KURZGESCHICHTE | Mir ist elend zumute. Mein Mund so trocken wie nach zwei Tagen wasserloser Wüstenwanderung. So stelle ich mir zumindest einen Mund in der Wüste vor. Kann ich etwas tun? Jetzt. Hier. Mir fällt nichts ein, außer sterben. Ich liege auf dem Rücken und will mich auf die Seite drehen, aber etwas klappert rechts und zieht an meinem Arm. Also öffne ich widerwillig die Augen und bereue es sofort. Es ist viel zu hell. Fast grell.
»Hallo, Heinrich. Da bist du ja.«
Mühsam entdecke ich eine Schwester. Johanna? Walburga? Laurentina? Ich kann das Schildchen nicht erkennen. »Ährrr«, bringe ich raus. Sie steckt mir einen kalten, sehr nassen Waschlappen in den Mund und ich sauge daran wie an Wassereis.
»Das wird dir gut tun. So geht es den meisten nach einer Operation. Aber es ist alles in Ordnung.« Um das zu unterstreichen, nickt sie heftig, entzieht mir den Waschlappen, tunkt ihn in eine Schüssel und steckt ihn erneut zwischen meine Lippen. Ich fühle immensen Durst, enormen Hunger und gleichzeitig ist mir nach kotzen zumute. Viel schlimmer kann es nicht werden. Ich schlafe wieder ein.
Das zweite Erwachen ist angenehmer. Bis sich ein kaum zu ertragender Harndrang in meinem Bewusstsein festsetzt. Die Betten rechts und links sind leer, in meinem Arm steckte eine Infusion und das rechte Bein in einem monströsen Gips. Unmöglich, an die Klingel zu kommen.
»Hallo?«
Meine Stimme versagt kläglich. Mehr als ein krächzendes Flüstern gelingt nicht. Soll ich einfach ins Bett pinkeln? Das würde ich mir nie verzeihen. Links der Badezimmertür, am Rahmen des Eingangs, entdecke ich eine Glatze. »Hallo?«, erwidert die Glatze.
»Ich brauch Hilfe.«
Die Glatze schaut sich um und kommt herein. Sie hat keinen Schlafanzug an, sondern ein knielanges Nachthemd mit unzähligen Biene Maja-Figuren bedruckt. Ich erkenne in der Glatze ein Mädchen mit riesengroßen Augen, die mich neugierig anstarren. Sie packt eine der Lehnen, zieht den Stuhl hinter sich her und setzt sich neben das Bett.
»Ich muss mal pinkeln! Bitte, hol die Schwester. Schnell!«
»Wie heißt du?«
»Verdammt!«, fluche ich und bereue es gleich. »Ich muss p-i-s-s-e-n!«
»Das kann ich auch machen«, erwidert sie trocken und greift nach unten. Mit der Urinflasche in der Hand, grinst sie mich an. Ich erstarre, hole Luft und halte sie in den Lungen. Das wird doch nicht wirklich passieren?
»Du wirst ja rot«, stellt sie fest. Ob es hilft, wenn ich die Augen schließe? Sie hebt die Decke an, zerrt meine Hose runter und stellt die Flasche zwischen meine Beine. Meine Güte, ist das kalt! Ich zucke zusammen. »So, und jetzt …«, erklärt sie sich den Vorgang offenbar selbst, lugt unter die Decke, packt mein empfindlichstes Teil mit der linken Hand und bugsiert es in die Flasche. Ist es möglich, mitsamt Bett und Krankenhaus für immer im Boden zu versinken?
»Fertig?«
»Nein«, erwidere ich genervt.
»Warum nicht?«
»Weil … weil es halt … schwierig ist!« Ich will schreien, sie umhauen, als sie die Decke anhebt, um nachzusehen, was es bei einer so einfachen Sache für Schwierigkeiten geben könnte.
»Oha!«, sagt sie überrascht, lässt die Decke los und wird ebenso rot. »Das ist ja bei euch Jungs so. War ich das?«
Ich nicke.
»Tut mir leid.«
»Egal. Vergiss es.«
Ich spüre, wie die Steifheit nachlässt und ich endlich pinkeln kann. Was für ein erhebendes Gefühl. Im selben Moment bekomme ich es mit der Angst zu tun. Wie lange war ich schon nicht mehr auf Klo gewesen? Ist die Flasche groß genug? Egal. Ich lasse es laufen.
»Jetzt guckst du ganz zufrieden. Bist du es auch?«
Wieder nicke ich.
»Sag mir einfach, wenn du fertig bist.«
»Mach ich.«
»Und dann sag mir, wie du heißt.«
»Heinrich. Und du?«
»Patricia.«
Sie grinst mich an. »Wunderst du dich, dass ich eine Glatze hab?«
»Äh …«
»Klar, wunderst du dich. Welches Mädchen hat mit dreizehn schon eine Glatze?«
»Also …«
»Bist du fertig mit pinkeln?«
Ich komme kaum mit, bei dem was sie da alles von sich gibt.
»Bin fertig.«
»Okay.« Patricia langt mit der rechten Hand unter die Decke. »Boah, ist das warm … und schwer. Ach du je …« Sie berührt meine Schenkel und er wird schon wieder steif.
»Das geht aber schnell«, grinste sie. Vorsichtig holt sie die Flasche unter der Bettdecke hervor und betrachtet neugierig den Inhalt. »Ganz schön viel«, stellt sie fest, steht auf. »Ich kipp das jetzt aus und du wartest hier.«
Mein Blick fällt auf den monströsen Gips und die Infusion. »Okay.«
Patricia leert die Flasche im Bad aus. Sehen kann ich sie nicht. »Puh, das stinkt ja gewaltig!«, ruft sie. Die Peinlichkeiten wollen kein Ende nehmen. Ich höre, wie sie die Flasche ausspült, dann kommt sie wieder an mein Bett und setzt sich. »Bitte. Danke.«
»Ja, danke. Vielen Dank. Ich hätte bestimmt ins Bett gepinkelt ohne dich.«
Breites Grinsen, große, weiße Zähne kommen zum Vorschein. »Das hätte ich gerne gesehen.«
»Kann ich mir vorstellen.«
Von einem auf den anderen Moment Stille. Patricia mustert mich. Noch nie habe ich ein Mädchen mit Glatze gesehen, eine Frau, doch ja, eine Frau. In der Fußgängerzone mit einer Ratte auf der Schulter. Aber was es mit Patricias Glatze auf sich hat, kann ich mir nicht vorstellen. Sie hebt die die Hand und legt sie auf meinen Gips. Ich denke an Schmerzen und will den Koloss wegziehen, aber er ist viel zu schwer und die Berührung tut überraschenderweise nicht weh.
