Auf dem Kühlschrank entdecke ich die Haferflocken. Eine 500g-Packung. Sie steht auf dem Abluftgitter und ich rücke sie einige Zentimeter nach vorne. Mir fällt ein, was Oma mir fast täglich als Mittagessen auf den Tisch stellte, wenn ich gegen halb eins vom Kindergarten kam: Haferflocken mit Kondensmilch und Zucker. Der klebrig-süße Geschmack hängt mir heute noch im Mund und seitdem esse ich Haferflocken nur noch, wenn sie einen verschwindend kleinen oder unsichtbaren Anteil an der Speise einnehmen. Aus einem Reflex heraus zwirble ich den Drahtverschluss auf und schaue in die blaue Verpackung. Zwischen den Haferflocken tummeln sich Larven von Lebensmittelmotten und deren Spinngeflecht hat Flocken und Larvenhüllen zu einem kunstvollen Gebilde verbunden. Ich schmeiße die Packung in den Mülleimer und sehe auf die Uhr. Halb sieben. Der Radiowecker auf der Ablage springt an und im Flur höre ich Elisas Schritte. Sie tritt in die Küche und schaltet die Kaffeemaschine ein.
»Morgen«, sagt sie zum Hängeschrank vor ihrem Gesicht.
»Morgen«, antworte ich. »Da standen Haferflocken auf dem Abluftgitter vom Kühlschrank. Hab sie weggerückt. Die warme Luft muss ja weg.«
»Schön«, entgegnet sie. »Und wo sind die Haferflocken?«
»Im Mülleimer. Waren voller Motten.«
»Müsste man halt mal essen, die Haferflocken.«
»Ich esse keine Haferflocken. Das weißt du doch.«
»Was ich alles so weiß …«
Sie drückt auf den Knopf ‚Extra stark‘ und die Maschine beginnt zu mahlen. Ich schweige. Gegen die Maschine komme ich nicht an. Lieber schalte ich den Radiowecker aus.
»Warum schaltest du aus?«, will Elisa wissen und holt sich die Milch aus dem Kühlschrank.
»Zu viel Lärm. Kaffeemaschine und Radio. Ich hätte es gerne ruhig.«
Sie stellt die Milchpackung ein wenig zu laut auf den Kühlschrank, dreht sich kurz um und blickt mich mit eindringlichem Blick an. Ich kann die Unmenge an Gedanken hinter diesen Augen sehen und wie sie wilde Kombinationen formen, die mir ausgesprochen bestimmt nicht gefallen würden. Es klackt und die Maschine wirft das ausgepresste Kaffeepulver aus. Elisa gießt einen Schluck Milch in ihre Tasse, setzt sich an den Tisch, knabbert einen Nagelfetzen vom Daumen und trinkt einen Schluck Kaffee.
»Was machst du heute?«, will sie wissen. Es ist ihr Code, mit dem sie andeutet, dass sie arbeiten geht und ich zuhause rumsitze. Ich beschließe, das Spiel heute Morgen nicht mitzumachen, denn meistens antworte ich mit: Nichts. Was der Realität recht nahe kommt.
»Ich geh rüber zu Hartmanns und gebe dem Jungen Computerunterricht.«
Elisas Hand, in der sie die Tasse hält, stoppt auf halbem Weg zum Tisch.
»Warum das?«
»Na, Heinz hat mich gebeten, seinem Jungen zu helfen. Der braucht ja irgendwie mal ein paar Perspektiven. Hauptschule abgebrochen, von hier nach da durchgereicht, CJD, Caritas, AWO, alle verdienen sie Geld an ihm auf Staatskosten, aber er kommt immer in dieselben Kurse, die nichts bringen. Der Junge braucht individuelle Förderung.«
Elisas Blick ist seltsam ausdruckslos. Sie schlürft am Kaffee. »Und du bist der individuelle Förderer?«, fragt sie mit spöttischem Unterton. Aber vielleicht bilde ich mir das nur ein. Trotzdem schweige ich. »Wenn du für dich oder mich oder uns genau so viel tätest, wäre das ja mal ein Lichtblick«, ätzt sie. Ich denke an die Haferflocken im Mülleimer. Später sollte ich unbedingt den Müll runtertragen, denn für die Motten ist es ein Einfaches aus dem Eimer zu entkommen.
