein wenig … wie soll ich sagen … moderner. Er ist von einer anderen Fakultät. Kein Chemiker, kein Biologe.«
Meine inneren Alarmglocken läuten. »Jetzt bin ich aber neugierig. Und er ist hier?«
Fuegas nickt. »In meinem Büro.«
Ich stutze und werfe einen Blick zu Jorge. Beruhigt registriere ich, dass er wie ein Bogen gespannt ist, bereit, alles und jeden umzulegen, der jetzt das Falsche tut. »Sie sagen, in ihrem Büro ist ein Wissenschaftler, dem ich unbedingt mal begegnen sollte?«
»Ich weiß, was Sie denken, Pablo. Sie vermuten eine Falle.«
»In der Tat.«
»Gibt es noch einen Geldgeber in dieser Stadt, der mich so großzügig versorgt, wie Sie, Pablo?«
»In dieser Stadt? Nein. Aber woanders vielleicht schon.«
»Sehen Sie, Pablo. Und genau das kann Ihnen der Wissenschaftler beantworten.« Fuegas sieht mich herausfordernd an. Ich verfluche meine Neugier.
»Jorge, du gehst vor. Fuegas, Sie folgen Jorge und ich folge Ihnen.« Wir stehen auf und gehen zu Fuegas Büro.
Es ist beruhigend, eine Hand am kühlen Stahl einer Waffe zu haben, auch wenn dieses Gefühl trügerisch sein kann. In Fuegas Büro sitzt jedoch nur ein kleiner, schmaler Mann mittleren Alters, der krampfhaft ein Notebook hält, das über einige Kabel mit drei großen Geräten auf Fuegas Schreibtisch verbunden ist. Fuegas deutet auf zwei Stühle. »Bitte, setzt Euch.« Jorge und ich nehmen die Stühle und setzen uns links und rechts des kleinen Mannes. Nun in seiner Nähe, kann ich sehen, dass er enorm schwitzt und nervös auf seinen Lippen kaut. Fuegas nimmt hinter seinem Schreibtisch Platz.
»Das ist Señor Miguel, Professor Doktor Miguel. Von der Universität«, beginnt Fuegas, »und er hat etwas mitgebracht, von dem wir als Geschäftsmänner nur profitieren können. Professor, das ist Pablo Esteban«, Fuegas deutet auf mich, »ein Gönner unserer Stadt.« Der Professor nickt zögerlich. Er fühlt sich sichtlich unwohl zwischen Jorge und mir.
»Professor? Erzählen Sie!«, fordert Fuegas ihn auf. Im Gegensatz zu seiner Erscheinung, ist Miguels Stimme recht kräftig und dunkel. Und es scheint, als verschwindet seine Nervosität, wenn er einmal begonnen hat.
»Gut, meine Herren«, sagt er deutlich und deutet auf die Geräte, »es gibt aus Ihrer Sicht zwei Sorten von Menschen auf dieser Welt, nicht wahr?«
»Und die wären?«, frage ich.
»Menschen, mit denen Sie Geschäfte machen wollen, und Menschen, mit denen Sie auf keinen Fall Geschäfte machen wollen. Oder?«
Jorge kratzt sich am Kopf. Ich hoffe für ihn, er schweigt. »Ganz so schwarzweiß würde ich das nicht sehen, Herr Professor.« Ich sehe ihn von der Seite an.
»Ich schon. Vor allem, wenn man in der Lage wäre, vorher zu wissen, mit welchen Menschen wir Geschäfte machen können.«
Ich nicke. »Professor … wenn man schon länger im Geschäft ist, weiß man das irgendwie. Das nennt man Instinkt.«
»Aber der kann versagen«, erwidert er mit fester Stimme.
»Da werde ich Ihnen nicht widersprechen.«
Der Professor steht auf und ich sehe Jorges Hand zur Waffe wandern. Aber es ist schnell klar, dass nichts passieren wird. Miguel stellt das Notebook auf den Tisch und tippt darauf herum. Daraufhin erwachen die drei Geräte auf dem Tisch und summen leise. »Señor Esteban, diese Geräte hier sind verbunden mit drei weiteren Geräten im Haus. Und diese drei Geräte sind so aufgebaut, dass ich die Position aller Menschen im erfassten Bereich triangulieren kann. Und mit meiner Software kann ich sagen, wie viele Menschen im Haus sind und vor allem, wer von diesen Menschen nichts Gutes im Sinn hat.« Er dreht sich um und lächelt. Jorges Mund öffnet sich, aber er sagt nichts. Dafür steht Fuegas auf.