»Der ist ganz schön riesig. Was hast du denn angestellt, um so ein Monster zu bekommen?«
»Da war ich auf der Flucht vor den Klingonen und Scotty hat die Batterie meines Phasers nicht ausgewechselt. Ich war wehrlos und bin dann eine hohe Mauer runter gesprungen. Dabei ist es dann passiert. Mittelfußknochen-Reihenbruch.« Ich hebe die rechte Hand und schlage ein paar Mal mit der linken Handkante quer auf den Handrücken. Sie verzieht den Mund.
»Das klingt ja schrecklich. Das mit den komischen Gonen hab ich nicht kapiert.«
»Sag bloß, du kennst Raumschiff Enterprise nicht?«
Sie überlegt tatsächlich. Gibt es da überhaupt etwas zu überlegen?
»Kommt das im Fernsehen?«
Ich seufze.
»Patricia! Hallo!? Patricia, Kind! Wo bist du?!« Patricia duckt sich ruckartig. Dann lugt eine Frau ins Zimmer und sieht sich um. Das Biene Maja-Nachthemd ist schwerlich zu übersehen. »Da bist du! Ich suche dich schon überall! Du sollst doch in deinem Zimmer bleiben!« Offenbar ihre Mutter. Nur zehn Minuten früher … ich werde schon wieder rot. Patricia richtet sich auf und verdreht die Augen, dann steht sie auf.
»Der Junge ist neu, Mama. Stell dir vor, alles ein Matsch unter dem Gips!« Sie deutet auf das weiße Monster. Vorne lugen meine Zehen raus, rot vom Jod.
»Der arme Junge«, sagt die Mutter tonlos, lächelt gequält. »Bestimmt unter ein Auto gekommen, oder?«, fragt sie irgendwen im Zimmer, nur nicht mich.
»Das ist bei den Klingonen passiert, Mama.«
»Wo?«
Ich sehe ihre Gedanken förmlich ins Nichts fallen. Klingonen … wahrscheinlich Hocheifel oder Westerwald. Bevor es zu peinlich wird, zieht Patricia ihre Mutter aus dem Zimmer. »Hast du meine Hausaufgaben mitgebracht?«
»Natürlich, Kind.«
Dann bin ich wieder alleine und betrachte interessiert meine roten Zehen. Bewegen oder nicht bewegen? Ich traute mich nicht und starre an die Decke.
Meine Mutter versorgt mich mit Clever & Smart, Rex Danny, Lieutenant Blueberry, Zack und allerlei anderem Kram. Vermutlich steuert sie jeden Kiosk zwischen holländischer Grenze und Eifel an, um an all die guten Comics zu kommen. Schulkram ist passé. Schließlich muss ich gesunden. Der Arzt erklärt mir in aller Ruhe und Genauigkeit, dass sie Nägel in meine fünf Knochen geschossen hätten; die Zehen hochgebogen und zack, unten rein. Ich wäre jetzt sechs Wochen ihr Gast und alle Schwestern seien so lieb zu uns Kindern. Sechs Wochen ist das einzige, was ich höre. Das kann ich mir noch nicht mal annähernd vorstellen. Vor allem das Essen ist eine Zumutung. Mal abgesehen vom miesen Geschmack, werde ich nie satt. Sechs Wochen …
Am zweiten Tag nach der Operation quartieren sie links von mir einen jüngeren Jungen ins Zimmer ein, der irgendwelche Probleme mit seinen Hoden hat. So ganz verstanden habe ich das nicht. Doch seine aufdringliche Art, die fiepsige Stimme, die Unruhe, hier hin laufen, dort hin rennen, gehen mir schwer auf die Nerven. Liegt er, dreht er sich innerhalb einer halben Stunde dreißig Mal von einer auf die andere Seite und zurück, furzt permanent, hebt danach die Decke hoch, knufft das Kissen pausenlos, trinkt einen Schluck, verschluckt sich, hustet und spuckt in die Teetasse. Kurz vor dem Mittagessen ist meine Geduld zu Ende.
»Du, sag mal, kannst du nicht ruhig liegen?«
Er stiert mich an. »Mir ist langweilig.«
»Dann lies was.«
»Ich hab nichts zu lesen.«
Ich greife ins Zwischenfach und reiche ihm drei Asterix. Er sieht mich ungläubig an.
»Was ist das?«
»Wie, was ist das? Asterix! Zum Lesen.«
»Comics kann ich nicht leiden.«
»Was liest du denn dann? Ich hab hier noch Die Ritter der Tafelrunde, Karlsson auf dem Dach, Die drei Musketiere …«
»Ich lese überhaupt nicht«, unterbricht er meine Aufzählung.
»Du liest überhaupt nicht?«
»Hab noch nie en Buch gelesen. Das ist doch öde.«
»Na, mir egal. Hauptsache, du bleibst ruhig liegen. Weil ich will nämlich lesen. Und aufstehen und rausgehen zum Lesen kann ich nicht.«
»Sehe ich.«
Ich lege mich zurück und nehme den Rex Danny wieder von der Decke.
»Was ist das?«
Noch nicht mal eine Seite habe ich geschafft. Etwas missmutig lege ich den Comic weg und schaue nach links. Er zeigt auf das Plastikflugzeug, das ich mir als Spielzeug von daheim mitgenommen habe. So was wie mein Talisman. »Mein Modellflugzeug. Eine McDonnell Douglas Phantom F4-E der US Navy.«
»Baust du so was?«
»Ja. Das ist ein Hobby von mir.«
Er hebt die flache Hand und schlägt drauf. Mir stockt der Atem. Das Fahrwerk knickt ab, ein Reservetank bricht und das rechte Höhenruder.
»Du Arschloch! Warum hast du das gemacht?!« Ich wurde fuchsteufelswild und will aus dem Bett springen, aber der Gips …
»Mir ist langweilig«, bekennt er und legt sich wieder zurück. Vorsichtig hebe ich die Phantom hoch und sammle die Teile ein.
»Ist sie jetzt kaputt?«
Mein Blick lässt ihn leider nicht auf der Stelle tot umfallen. Ich werfe das kaputte Modell mitsamt der abgebrochenen Teile auf das Bett rechts von mir, dann greife ich vom Stuhl, auf dem meine Bücher liegen, den Bildband Zweiter Weltkrieg, 1939 – 1945, 300 Seiten im Großformat. Ein Buchgeschenk meines Opas. Ich drehe mich so gut es geht nach links, halte den Zweiten Weltkrieg in der rechten Hand an der Bettkante versteckt. »Wenn du schon mein Flugzeug kaputt machst, heb jedenfalls das Rad da unter deinem Bett auf.«
»Wo?« Er beugt sich auf meiner Seite über die Bettkante.