»Hab schon verstanden«, sagt Elisa. »Der Herr schweigt.«
Ich ziehe tief die Luft ein. Also doch im Spiel. »Was soll ich deiner Meinung nach denn heute tun?« Elisa verdreht die Augen.
»Was wichtig ist! Geh zum Venenarzt. Wie lange ist das schon her? Sechs oder sieben Jahre? Vielleicht hat sich ja was getan mit deinen Venenklappen. Da muss man doch mal wieder draufschauen!«
»Da hat sich aber nix getan. Sieht immer noch gleich scheiße aus. Tut immer noch gleich weh, wenn ich knie oder lange stehe. Was sollen die Ärzte mir Neues sagen?«
Ich stülpe die Lippen vor und imitiere meinen Hausarzt. »Joa, immer schööön de Strömp anzieje, damit et Wasser nit in de Beine bliev.«
Elisa schüttelt den Kopf. »Und was ist mit der Klinik? Du wolltest doch eine andere Klinik aufsuchen und mal fragen, ob die mit deinen Dingens, deinen Depressionen umgehen können.«
»Das Dingens nennt sich Rezidivierende depressive Störung, mittelgradig.«
»So etwas kannst du dir merken. Aber wenn ich dich bitte, dieses oder jenes zu erledigen, das vergisst du immer.«
»Nicht immer«, erwidere ich, bereue es aber sofort. Wir sind schon wieder über die Linie hinaus. Also starre ich auf ihre Tasse. Ihre Hände, die schlanken Finger. Sie hat schöne Hände, denke ich. Immer noch. So etwas verschwindet wohl nicht. Auch wenn wir beide uns kurz vor den Sechzigern befinden.
»Ich muss gehen!« Elisa steht mit einem Ruck auf, stopft Schlüssel und Handy in ihre Tasche und verschwindet im Flur. Kurz danach höre ich Tschüss und das Zuschlagen der Wohnungstür. Ich schalte das Radio wieder ein und wechsle von WDR II zum Deutschlandfunk.
»Ich verstehe gar nicht, was die Leute wollen?«, fragt der Interviewte. Der Morgenmoderator ist schlecht. Ein Vertreter der AfD soll erklären, warum sie immer noch kein Rentenkonzept hat. Doch der Reporter bringt es nicht. Kein Widerstand. Keine Eier in der Hose. Also drehe ich dem Radiowecker wieder den Saft ab und dem Küchenlicht ebenso. Vorsichtig stelle ich mich hinter den Vorhang des Küchenfensters und schaue hinunter auf die Straße. Nicht viel los. Merheimer Straße in Nippes, gegenüber der Luther-Kirche. Die Kastanien auf dem Kirchenvorplatz sind immer noch Wintergerippe. Mit Heinz habe ich ausgemacht, dass ich gegen zehn Uhr rüberkomme. Zeit genug, um noch mal ins Bett zu gehen.
Elisa kommt fluchend zur Tür herein. Es ist schon seit geraumer Zeit dunkel. Draußen und in der Küche. Sie macht ziemlich viel Lärm, hustet, die Schuhe fliegen gegen die Sockelleiste, sie zieht die Nase andauernd hoch. Dann geht die Küchentür auf. »Scheiße«, sagt sie und schaltet das Licht an. Stutzt als sie mich entdeckt. Sie atmet tief ein. »Gott! Hast du mich jetzt erschreckt! Muss das sein?«
»Entschuldigung. War keine Absicht.«
»Warum sitzt du hier in der dunklen Küche?«, will sie wissen, wartet aber meine Antwort nicht ab. »Ist ja auch egal. Hilf mir wenigstens die Sachen einräumen.«
»Warst du einkaufen?«
Sie stemmt die Hände in die Hüften und fixiert mich. »Ja! Ich war einkaufen. Du gehst ja nicht einkaufen und schleppst das Zeug nach Hause. Im Flur stehen zwei Taschen. Vielleicht kannst du den Kram ja einräumen.«
Ich nicke und hole die Taschen, stelle beide auf den Küchentisch und räume ein, was Elisa eingekauft hat. Es wäre jetzt falsch, ihr zu sagen, dass wir noch genug Papiertaschentücher haben und ich beim Kochen nie Gemüsebrühe verwende.