»Das ist fantastisch! Oder, Pablo? Stell dir vor, du stehst vor einem Geschäftsabschluss und weißt schon vorher, was der andere denkt …«
»Nicht, was er denkt«, unterbricht ihn der Professor, »nur dass er schlecht denkt und dies auch nur unmittelbar vor der Handlung.«
»Ja«, winkt Fuegas ab, »das meine ich doch. Man stelle sich vor, wie man Politiker entlarven könnte beim Aufzählen von Wahlversprechen …«
»… oder Polizisten beim Ablegen des Treue- und Loyalitätseides«, werfe ich ein.
Fuegas lächelt. »Oder das. Genau.« Dann strafft er sich und streicht über seine Anzugjacke. »Nun mal ganz ernsthaft. Dieses Gerät ist Gold wert. Mit diesem Gerät könnten wir weit mächtiger werden, als wir es uns vorstellen können. Loyalität und Illoyalität, darauf kommt es doch bei uns an, oder Pablo?«
»Ja, darauf kommt es wirklich an.«
Der Professor sieht zu Fuegas, dann zu mir. »Wie sicher ist das?«, frage ich ihn.
»Sehr sicher. Grundlage ist mein Algorithmus zur Erkennung von emotionalen Zuständen.«
»Und das macht die Software?«
Der Professor ist in seinem Element. »Genau, Herr Esteban. Die Software filtert die Daten nach dem von mir entwickelten Algorithmus. Hier geht es um Frequenzen, meine Herren. Wir sind Sender. Man muss nur das Gesendete lesen können.«
»Aber wir brauchen Sie, nicht wahr, Professor?«
Er sieht mich an, dann Fuegas und setzt sich. »Äh, ja, also anfangs schon. Ich versuche eine Art User-Interface zu programmieren, so dass es allgemein verständlich ist.«
Ich nicke. »Und jetzt noch eine letzte Frage: Was soll es kosten?« Miguel schweigt und starrt mich an. »Na, kommen Sie, Professor. Sagen Sie bloß, da haben Sie noch nicht drüber nachgedacht«, fragt Fuegas.
»Nein«, antwortet er. Seine Stimme ist kratzig. Er hat tatsächlich noch nicht darüber nachgedacht. Wie ein nasser Lumpen sinkt er in den Stuhl und mustert seine Geräte. Ein echter Wissenschaftler.
»Ihr Gerät läuft doch gerade, nicht wahr?«, will ich wissen und stelle mich hinter ihn.
»Ja …«
»Welche dieser Linien bin ich?« Zögerlich hebt er die Hand und deutet auf eine dunkelblaue Linie, die sich über eine Reihe von Skalen schlängelt. »Was sagt denn die Linie?«
»Sie, äh, sie beschreibt …«
Ich sehe die Linie in einer sanften Kurve abfallen, unter eine dicke rote Grenzmarkierung. Der Professor zuckt zusammen. Ich ziehe die Waffe und feuere zwei Kugeln in seinen Kopf. Beide treten vorne wieder aus und bleiben in Fuegas Schreibtisch stecken. Fuegas ist Profi. Er hat sich keinen Millimeter bewegt.
»Idiot! Du willst das Gerät für dich. Aber du brauchst den Professor, um es aufbauen und lesen zu können!«
»Leider falsch. Ich will es nicht für mich.« Fuegas schaut überrascht. Ein passendes letztes Bild. Ich schieße ihm eine Kugel in die Brust und eine zwischen die Augen. Jorge sitzt immer noch auf seinem Stuhl. »Jorge! Wisch meine Waffe sauber, bitte.«
»Ja, Patrón.«
»Danach geh und hol Pandora, das Mädchen.«
»Warum?«
»Sie soll sich ausziehen! Erschieß sie mit Fuegas Waffe und lege ihr meine in die Hand.«
»Was ist mit Fuegas Polizeikumpels?«
»Einer wird ja wohl Polizeichef werden wollen, nicht wahr?«
Jorge nickt. »Patrón?«
»Jorge?«
»Darf ich etwas fragen?«
»Natürlich.«
»Warum haben Sie den Professor erschossen? Hätten wir das Gerät nicht brauchen können?«
Ich atme tief ein und aus. »Nein, Jorge. Damit hätten wir die Büchse der Pandora geöffnet und sie nie wieder zubekommen. Ganz schlecht fürs Geschäft. Wir nehmen alles mit und werfen es bei Hernandez in die Schrottpresse.«
Diese Geschichte
Entstanden im Jahr 2020. Kommt der klassischen Kurzgeschichte schon recht nah. Direkter Einstieg, eine Situation, Spannungsbogen, Twist am Ende. War einfach nur eine Idee beim Frühstück. Gut ist es, sich dann gleich an die Tastatur zu setzen und runterzutippen. Falls Ihr Euch fragt, wie lange es dauert, so einen Text zu schreiben, kann ich nur sagen, dass die Geschwindigkeit viel mit Routine zu tun hat. Diese fünf DIN A4-Seiten waren in 2 Stunden getippt. Je nach ausgearbeitetem Plot im Kopf. Viel Spaß beim Lesen!