»Da, unter dem Tritthebel. Bist du blind?« Er beugt sich noch weiter hinaus, ich führe den Zweiten Weltkrieg im perfekten Bogen über mich und lasse die gewichtige Historie mit aller Wucht auf seinen Hinterkopf knallen. Den Rest der Strecke bis zum Boden fällt der Gelangweilte wie in Zeitlupe. Er bremst mit der Backe und fängt an zu schreien und zu heulen. Das hat er nun davon. Dass sich mein Gewissen meldet, musste ich wohl oder übel in Kauf nehmen. Er kriecht zwischen den Betten zum Tisch an der Wand und zieht sich hoch. Das ist der Moment, in dem die Schwester die Tür öffnet und das Mittagessen bringt.
»Um Gottes Willen! Was ist denn hier los!?«
Mein Gegner hält sich den Hinterkopf, die rote Backe, Tränen fließen in Strömen und Schwester Johanna-Walburga-Benedicta-oder-so wirft mir einen sehr bösen Blick zu. »Der hat einfach mein Flugzeug kaputt gemacht«, verteidige ich mich. Aber er weint, nicht ich. Somit sind alle Gefühle für ihn reserviert und ich in Ungnade gefallen. Sie drückt ihn an ihren mächtigen Busen und pustet auf die malträtierte Stelle.
»Wenn ihr Zwei euch streitet, kommst du in ein anderes Zimmer«, droht sie mir an.
»Ich bin einverstanden«, sage ich. Ihr Blick ist seltsam.
»Jetzt wird gegessen. Und ich will nichts mehr hören!«
Meinem Magen geht es schlecht. Da drin muss das Gewissen stecken, wie sonst könnte ich dort so ein mulmiges Gefühl verspüren? Aber es geschieht dem Idioten recht, rede ich mir ein. Das Mittagessen sorgt jedenfalls dafür, dass ich mich noch schlechter fühle. Kartoffelbrei, zwei Frikadellen, eine braune Sauce und Gemüse. Eins schlechter als das andere. Das bekämen nicht mal Nachbars Hühner runter.
Die Nachmittagsschicht packt meine Sachen zusammen und rollt mich zwei Zimmer weiter. Ich liege nun gleich am Eingang, neben den Schränken und dem Badezimmer. Rechts von mir stehen zwei Betten, zerwühlt, allerlei Kram darauf, aber momentan bin ich alleine. Kaum ist einigermaßen Ruhe eingekehrt, klopft es an der Tür. Patricia kommt rein, Pippi Langstrumpf pfeifend, Buch und Heft in der Hand. »Ich weiß genau, was du getan hast«, eröffnet sie mir, legt meine Bücher auf den Boden und setzt sich rechts neben das Bett. Auf ihrem Biene-Maja-Nachthemd prangt ein großer, brauner Fleck. Sie folgt meinem Blick zum Fleck und grinst. »Das Essen war heute so richtig scheiße, oder?«
»Ganz furchtbar«, bestätige ich.
»Warum hast du dem Kerl eins übergezogen?« Ein Thema folgt bei ihr auf das andere. Ohne Pause dazwischen.
»Er hat auf mein Modellflugzeug gehauen und es kaputt gemacht. Dafür hab ich ihm eins mit dem Buch auf den Kopf gegeben.«
»Mit welchem Buch?«
Ich zeige auf den dicken Wälzer, der unten, neben dem Stuhl liegt. Sie hebt ihn neugierig hoch. »Wow! Ist das ein Schinken! Kein Wunder, dass er so ne dicke Beule hat.«
»Hat er?«
»Und wie«, grinst sie breit. »Aber recht hattest du. Jetzt bist du bei den Bettnässern.«
»Bettnässer?«
»Michael und Andreas. Zwillinge. Und beide pinkeln sie nachts ins Bett.«
»Ach … hast du denen auch …«
»Du meinst, ob ich denen auch mal das Ding gehalten hab?« Sie presst die Luft aus und lacht heftig. »Quatsch«, wischt sie meinen Gedanken beiseite. »Das hab ich nur bei dir gemacht.«
Ich werde rot.
»Du wirst aber oft rot.«
Ich will etwas erwidern, da legt sie Buch und Heft auf meinen Bauch. »Schau mal hier. Du kannst mir bestimmt helfen.« Ich drehe das Buch um. Mathematik für die siebte Klasse. »Du musst mir einfach helfen. Ich will die nächste Klassenarbeit mitschreiben. Und ich kapier das nicht.«
»Wo seid ihr denn gerade?«
Patricia schlägt eine Seite auf. »Hier, Mengenlehre.«
»Mengenlehre?»
Meine Frage erschreckt sie. Wie ein nasser Sack fällt sie zurück an die Stuhllehne und starrt mich angsterfüllt an. »Sag bloß, du kennst das nicht?«
»Doch. Das kriegen wir schon …« Ihre Gesichtszüge entspannten sich. »Ich wundere mich nur, dass ihr jetzt erst Mengenlehre habt? In welcher Schule bist du denn? Hier in der Gegend?«
Sie druckst rum, presst die Lippen aufeinander und richtet sich kerzengerade auf. Ihre Augen werden zu einer Art Glas. Dunkles, hartes, leicht schimmerndes Glas. War der Blick der Schwester heute Mittag böse, so ist Patricias Blick von tiefer Schwärze und Endlosigkeit, wie ich es noch nie gesehen habe bei einem Menschen. Mir schnürt es die Kehle zu. »Warum guckst du mich so an? Hab ich dir was getan?« Meine Worte holen sie augenscheinlich ins Leben zurück, auf diesen Planeten, in dieses Krankenzimmer.
»Nein«, antwortete sie merklich leiser. »Nein, Entschuldigung.« Ihre Hand landet auf meinem Unterarm. Deutlich spüre ich eine Kälte, die mir unangenehm ist. »Du musst das wissen, sonst kannst du mir ja nichts beibringen, oder?«
»Äh …«
»Schau hier«, deutet sie auf ihre Unterarme und zieht beide Ärmel hoch. Eine Menge blauer Flecken sind zu sehen. Ich erschrecke und will wegsehen, aber ihre verunstalteten Arme ziehen mich magisch an. »Einstiche und noch mal Einstiche, Infusionen, Bluttransfusionen, Blutentnahme, Blutreinigung und lauter so Zeug. Und dann die Bestrahlungen. Deswegen hab ich ne Glatze. Deswegen kann ich nicht auf ne normale Schule. Verstehst du? Ich hab Leukämie. Blutkrebs. Akute Leukämie. So nennen die das.« Sie mustert mich neugierig. »Schon mal gehört?«
»Ich weiß nicht so viel …«
»Macht nix. Ich weiß alles. Du erklärst mir Mengenlehre und ich dir Leukämie.«
»Ähm, ja, okay.«
»Also los«, fordert sie mich auf. »Fang mal an.«
»Sag du mir erst, wo es hängt. Was meinst du, was Mengen sind?«
»Ne Menge Ärger hab ich, wenn ich die Klassenarbeit verhau.«
Sie irritierte mich maßlos. »Warum das denn?«
»Meine Mutter, die Herzallerliebste … du hast sie ja schon kurz kennengelernt, die macht mir die Rübe runter. Die will auf Biegen und Brechen, dass ich gute Noten hab.«
Ich überlege. »Wie viele Erwachsene kennst du, die so richtig Scheiße sind?«
Patricia hebt die blasse Hand und winkt ab. »Eine ganze Menge.« Kaum ausgesprochen, stutzt sie.