»Wie war es bei der Arbeit?«, frage ich. Elisa schaltet den Wasserkocher an. Für einen kurzen Moment legt sie den Kopf zur Seite. Es hat den Anschein, als denke sie über den Tag nach oder lausche einer inneren Stimme. Mit zwei Pack Butter in der rechten Hand überlege ich kurz, ob ich sie berühren soll. Ich stelle mir vor, meine freie Hand an ihren Nacken zu führen und mit dem Daumen hin und her zu fahren. Es klackt und Elisa gießt sich Wasser in eine Tasse, hängt einen Beutel Fencheltee hinein. Sie dreht sich um.
»Was ist? Haben wir noch Butter?«
»Nur ein Päckchen. War gut, dass du Butter gekauft hast.«
Sie setzt sich an den Tisch, stellt die Tasse vor sich und ich räume den Rest weg.
»Wie war es bei Heinz und seinem Jungen? Wie heißt er noch mal?«
»Heinz war da. Sein Junge aber nicht. Er heißt Christoph.«
Elisa lacht kurz, zieht am Teebeutel, lässt ihn wieder los, zieht ihn wieder hoch. »Das war ja so klar«, flüstert sie.
»Der Junge ist abgehauen«, sage ich.
»Wie? Abgehauen? Wie alt ist er denn? Doch mindestens schon achtzehn oder neunzehn.«
»Neunzehn.«
»Mit neunzehn kann man abhauen. Was sagt Heinz?«
»Heinz ist …«
»Der ist doch schon ein paar Mal abgehauen, wenn ich mich recht erinnere. Oder?«
»Ja«, bestätige ich und vermeide zu sagen, dass wir schon mal gemeinsam nach Christoph gesucht haben, mit Heinz auf dem Rücksitz unseres Autos. Mir fällt gerade auf, wie oft ich Elisa in den letzten Monaten etwas nicht sage, ihr nicht antworte, nichts erwidere. Als wäre sie das stürmische Meer und ich ein Land ohne Deiche. »Schon drei Mal in den letzten acht oder neun Jahren. Und Heinz geht es nicht gut. Er trinkt wieder.«
Elisa nimmt den Teebeutel aus der Tasse und wirft ihn ins Spülbecken. Sie schüttelt den Kopf. »Was heißt wieder? Hat er schon mal aufgehört mit trinken?«
»Er hatte es schon mal besser im Griff als im Moment. Ja.«
Elisa nickt und schlürft vom Fencheltee.
»Hast du was zu essen gemacht? Ich habe Hunger.«
Ich nicke, nehme den Topf aus dem Kühlschrank und zünde ein Gasfeld.
»Was gibt es?«
»Ratatouille. Ist gleich warm. Ruh dich im Wohnzimmer aus. Ich bring es dir.«
Elisa nickt.
Ich spüle beide Schüsseln und koste noch einige Löffel von der köstlichen Ratatouille direkt aus dem Topf, bevor ich ihn wieder in den Kühlschrank stelle. Es ist schon kurz nach einundzwanzig Uhr. Aus dem Wohnzimmer kommen gesetzte Stimmen. Das heute-Journal vielleicht, im Fernsehprogramm bin ich nicht so bewandert. Ich schalte das Licht aus und stelle mich ans Fenster. Alles sieht aus wie heute Morgen. Dunkel, ob früh oder spät, das macht wohl keinen Unterschied. Kastanien und Kirche sind wie aus einem Brei, kaum Konturen, wäre da nicht der gelb angeleuchtete Kirchturm. Ich muss mich setzen. Meine Beine tun weh. Wie ein dauernder Muskelkrampf. Vielleicht hat Elisa recht, und ich sollte mal wieder einen Arzt aufsuchen. Gut möglich, dass sich medizinisch was getan hat, so schnell wie sich die Medizintechnik seit einigen Jahren entwickelt. Ja, vielleicht, denke ich, eventuell nächste Woche, wenn ich mehr Zeit habe. Dann stehe ich auf und gehe ins Wohnzimmer.