»Und wie viele Erwachsene kennst du, mit denen man so einigermaßen klar kommt?«
»Nicht viel.«
»Und was haben die beiden gemeinsam?«
»Na, sie sind Erwachsene.«
»Du kannst alle Erwachsene in so einen Kreis einzeichnen.« Ich nehme den Stift zeichne einen Kreis. »Alle sind drin, weil sie Erwachsene sind, von 18 bis tot, okay?«
»Klar.«
Dann füge ich einen zweiten Kreis innerhalb des ersten hinzu und male Punkte hinein. »Das sind die guten Erwachsenen. Mit denen du klar kommst.«
»Sind nicht so viele«, wirft sie ein.
»Die guten Erwachsenen sind ein Teil der großen Menge aller Erwachsenen. Der Teil, der okay ist. Sie sind deshalb eine Teilmenge in der Menge der Erwachsenen. Okay?«
»Eigentlich schon.«
Ich zeichne ein Auto daneben. »Kein Erwachsener«, erkläre ich und notiere die Formel dazu. »Kann deine Mama Auto fahren?«
»Und wie schlecht.«
Ich grinse. »Mein Papa kann auch Auto fahren. Also haben wir schon zwei Autofahrer innerhalb der Menge an Erwachsenen. Und wir haben ne Menge Autos draußen. Auto und Autofahrer treffen sich, stimmt‘s?«
»Meistens.«
Ich zeichne einen Kreis um das Auto, und einen, der Auto und Erwachsene abdeckt. »Jetzt haben wir eine Schnittmenge …«
»Warte, warte!« Patricia lehnt sich an. »Ich brauch ein bisschen Zeit, Heinrich.« Sie steht auf und geht Richtung Tür, dreht sich kurz um, und deutet auf ihre Glatze. »Das hier oben arbeitet nicht mehr richtig, weißt du? Wenn es Klick macht, muss ich gehen, sonst dreh ich durch. Tut mir leid …«
Da sitze ich mit meiner Schnittmenge an Autofahrern und starre auf die Stille, die sie zurückgelassen hat.
Zehn Minuten später brandet eine Kakophonie aus Schreien, Flüchen, Jauchzern und Pfiffen in mein Zimmer. Die Bettnässer-Zwillinge offenbar. Mitten in ihren Sprüngen halten sie inne und fixieren mich.
»He! Wir haben nen Neuen!«
»Du bist doch der mit dem Buch, oder?«
»Mh.«
Sie stellen sich vor mein Bett und hängten sich übers Gitter. Optisch auseinanderhalten kann ich sie nicht. Der linke mustert meinen Gips. »Was ist passiert?«
Ich erzähle ihnen das von Spock und den Klingonen, und beide wissen sofort, dass meine Situation fast hoffnungslos war mit leerer Phaser-Batterie. Nichts zu machen. »Warum seid ihr hier?«, will ich wissen. Obgleich mir das Scheinheilige an dieser Frage sofort bewusst ist. Sie sehen sich an, um gleich darauf zu lachen.
»Wir sind die Bettnässer. Hast du doch sicher schon gehört, oder?«
Es ist mir peinlich, das zugeben zu müssen. »Ja, schon …«
»Wir haben ne angeborene Blasenschwäche. Unsere Pisse läuft uns einfach so davon, was Bruderherz?«
»Und wie!«, bestätigte der. Ich wünschte, wir würden das Thema wechseln.
»Aber jetzt bauen sie uns da unten was ein, und dann wird es besser.«
»Ja. Wird auch Zeit.«
Ich schweige. Irgendwie fehlen mir die Worte bei dem Thema.
»Hör mal, weißt du, wie du uns auseinanderhalten kannst?«
»Nicht wirklich.«
Der linke dreht den Kopf und zeigt mir sein Ohr. Es fehlt ein ziemliches Stück. »Bin ich in die Fahrradkette gekommen. Halbes Ohr weg. Ich bin der Andreas.«
»Ich der Michael«, sagt der andere. Ihr Blick fällt auf meine Comics. »Boah! Rex Danny! Wahnsinn! Können wir die lesen?«
»Ja, sicher. Bedient euch.«
Jeder schnappt sich einige der Hefte und gleich darauf liegen sie in ihren Betten und sind ins Lesen vertieft. Immerhin, sie lesen Comics. Es kann also nicht so schlimm werden.
Die Zwillinge sind meist im Haus unterwegs, im Fernsehzimmer, irgendwie immer auf Achse. Patricia kommt jeden Tag. Morgens, mittags und abends sitzt sie an meinem Bett und wir quälen uns nicht nur durch die Mengenlehre, sondern auch durch Erdkunde, Geschichte und Englisch. Das Zeichen für Genug ist ihre erhobene Hand. Dann zieht sie meist ihren Bademantel über und geht in den Park. Es ist mein dritter Samstag im Krankenhaus, als ich sie aus dem Zimmer gehen sehe und das Gefühl entdecke, hinterher springen zu wollen, mit ihr hinaus in den Park, ein paar Schritte gehen, reden. Ich rede so gerne mit ihr. Alles, was sie sagt, klingt leicht wie eine watteweiße Wolke am blauen Himmel. Ich verfluchte den Gips. Alles Bitten und Betteln hilft nichts, es gibt keine Erlaubnis vom Arzt für einen Rollstuhl-Ausflug. Wie hätte das auch technisch gehen sollen, denn der Gips reicht weit übers Knie.
Am Montag der vierten Woche kommt sie nicht. Nach dem Mittagessen werde ich nervös. Als eine der freundlicheren Schwestern auftaucht, Maria Laurentina steht auf dem Plastikschildchen, und mir eine neue Flasche Fachinger hinstellt, lege ich den Comic beiseite und schaue sie an.
»So, Heinrich. Nachher gibt es noch ein Joghurt und einen Apfel.«
»Danke … äh.«
»Ja?«
»Wo ist denn Patricia heute? Sie ist gar nicht zum Lernen erschienen.«
Die Schwester nickt bedeutungsschwer. »Die Patricia hat eine Chemotherapie bekommen. Das schwächt den Körper sehr und sie muss sich ausruhen.«
»Kann ich sie nicht besuchen?«
Sie mustert mich mitleidig. »Wir können dich in keinen Rollstuhl setzen, weil du durch den Gips enormes Übergewicht nach vorne hättest. Aber …«, sie denkt wohl an etwas und kratzt sich hinterm Ohr. »Ich geb dir nachher Bescheid.«
Mir fällt nicht nur ein Stein vom Herzen, mein Inneres ergibt sich einer Armee von krabbelnden und pinkelnden Ameisen. »Geht es ihr gut?«
Die Schwester nickt, hält aber dann inne und sieht mich ernst an. »Den Umständen entsprechend. Aber wenn wir sagen ‚den Umständen entsprechend‘, dann kommt es eben immer auf die Umstände an. Sie ist ein starkes Mädchen, und dass du mit ihr lernst, bekommt ihr sehr gut. Aber trotz allem hat sie Leukämie. Das ist eine wirklich schwierige Krankheit.«
»Ja, ich weiß, sie hat mir davon erzählt.«
Laurentina legt mir ihre Hand auf die Schulter. »Ich schau mal, was sich machen lässt. In Ordnung?«
»Danke.«
Mit dem Austeilen von Obst und Joghurt, kommt ein junger Pfleger in Begleitung von Laurentina in unser Zimmer. Der Pfleger schiebt einen altertümlich aussehenden Rollstuhl mit eingehängter Ablagefläche als Vorbau, abgestützt durch ein drehbares Rad.
»So, Heinrich. Ich wusste doch, dass es auf der Männerstation so ein Ding gibt.« Sie stellt sich vors Bett und lächelt zufrieden. »Das hier«, deutet sie auf den Pfleger, »ist Hans. Er wird dich mit diesem Gestell durch die Gegend fahren.«
»Vielen Dank, Schwester!« Ich bin so glücklich, aufgeregt und vor allem nervös, dass ich beim Hochrutschen fast meine Gipsaufhängung vergessen hätte.
»Immer langsam mit den jungen Pferden«, beruhigt mich Hans. Ganz professionell stellt er den Rollstuhl neben mein Bett und wuchtet mich mir nichts, dir nichts auf die Sitzfläche. Der schwere Gips und mich Kerl bereiten ihm keine Schwierigkeiten.
»Wissen Sie denn, wo Patricia liegt?«
»Klar«, erwidert er wie selbstverständlich. »Wir müssen auf die onkologische Station, dort werden Chemotherapien verabreicht. Deine Freundin liegt in einem der Quarantänezimmer.«
»Quarantänezimmer?«
»Ja. Eine Chemotherapie ist im Prinzip Gift. Das Immunsystem wird ziemlich geschwächt. Dadurch ist man viel anfälliger für Infektionen. Eine ganz normale Grippe könnte da schon lebensgefährliche Folgen haben.«
Ich schlucke schwer und verliere mich in düsteren Gedanken. Je weiter sich unser Weg durch das Haus fortsetzt, desto mehr Magenschmerzen bekomme ich. Als wir im Fahrstuhl stehen, zusammen mit einem schluchzenden Kleinkind und seiner Familie, halte ich es nicht mehr aus. Ich muss weinen, vergrabe das Gesicht so gut es geht im Ärmel und ahne die Blicke der Menschen um mich herum. Zentnerschwere Lasten, und ich weiß nicht wohin damit. Sogar der Kleine hört auf und lauscht. Dann spüre ich die Hand des Pflegers auf meiner Schulter. Zwei Stockwerke später verlassen wir den Fahrstuhl und ich atme auf.
Auf der Onkologie ist es totenstill. Was für ein Unterschied zur Kinderstation. Neben dem Schwesternzimmer sind links und rechts zwei Quarantäneräume, in die man durch eine große Fensterfront hineinsehen kann. Patricia ist im linken. Wir stoppen davor und ich entdecke sie in ihrem Bett, die Decke bis ans Kinn gezogen. Völlig allein dort drin, starrt sie offenbar an die Wand, eine Micky-Maus-Stoffpuppe neben sich, aus der ein mit einer Kugel beschwerter Faden hängt.
»Wir dürfen nicht hinein«, erklärt der Pfleger.
»Hab ich mir schon gedacht.«
Er klopft an die Scheibe. Patricia dreht langsam den kahlen Kopf. Es dauert einige Sekunden, bevor sie mich erkennt. Nach einer Weile schafft sie es zu lächeln. Mir bleibt nichts, als zurückzulächeln, obwohl ich just in diesem Moment Supermann sein will, um alles mit einem Fingerschnippen zu richten. Unbekannte Kräfte ziehen und zerren an mir in diesem vermaledeiten Rollstuhl, an diesem verfluchten Gips. Patricia verschwimmt hinter Tränen. Aber ich schluchze nicht, gebe keinen Ton von mir. Ich hebe die Hand und winke.
»Lass uns wieder gehen. Sie muss sich ausruhen und viel schlafen.«
Ich nicke. Verschämt starre ich auf meinen Oberschenkel. »Wie lange muss sie hier bleiben?«
»In der Regel drei Tage. Es ist nur wichtig, dass niemand sie ansteckt.«
Wir machen uns auf den Rückweg.
Die Tage ohne Patricia sind nicht nur langweilig, sondern schmerzhaft. Wenn ich als kleines Kind Oma in Hamburg besuchte, dann habe ich ähnliches gespürt, Heimweh. Schmerzen im Bauch, Krämpfe, als kralle sich eine mannsgroße Faust dort drinnen alle Gedärme, derer sie nur habhaft werden kann. All meine Gedanken kreisen um sie. Ich werde bald wahnsinnig. Und auch für die weniger freundlichen Schwestern entwickle ich mich zu einer nervlichen Belastung. Als Mutter mir mit besten Grüßen meiner Tante ein Glas Quittenmus zukommen lässt, fällt mir nichts anderes ein, als das Quittenmus mit einem langen Joghurtlöffel an der gegenüberliegenden Wand zu verteilen. Die Zwillinge drapieren mit Tesafilm auf Papier gemalte Zielkreise darauf, und ich versuche zu treffen. Die meisten Versuche gehen daneben. Wir lachen, das Glas ist bald leer, bis schließlich die Dragonerschwester Walburga-Benedicta-Johanna auftaucht, wutentbrannt auf die Tapete starrt und mit nicht bibelfesten Flüchen den Zwillingen eine Wurzelbürste in die Hand drückt. Ich verkrieche mich hinter einem Asterix, schließlich kann ich nicht aufstehen.