»Ich habe doch Zeit«, flüstere ich leise. Elisa schläft und schnarcht wie ein Holzfäller. Der Hauptgrund, warum wir getrennte Schlafzimmer eingerichtet haben. Ich schnarche wohl auch, behauptet Elisa. Vorsichtig tippe ich auf ihre Schulter.
»Elisa. Aufwachen. Komm, geh ins Bett. Sonst bist du morgen früh wieder gerädert.«
»Hm.«
»Aufwachen. Elisa!«
Ungehalten dreht sie sich auf die Seite. »Lass mich einfach. Ich geh dann schon ins Bett.« Es noch einmal zu probieren, würde sie ziemlich reizen. Also lasse ich sie liegen. Wie meistens.
»Ich mach den Fernseher aus. Gute Nacht.«
»Hm.«
Das Licht dimme ich auf ein Minimum, schalte die Steckerleiste aus und mit einem Blick auf Elisa unter ihrer roten Steppdecke verlasse ich das Wohnzimmer.
Es war ein Fehler, die Kompressionsstrümpfe nicht auszuziehen. Es kommt vor, dass ich mich beim Zubettgehen nicht aufraffen kann. Klasse-III-Strümpfe sind wie Stahlmanschetten. Es ist kurz nach zwei Uhr und ich bin wieder wach. Die Entwässerungstabletten sorgen dafür, dass ich wesentlich öfter pinkeln muss als noch vor Jahren. Aber Kompressionsstrümpfe im Bett nicht auszuziehen, verstärkt diesen Effekt noch. Seufzend stehe ich auf. Das Rollo ist noch offen und im schwachen Schein der Straßenlaterne zeichnet sich die blütenlose Orchidee auf dem Fensterbrett ab. Leise trete ich hinaus auf den Flur, werfe einen Blick in Elisas Schlafzimmer, aber das Bett ist leer. Dafür kommen aus dem Badezimmer Geräusche, die elektrische Zahnbürste. Licht fällt durch die nicht komplett geschlossene Tür. Ich räuspere mich laut, bevor ich hinein gehe, um sie nicht zu erschrecken. Elisa schaut in den Spiegel, schaltet die Zahnbürste aus. Ihr Blick geht durch mich hindurch.
»Ich habe versucht dich zu wecken«, erkläre ich ihr, »aber du bist nicht aufgestanden.«
»Mhm.« Sie spuckt aus, spült nach und trocknet sich ab. Langsam setze ich mich auf den Rand der Badewanne. Elisa nimmt sich eine ihrer Cremetuben aus dem Spiegelschränkchen, drückt etwas auf die linke Hand und verreibt es im Gesicht. »Warum schläfst du nicht?«, will sie wissen.
»Ich hab vergessen die Strümpfe auszuziehen. Jetzt muss ich wieder pinkeln.«
»Wie kann man vergessen, diese grauenhaften Folterinstrumente auszuziehen? Die schnüren doch alles ab!«
Ich hebe die Unterschenkel an. Die Knöchel sind trotz allem noch ein wenig geschwollen.
»Du hattest einfach mal wieder keine Lust, nicht wahr?«, fährt sie fort.