Am Sonntag sehe ich Patricia zum ersten Mal wieder. Sie kommt in unser Zimmer, einen Mundschutz auf, eine Plastiktüte in der Hand, und setzt sich wortlos neben mein Bett. Das Abendbrot ist einige Minuten zuvor abgeräumt worden. Die Zwillinge hocken im Fernsehzimmer und schauen Graf Luckner oder Daktari. Über dem hellblauen Mundschutz beginnen Patricias große Augen, ein helles, fast blendendes Weiß, mittendrin maikäferbraune Pupillen, in denen ich mich selbst erkenne. Sie starrt mich an und schweigt.
»Du hast vor dem Fenster geweint«, sagt sie plötzlich mit leiser, kratziger Stimme, »Warum?« Diese Frage stürzt mich in ein Unterholz aus Gefühlen, Gedanken und gedachten Ausreden.
»Äh, ich … ich dachte, du …«
»… würdest sterben?«
Es war ausgesprochen. Sterben! »Ja!« Mehr als dieses Ja bringe ich nicht zustande. Eilig starre ich auf meinem Gips, den roten Zehen. Da ist ein Jucken in der Kniekehle. Ich meine durchdrehen zu müssen in diesem Moment.
»He!«, ruft Patricia und haut auf meinen Gips. Ein dumpfer Ton, ein leichter Schmerz im Fuß. »Schau bloß nicht weg! Alle schauen immer weg! Ich will nicht, dass du wegschaust! Du nicht!«
Ich bin mir der Tränen nicht bewusst, sonst hätte ich vielleicht die Decke über den Kopf gezogen. Patricia trocknet sie mit einer Ecke der Bettdecke, lächle und zieht einen Holzkasten aus der Plastiktüte.
»Sag mal, spielst du Schach?«
Sie verpasst mir eine Niederlage nach der anderen. Obwohl ich mich für einen guten Schachspieler halte und fast täglich spiele, sehe ich ein ums andere Mal nicht mal den Ansatz von Zugmöglichkeiten. Nach acht Spielen räumt sie ungefragt die Figuren in die Kiste und klappt sie zu. »Du bist ein guter Verlierer, Heinrich. Viele haben schon wütend die Figuren vom Brett gefegt.«
»Es macht mir nichts aus, gegen dich zu verlieren.«
»Aber verlieren macht dir schon was aus, oder?«
»Verlieren macht mich nicht wütend, ich will nur solange üben, bis ich gewinne.«
»Okay, dann üben wir jetzt jeden Tag.«
»Ich freu mich drauf.«
Sie schiebt den Mundschutz zurecht. »Ja. Und ich erst.« Ihre Hand landet wieder auf meinem Gips und wandert hinunter zu den Zehen. Vorsichtig stupst sie den Großen auf den Nagel. Ich halte erschrocken die Luft an, rechne mit Schmerz, aber es kribbelt nur wenig. »Wann kommt der Gips wieder weg?«
»Ich werde übermorgen geröntgt. Wenn alles gut ist, machen sie am Freitag die Nägel raus, dann noch eine Woche Bewegungsübungen, schwimmen und so Zeug, das war es dann.«
»Freust du dich?«
»Einerseits schon, ja, aber …«
»Aber?«
»Dann bin weg. Du bist aber hier«, ich werde rot. »Und du bist dann alleine … ich meine, wer soll mit dir für die Schule üben, oder …« Was ich für ein Zeug stammele. Patricia zieht die Hand vom Gips weg und hält mir den Mund zu.
»Du redest vielleicht einen Mist. Sei mal ne Minute still, ja?«
Ich nicke. Ihre Augen lachen. Der Mundschutz spannt sich über den Lippen, ein paar kleine Furchen ziehen von den Augenwinkeln zu den Schläfen. »Ist doch klar, dass du mich jeden Tag besuchst. Oder?«
»Ja, natürlich! Jeden Tag.« Ich denke nach, was ich da gesagt habe, aber es muss einfach irgendwie zu machen sein. »Verlass dich drauf.«
»Wenn nicht, rede ich kein Wort mehr mit dir.«
Sie blickte streng, zieht die haarlosen Augenbrauen runter. Alleine schon der Gedanke, dass ich möglicherweise nie wieder ihre chaotische, sprunghafte Art zu reden erleben darf, versetzt mir einen Stich. Ich lehne mich zurück, ziehe tief die Luft durch die Nase ein.
»Ich muss wieder ins Zimmer. Nachher bekomme ich noch mal Blut abgenommen. Wir sehen uns morgen früh, ja?«
»Bis morgen«, bringe ich schwach raus und lausche der Stille, als sie das Zimmer verlassen hat. Ich suche nach Worten für diese Stille, stattdessen packt mich fürchterliche Angst.
Die Ärzte sind zufrieden mit dem Heilungsprozess und der Operationstermin ist angesetzt für den fünften Freitag im Krankenhaus. Schwester Maria Laurentina schickt am Vorabend die Zwillinge mit dem Abendessen ins Fernsehzimmer. Mein Magen knurrt wie verrückt, aber nüchtern bleiben ist die Devise. Die Tage zuvor hat mir Patricia gezeigt, wie sie nicht nur drei oder vier Spielzüge vorausdenkt, sondern weitaus mehr, und was man mit den Springern für fiese Fallen aufbauen kann. Wenn ihr Kopf nicht mehr mitmacht, lehnt sie sich entspannt zurück und ich lese aus Karlsson auf dem Dach vor. So auch am Abend vor der Operation. Als ich vermute, dass sie eingeschlafen ist, klappe ich das Buch zu und lege es weg. Da ist keine Regung an ihr.
»Stell dir vor, meine Mutter hat gefragt, ob ich dich mag«, sagt sie in die Stille. Patricia ist hellwach.
»Deine Mutter?«
»Ja, du weißt ja, sie kommt nur alle paar Tage, weil sie dauernd unterwegs ist, aber offenbar hat sie die Schwestern über uns ausgequetscht.«
»Aha. Und?«
»Und was?«
»Und, äh, also …«
»Warum sind Jungs eigentlich immer so feige?«, unterbricht sie mich und setzt sich aufrecht hin. Unter ihrem Blick fühle ich mich seziert.
»Tschuldigung …«
»Musst dich nicht entschuldigen. Sei einfach ehrlich. Immer frei raus. Mach ich doch auch. Ich mag dich. Sehr sogar.«
Der Grad meiner Gesichtsröte erreicht die Tomatenmarke. Große Hitze breitete sich in meinem Kopf aus, ausgehend von den Wangen. Patricia fängt an zu lachen. Aber es ist kein hämisches Lachen, nein, es klingt warm, freundlich und ganz nah bei mir.
»Wahnsinn, wie rot so ein Gesicht …«
»Also ehrlich sein?«, falle ich ihr ins Wort.
Sie verstummt und nickt langsam. Ich schließe die Augen, hole tief Luft und stelle mir ihr Gesicht vor. »Wenn du nicht im Zimmer bist, laufen die ganze Zeit hundert Ameisen durch mich hindurch. Wenn ich weiß, du kommst, dann sind es eintausend. Wenn du neben mir sitzt, schlafen die Ameisen, aber dafür singen die Vögel und die Sonne scheint. Und wenn du gehst, sind es Millionen Ameisen, die alle auf einmal pinkeln.«
Ich öffne die Augen. Patricia schweigt. Sieht noch nicht mal her. Ihre weißen Finger rupfen Plastik vom Bezug des Stuhls. Dann springt sie auf und rennt aus dem Zimmer.
Es folgt die grauenhafteste Nacht in meinem bisherigen Leben. Das Jucken im Gips ist unmenschlich, die Bettnässer schnarchen und die Ameisen fressen mich auf. Der Zeiger auf dem Wecker hämmert sein Sekundenlied in mein Trommelfell. Patricia!, will ich schreien. Ich denke daran, die Fachinger-Flasche durchs Fenster zu werfen; sogar das Sterben kommt mir in den Sinn, um mich in derselben Sekunde ins Bodenlose zu schämen, denn nicht ich würde sterben, sondern vielleicht sie, Patricia. Gedankenkreise wie enge Planetenbahnen, gekreuzt von umherschwirrenden Asteroiden. Jeden Moment einen Treffer erwartend, so liege ich da. Mit offenen Augen, starre ins Halbdunkel des Zimmers. Gegen sechs Uhr kommt die OP-Schwester und offenbar sieht man mir die Nacht an.
»Meine Güte, wie siehst du denn aus? Na, keine Angst. Ist bald vorbei.« Sie packt eine Spritze aus, desinfiziert den Oberschenkel knapp oberhalb vom Gips, drückt die Nadel hinein. Der Schmerz ist enorm und es brennt. Aber nichts im Vergleich zum Schmerz, der brandschatzend durch mein Inneres zieht. »Das war es schon«, grinst sie, nimmt die Pinkelflasche hoch und stellt sie zwischen meine Beine. »Hier. Versuch mal, ob was kommt.« Aber es kommt nichts und ich dämmere weg, Patricia vor Augen, ihre großen Pupillen. Die OP-Schwester löst die Bremse, schiebt mich auf den Gang. Der Weg zum OP ist ein Traumpfad, im Bett liegend, alle paar Meter eine Neonröhre, ein Fahrstuhl, Menschen in Grün und eine Maske, die sich auf mein Gesicht senkt. Patricia, will ich sagen, aber nichts mehr gehorcht.
Schon wieder ein furchtbares Wachwerden mit wahnsinnigem Durst. Die freundliche Schwester neben mir, Laurentina. »Hallo Heinrich. Da bist du ja wieder. Ich soll dich grüßen von deiner Mama. Die ist krank. Sie hat heute Morgen angerufen. Offenbar hat sie ziemlich Fieber. Aber wenn es ihr morgen wieder gut geht, kommt sie gleich in der Früh vorbei.«
Ich blinzle nur. Nicken klappt nicht, geschweige denn sprechen. Mir ist etwas übel. Dann legt sich von irgendwo her eine kühle Hand auf meine Stirn, bleibt einfach da liegen und vertreibt meine wirren Gedanken. Patricia! Vielleicht auf der anderen Seite? Ich bekomme es einfach nicht hin, den Kopf zu drehen. Aber wozu auch? So ist es wunderschön. Vor dem Fenster scheint die Sonne, ihr Licht fällt auf eine orangen Markise. Ich fühle mich glücklich. Zufrieden und glücklich, wie selten zuvor. Nach einer unbestimmten, mit Watte ausgestopften Zeit, schlafe ich wieder ein.
Als ich erneut erwache, hebe ich vorsichtig die Decke. Der Gips ist weg und mein rechtes Bein deutlich dünner als mein linkes. Lediglich ein Verband, der eine Handbreit über den Knöchel reicht, trennt mich noch von einem normalen Leben. Eine Bewegungstherapeutin taucht auf und teilt mir mit, dass sie jeden Tag drei Mal zur Therapie käme, um meine Muskeln wieder auf Vordermann zu bringen, zu kontrollieren, ob der Fuß auch das macht, was er soll. Als allererstes fange ich an, mich ausführlich zu kratzen. Kurz nach dem die Therapeutin weg ist, kommt Mutter, grüßt von Menschen, die ich das letzte Mal keine Ahnung wann gesehen habe. Ich nicke zu allem, danke allen, verstaue die neuen Comic-Hefte und gebe ihr ein paar zwanzig mal Gelesene mit nach Hause. Dann kommen die Ameisen. Unbarmherzig ergreifen sie von mir Besitz. Ich denke an die kühle Hand wie an einen entfernten Traum. Unvollständig, und doch voller Glück.
Zu Mittag bekomme ich eine Gemüsesuppe ohne Gemüse, dann geht endlich die Tür auf und ich sehen den Rücken von Schwesternbiest Walburga zuerst ins Zimmer kommen, einen Rollstuhl samt Infusionsgestell zieht sie vorsichtig herein, dreht sich und den Rollstuhl. Das Herz bleibt mir fast stehen, als ich Patricia erkenne, besser erahne. Ihr Lächeln ist eingefroren. Als hätte sie schon zwanzig Meter zuvor im Gang angefangen, um jetzt damit fertig zu sein.
»Nur eine Viertelstunde«, kündigt die Dragonerin an, stellt Patricia neben mein Bett, sortiert den Infusionsschlauch und marschiert raus. Ich löse die Arretierung meines Kopfteils und ziehe es hoch. Aufstehen oder zumindest die Füße aus dem Bett bekommen, muss möglich sein. Konzentriert achte ich auf jede Bewegung, jedes Hindernis; die Kraft in meinen Armen ist brauchbar, dann sitze ich auf der Bettkante und lasse die Beine baumeln. Patricia beobachtet mich fast teilnahmslos. Durch ihren Blick geht ein Riss, nichts wirklich Sichtbares, aber doch deutlich zu sehen, zu spüren. Ehrlich sein, hatte sie gesagt und gefordert. Ich nehme ihre infusionsfreie Hand von der Rollstuhllehne und lege sie in meinen Schoß.