»Kann gut sein.«
Sie zieht deutlich die Luft ein und verdreht die Augen. Die olivfarbene Creme steht ihr im gelben Licht des Spiegelschränkchens nicht sehr gut. »Wird es mal wieder schlimmer mit dem Nichtaufstehen und der Unlust?«
»Langsam.«
»Du weißt, was ich davon halte. Du lässt dich hängen. Deswegen schaffst du es noch nicht mal mehr, den Ablauf unter der Spüle zu ersetzen, weil du dich nicht mehr hinknien kannst, ohne gleich Schmerzen zu bekommen. Wir müssen extra Geld ausgeben für den teuren Klempner.«
»Ich kann es eben nicht mehr.«
Elisa stellt Zahnpasta und Creme ins Schränkchen, fährt mit dem Handtuch über das Waschbecken und wirft es in den Wäschekorb. »Du kannst gar nichts mehr«, sagt sie mit dem Rücken zu mir gewandt, verlässt das Bad und das Licht geht aus. Bevor ich protestieren kann, schaltet sie es wieder ein. Mein Drang zu pinkeln ist verschwunden. Es riecht nach dieser olivfarbenen Creme.
Es klingelt an der Wohnungstür, aber ich öffne nicht. Bin noch nicht mal aufgestanden. Vielleicht der Postbote oder Heinz von nebenan. Auf der Seite liegend, die Decke bis auf Höhe der Ohren gezogen, stelle ich mir vor, weit weg zu sein. Nicht auf diesem Planeten. Alleine vor einem der vielen Nebel draußen im All. Bis an mein Ende diese schweigende Schönheit genießen. Es klingelt wieder. Mehrmals hintereinander. Der Postbote kann es nicht sein. Einmal klingeln, dann die Karte. Vielleicht Heinz. Ich habe es ihm versprochen, denke ich. Also stehe ich auf, ziehe mich an und öffne die Tür. Aber es ist niemand zu sehen. Ich drücke mit dem Fuß die Schmutzmatte in den Falz und klingele bei Heinz gegenüber, aber es tut sich nichts. Wohl doch an der Haustür unten. Zurück im Flur drücke ich auf den Knopf für das Öffnen der Haustür und jemand kommt eilig die Treppe hoch. Ein junger Mann mit einer Werkzeugtasche und einem ungeöffneten Beutel voller Teile für den Küchenabfluss.
»Tag«, sagt er, »dachte schon, es sei niemand daheim. Anfahrt hätte dann 25 € gekostet.«
»Ich wusste nicht, dass sie kommen.«
»Sie haben aber doch angerufen, oder?«
»Das war dann wohl meine Frau.«
»Hat sie die Hosen an, was?«, fragt er süffisant.
»Mir egal, wer die Hosen anhat. Kommen sie rein.«
Er grinst und ich zeige ihm die Küche. Es dauert keine zehn Minuten.
»So! Wie neu.« meint er und hält mir ein Blatt vors Gesicht.
»Bitte unterschreiben.«
»Da steht, sie waren 30 Minuten hier.«
»Natürlich stehen da 30 Minuten. So berechnen wir. Angefangene halbe Stunde immer voll.«
Ich unterschreibe.
»Rechnung kommt.«
»Das bezweifle ich nicht.«
Er reißt den Durchschlag ab, schaut mich an und grinst dabei bis über beide Ohren.
»Dafür nehme ich auch die alten Teile mit. Ist Service«, sagt es und dreht sich um. Die Tür fällt ins Schloss. Stimmt, früher hätte ich es selbst gemacht. Aber ich kann ja nichts mehr. Der Radiowecker zeigt 11 Uhr. Ich lege ich mich wieder ins Bett.
Es ist schon wieder dunkel, als ich einen Schlüssel in der Wohnungstür höre. Es ist Elisa mit ihren üblichen Geräuschen, das Hochziehen der Nase, Schuhe klappern an der Sockelleiste, sie geht in die Küche, dann ist es still. Ich drehe mich auf die andere Seite, der Wand zu, das wenige Licht von draußen lässt mich kaum etwas erkennen. Es müsste gegen neunzehn Uhr sein. An was soll ich denken? Welche meiner Erinnerungen ist es wert, hervorgeholt zu werden? Mir fällt nichts ein und denke lieber an Heinz und seinen verschwundenen Sohn. So viele Jahre wohnen wir schon nebeneinander, reden auf dem Hof miteinander, aber nie kamen Elisa und besonders ich auf den Gedanken, dass mit seinem Sohn etwas nicht stimmen könnte. Die Tür geht leise auf. Ich atme ganz flach. Elisa sieht nach, wo ich bin, kurz nur, dann schließt sie die Tür wieder und ich höre sie ins Wohnzimmer gehen. Sie schaltet den Fernseher an und dank ihrer leicht verminderten Hörfähigkeit stellt sie ihn so laut, dass ich das Programm ebenfalls mitbekomme. Werbung, RTL, dann eine Soap mit seichten Dialogen und schmerzfreien Problemen. Ich spüre Tränen kommen. Das Licht eines vorbeifahrenden Autos streift durch mein kleines Zimmer.