»Du musst nicht reden, wenn es dir zu schwer fällt«, beginne ich. Schon spüre ich die Tränen. »Der Gips ist weg, endlich. Jetzt bekomme ich drei Mal am Tag so eine Bewegungs-Therapie. Und übermorgen darf ich sogar in den Keller. Da ist ein kleines Schwimmbad. Aber noch besser: Ich kann jetzt zu dir kommen. Du kannst dich ausruhen.« Meine Stimme versagt aus unerfindlichen Gründen. Ich streichle ihre Hand, aber viel zu schnell. Also höre ich auf und sehe sie nur noch an. Das Braun ihrer Augen hat sich verwandelt. Undurchdringlich, glanzlos, ein matter Blick. So sitzen wir, bis die Schwester wieder kommt.
Zwei Tage sehe ich Patricia nicht, darf nicht in ihr Zimmer. Zwei Tage Folter. Zwei Tage und Nächte, die aus den Ameisen Bohrmaschinen machen und mich auf jede nur erdenkliche Art malträtieren. Am Mittwoch, zwei Tage vor meiner Entlassung, kommt der junge Pfleger, Hans, und bringt einen Rollstuhl und zwei Krücken. »Komm«, fordert er mich auf. »Laurentina und die Stationsschwester haben mit dem Chefarzt gesprochen. Wir besuchen Patricia.« Ohne ein Wort zu verlieren, hieve ich mich mittels der Krücken aus dem Bett in den Rollstuhl. Wir fahren wieder durchs halbe Krankenhaus, landen aber dieses Mal auf der Intensivstation. Eine eiserne Klammer legt sich um mein Herz. Wieder eine Scheibe. Ich stemme mich aus dem Stuhl, auf die Krücken, starre ins Zimmer, das Bett, um das Maschinen stehen. In Patricias Mund mündet ein geriffelter Schlauch, in der Nase sind kleine, weiße Röhrchen. Eine Schwester notiert sich irgendwas auf einer Klemmtafel.
»Warum?«, fragte ich die Scheibe. Sie antwortet nicht. Ich drehe mich zum Pfleger. »Warum?«
Er schüttelte den Kopf. »Das weiß niemand. Das ist Krebs. Wir sind machtlos.«
»Das ist alles?«
»Von Laurentina weiß ich, dass eine Niere versagt hat, und Teile der zweiten Niere.«
Ich will mir übers Gesicht fahren mit einer Hand. Mich befreien von diesem Anblick, aber ich stehe auf diesen verdammten Krücken. Entkräftet lasse ich mich in den Rollstuhl fallen und zerbreche mit meinen Gedanken die Scheibe zwischen mir und ihr, zerbreche das Reale um uns, die Schläuche. Wir lachen zusammen über die Menge an dummen Erwachsenen.
»Willst du zurück auf Station? Wann kommt die Bewegungs-Therapeutin?«
»Nein, bitte, noch ein paar Minuten.«
»Okay. Ich hol mir einen Kaffee. Geh nicht weg.«
Wohin hätte ich gehen sollen?
Patricia liegt auf der Intensivstation. Von ihrem Bett aus verdunkelt sie die Sonne, die es kaum schafft, den Bäumen Licht für ihr Grün zu geben. Noch eine Nacht, dann ist mein Aufenthalt hier beendet, mein Fuß geheilt, stärker denn je an dieser Stelle, wie der Arzt mir versicherte. Ich kann alles tun und alles werden, was ich will. Die Welt aus den Angeln heben, wenn mich danach verlangt. Aber stattdessen fange ich an zu schluchzen, als noch vor dem Waschen der Pfarrer ins Zimmer kommt, direkt auf mein Bett zusteuert, die Hände gefaltet um eine kleine Bibel.
Zwei Tage sehe ich Patricia nicht, darf nicht in ihr Zimmer. Zwei Tage Folter. Zwei Tage und Nächte, die aus den Ameisen Bohrmaschinen machen und mich auf jede nur erdenkliche Art malträtieren. Am Mittwoch, zwei Tage vor meiner Entlassung, kommt der junge Pfleger, Hans, und bringt einen Rollstuhl und zwei Krücken. »Komm«, fordert er mich auf. »Laurentina und die Stationsschwester haben mit dem Chefarzt gesprochen. Wir besuchen Patricia.« Ohne ein Wort zu verlieren, hieve ich mich mittels der Krücken aus dem Bett in den Rollstuhl. Wir fahren wieder durchs halbe Krankenhaus, landen aber dieses Mal auf der Intensivstation. Eine eiserne Klammer legt sich um mein Herz. Wieder eine Scheibe. Ich stemme mich aus dem Stuhl, auf die Krücken, starre ins Zimmer, das Bett, um das Maschinen stehen. In Patricias Mund mündet ein geriffelter Schlauch, in der Nase sind kleine, weiße Röhrchen. Eine Schwester notiert sich irgendwas auf einer Klemmtafel.
»Warum?«, fragte ich die Scheibe. Sie antwortet nicht. Ich drehe mich zum Pfleger. »Warum?«
Er schüttelte den Kopf. »Das weiß niemand. Das ist Krebs. Wir sind machtlos.«
»Das ist alles?«
»Von Laurentina weiß ich, dass eine Niere versagt hat, und Teile der zweiten Niere.«
Ich will mir übers Gesicht fahren mit einer Hand. Mich befreien von diesem Anblick, aber ich stehe auf diesen verdammten Krücken. Entkräftet lasse ich mich in den Rollstuhl fallen und zerbreche mit meinen Gedanken die Scheibe zwischen mir und ihr, zerbreche das Reale um uns, die Schläuche. Wir lachen zusammen über die Menge an dummen Erwachsenen.
»Willst du zurück auf Station? Wann kommt die Bewegungs-Therapeutin?«
»Nein, bitte, noch ein paar Minuten.«
»Okay. Ich hol mir einen Kaffee. Geh nicht weg.«
Wohin hätte ich gehen sollen?
Patricia liegt auf der Intensivstation. Von ihrem Bett aus verdunkelt sie die Sonne, die es kaum schafft, den Bäumen Licht für ihr Grün zu geben. Noch eine Nacht, dann ist mein Aufenthalt hier beendet, mein Fuß geheilt, stärker denn je an dieser Stelle, wie der Arzt mir versicherte. Ich kann alles tun und alles werden, was ich will. Die Welt aus den Angeln heben, wenn mich danach verlangt. Aber stattdessen fange ich an zu schluchzen, als noch vor dem Waschen der Pfarrer ins Zimmer kommt, direkt auf mein Bett zusteuert, die Hände gefaltet um eine kleine Bibel.
Diese Geschichte
Entstanden im Jahr 2014. Patricia (Name natürlich geändert) wäre genau so alt wie ich. Was sie wohl für einen Beruf erlernt hätte? Welchen Weg ihr Leben genommen hätte? Niemand weiß es. Schon lange wollte ich dies aufschreiben und 2014 habe ich es endlich geschafft. Ich denke immer mal wieder an sie. Eigentlich lebt sie noch. Zumindest in dieser Geschichte. Ihrer Geschichte.