Wieder ist es mitten in der Nacht. Da ist eine nasse Stelle auf meinem Kissen. Ich habe geweint, erinnere mich aber kaum daran. Dann bin ich wohl eingeschlafen? Etwas rumpelt im Flur. Elisa? Meine Blase drückt und das rechte Bein schmerzt, weil es etwas unglücklich auf dem anderen lag, während ich schlief. Druckstellen. Ich stemme mich hoch und seufze. Schon wieder halb drei. Ein großer Teil der Welt schläft, aber ich bin wach. Vorsichtig stelle ich mich auf die Füße, schlüpfe in die Hausschuhe und gehe ins Bad. Elisa steht vor dem Spiegel, die Hände auf dem Waschbecken. Sie stützt sich ab.
»Elisa? Was ist mit dir? Alles in Ordnung?« Sie antwortet nicht, sieht mich auch nicht über den Spiegel an. Es ist, als stünde eine leere Hülle vor dem weißen Porzellan. Vorsichtig setze ich mich wieder auf den Wannenrand. Nach ein paar Sekunden lege ich eine Hand aufs Waschbecken. »Elisa? Geht es dir nicht gut?« Ein leichtes Zittern durchläuft ihren Körper. An der Tür hängt ihr Bademantel. Ich ächze beim Aufstehen. Das verdammte Bein! Mit einer Hand ziehe ich Elisas Bademantel vom Haken und hänge ihn über ihre Schultern.
»Die Firma macht nächste Woche zu«, sagt sie tonlos.
»Du meinst, sie machen dicht? Insolvent?« Ich setze mich wieder und sie tut es mir nach, sitzt neben mir, so nah, wie schon lange nicht mehr. Ich ertappe mich bei einem Gefühl von Unbehagen, und doch mag ich das Frottee an meinem Oberarm.
»Ja. Insolvenz. Niemand hat irgendwas gesagt von denen da oben. Heute ist die Bombe geplatzt.«
»Wie lange bist du schon dort? Knapp dreißig Jahre, oder?«
»Vierunddreißig Jahre.«
»Ein halbes Leben.«
Elisa nickt.
»Ja, ein halbes Leben. Mein halbes Leben. An die erste Hälfte kann ich mich nicht mehr erinnern, und die zweite Hälfte haben sie mir jetzt genommen.«
Elisa steht auf und verlässt das Badezimmer.
Ich traue mich nicht, ihr zu folgen, leere meine Blase und gehe wieder ins Bett. Liege in der Dunkelheit, starre an die Decke.
Elisa ist weg. Es ist kurz vor zehn Uhr am Morgen und die Türklingel im Flur schrillt. Ich öffne die Tür und Heinz lehnt wie ein Häuflein Elend am Geländer. Seine Wangen sind eingefallen.
»Heinz … komm rein.«
Er stemmt sich vom Metall weg und schleicht mehr als er geht in den Flur. Ich drücke ihn in die Küche.
»Setz dich, bitte.« Die Tasse in der Kaffeemaschine fülle ich mit einem Espresso und stelle sie vor Heinz auf den Tisch. »Trink mal einen kräftigen Schluck«, fordere ich ihn auf. Aber Heinz ignoriert es.
»Mein Sohn hat Scheiße gebaut«, platzt es aus ihm heraus.
»Ist er denn wieder aufgetaucht?«
Heinz nickt. »Mehr oder weniger. Bei der Polizei ist er wieder aufgetaucht. Er sitzt in U-Haft.«
»Wegen was?«
»Raubüberfall mit Körperverletzung.«
»Raubüberfall mit Körperverletzung?«, frage ich erstaunt, das Bild seines Sohnes vor Augen. »Das kann ich mir gar nicht vorstellen.«
»Es hat mit mir zu tun. Mit meiner Sauferei.« Er wird noch ein Stückchen kleiner, fast liegt sein Kinn auf der Tischplatte.
»Sag das nicht. Du hast dir immer Mühe gegeben. Das weiß ich. Mehr Mühe als manch dauernüchterne Pseudoeltern.« Heinz schließt die Augen, atmet schwer und langsam die Luft aus. Fast sehe ich diese zentnerschwere Last auf seiner Brust, wie sie auf ihm klebt, seit Jahren. Es piept zwei Mal. Er holt sein Telefon aus der Hosentasche, tippt etwas hinein und steckt es wieder weg.
»Ich muss los«, sagt er und steht auf. »Ein Rechtsanwalt von der Anwaltshilfe will sich mit mir auf dem Revier treffen.«
Ich sehe zu ihm hoch. »Lass es mich wissen, wenn ich dir irgendwie helfen kann.« Er nickt und verschwindet. Die Tür fällt ins Schloss. Eine unangenehme Stille breitet sich in der Küche aus. Unerträglich fast. Als säße ich zwischen brennenden Holzscheiten und der einzige Weg ins Freie bestünde aus einem Berg Reißzwecken. Da steht immer noch der Espresso. Ich trinke ihn leer und gehe wieder ins Bett. Dieses Mal ziehe ich das Rollo nach unten. Es wird dunkel. Die Strümpfe lasse ich an, drehe mich auf die Seite und stelle mir Nebel und Galaxien vor, wie ich daran vorbeigleite, langsam, relativ. Jemand sagt, ich sei aber bis ans Ende aller Tage alleine. Schön, antworte ich, schmerzhaft schön.
Ein Auto hupt unten auf der Straße. Warum? Vielleicht eine Katze? Die Menschen in der Merheimer Straße haben viele Katzen. Wie viel Uhr ist es? Ich bin steif. Jeder Muskel tut weh. Das Umdrehen fällt mir wirklich schwer. Auf der Uhr ist es halb zwölf. Bald Mitternacht. Ich habe Elisa gar nicht gehört und auch nichts zu essen gemacht. Einfach gar nichts gemacht. Mich meinen Träumen hingegeben. Mühsam stehe ich auf, ziehe mich an, schlüpfe in die Filzschuhe. Meine Augen haben sich an die Dunkelheit gewöhnt. Im Flur brennt kein Licht. Die LEDs des Telefons schicken ein wenig Helligkeit an die Wände. Auch im Wohnzimmer ist es still und dunkel, in der Küche ebenso. Elisa muss im Bad sein. Ich klopfe, um sie nicht zu erschrecken und öffne die Tür. Elisa sitzt auf dem Boden, an die Wanne gelehnt. Fast ein wenig zu aufrecht, läge da nicht ihr Kopf auf der Brust, die Haare verdecken das Gesicht. Ihre Haut ist so fahl wie der elfenbeinfarbene Schimmer der Fliesen. Ich bleibe stehen, denn ich spüre die Kälte, die von ihr ausgeht. Vorsichtig drehe ich mich um und schalte das Licht aus, schließe leise die Tür.
»Ich gehe in die Küche, Elisa«, sage ich. »Was möchtest du essen?«
Es bleibt still. Nichts zu hören im Haus. In der Küche schalte ich das Licht an. Elisa hat ein paar Sachen eingekauft. Kaffee, Tee, ein wenig Obst und Haferflocken. Eine 500g-Packung.
Diese Geschichte
Entstanden im Jahr 2020. Ehepaar um die 60. Fast wortlos. Empfindungslos. Kein Miteinander mehr, nur ein Nebeneinander. Lethargie und Depressionen. Dann noch ein Treffer. Das Fass läuft über. Wie immer, sind das keine real existierenden Personen in Köln. Straße und Kirche gibt es, aber das ist auch schon alles. Viel Spaß beim Lesen!