KURZGESCHICHTE | Der große Hagere steuert durch eine Menschenmasse auf mich zu, ein Glas haltend, schwankend und tänzelnd, aber doch sehr direkt. Ich schaue auf die Uhr, mehr aus Verlegenheit, und stelle fest, dass es erst 22 Uhr ist. Gerade mal zwei Stunden bin ich jetzt in meiner Stammkneipe. Allein. Bisher bestand meine Beschäftigung aus Zeitung lesen und Menschen beobachten, um mich vor einer möglichen Langeweile zu drücken. Nun ist es vorbei mit der Ruhe, vorbei mit schöner Langeweile. Mir ist nicht klar, ob ich froh sein soll oder nicht, denn der große Hagere mit dem Fuselbart und der runden Nickelbrille, visiert mich an. Sein Blick verrät, dass die Angelegenheit pathologisch werden würde. Um nicht gänzlichst unvorbereitet zu sein, präge ich mir alle sichtbaren Merkmale ein. Das Alter ist schwer zu schätzen, vielleicht um die 33. Er hat meine Größe, einen unsteten Blick und sicher mehrere Gläser intus. Betrunkenheit sieht man den Leuten genau an. Sie gehen dann sehr bewusst; zu bewusst, denn sie wollen nicht auffallen. Genau das macht sie dann auffällig.
Ich bin alleine am Stehtisch, habe eine Tasse Milchkaffee vor mir und harre der Dinge, die so unausweichlich auf mich zukommen. Der Große erreicht mich, stellt sein Glas ab, rückt einen Hocker zurecht, setzt sich drauf und schon geht es los.
»Nabend. Iss ja unmöööchlich voll hier, oder?«
»Tja, so isses.«
»Na, also, ich meine, wenn es dir nicht recht ist, dann gehe ich wieder. Ich will ja nicht aufdringlich sein.« Er fixiert mich aus seiner sitzenden Haltung heraus, mit nach vorn geneigtem Kopf. Die Augen schielen über den oberen Brillenrand.
»Schon gut«, gebe ich nach und suche verzweifelt den Blickkontakt zu Lydia, der Wirtin, die kreist, um Bestellungen entgegenzunehmen. Mein Milchkaffee neigt sich dem Ende zu. Es funktioniert. Sie stelzt an den Tisch. »Lydia, mein Stern …« Ich zwinkere ihr zu.
»Wenn du das so sagst, könnte ich mich immer totlachen.«
»Lieber nicht, wäre ja schade drum. Bring‘ mir bitte noch einen Milchkaffee.«
Der Große setzt den halben Liter Alt an, zu schnell, wie sich herausstellt. Ein knappes Viertel des dunklen Gebräus schwappt ihm übers Hemd. Lydia sieht die Bescherung, lacht schrill und stelzt davon.
»Scheiße!«, sagt der Große. Er greift in die Innentasche seiner Strickjacke, holt einen braunen Geldbeutel hervor, fingert darin herum und fördert einen alten Personalausweis zutage, in dem tatsächlich noch ein Hinweis auf den Paragraphen 51 aufgeführt ist. Unzurechnungsfähigkeit. Besser kann der Abend ja kaum noch werden. Lydia jongliert mit meinem Milchkaffee durch die Massen, stellt ihn auf den Tisch und vollführt einen gelungenen Augenaufschlag.
»Danke, Lydia, mein Stern…«
Sie lacht schrill.
»Gott, was ’ne Lache«, sagt der Große. Da muss ich ihm beipflichten. Er beugt sich zu mir und zeigt mit dem Finger auf die zwei jungen Frauen links von uns am ersten Tisch. »Schau mal, die zwei Dosen neben uns, wie findest du die?« Ich lehne mich nach hinten und folge dem Finger. Zwei Frauen unterhalten sich angeregt, beide ein Glas Sekt vor sich.
»Sehe ich. Was ist mit ihnen?«
»Na, du siehst mir doch aus wie ein Mann, der nicht lange fackelt. Die zwei graben wir jetzt an oder was sagst du?«
»Nein, danke, keinen Bedarf.«
»Warum nicht?«, fragt er und weicht zurück. »Bist du … bist du etwa schwul?«
»Und wenn ja? Was dann?«
Ein Bierdeckel kommt angesegelt, fliegt gegen das Gemälde, das zwischen uns und den zwei Frauen an der Wand hängt und purzelt zu Boden.
»Was war das?«, fragt der Große.
»Ein Bierdeckel.«
»Ich weiß nicht, warum Leute Bierdeckel werfen. Wer war das?«
»Der Mann hinter der Theke.«
»Na gut«, sagt er und nickt anerkennend. »Weißt du, ich habe nicht nur den Graph, kleines Wortspiel, nein, ich bin auch jeck im Kopf.« Erwartungsvoll blickt er mir in die Augen und ich ihm. Plötzlich kreuzt ein Kronkorken unser Blickfeld und poppt gegen den Zeitungsständer, fällt zu Boden. Der Große und ich sehen uns immer noch in die Augen.
»Warum macht der das?«, will er wissen.
»Es macht ihm Spaß. Du siehst, Verrückte gibt es genug und du bist keine Ausnahme.«
Er schaut enttäuscht und besinnt sich auf einmal seiner ursprünglichen Absicht, beugt sich noch weiter zu mir, so dass sein rechter Strickjackenkragen in meinem Milchkaffee landet und sagt: »Also, jetzt graben wir die zwei Schnecken an, los!«
»Ich hab‘ dir doch schon gesagt, dass ich keinen Bock habe.«
»Aber warum denn nicht ? Die sehen doch süß aus.«
»Ich schätze, die beiden wollen das nicht. Warum auch? Und ich will das auch nicht. Lass es gut sein.«
»Na, pass mal auf. Ich zeig‘ dir jetzt, wie das geht.«
Er schnappt sich das Bier, trinkt noch einen kräftigen Schluck und stellt sich an den anderen Tisch, stellt das Glas ab und sieht beide Frauen abwechselnd an. Sie unterbrechen ihr Gespräch, die ersten Fragezeichen über ihren Köpfen kann ich schon sehen.
»Ladys! Guten Abend. Sie haben die große Ehre, den einzigen Mann kennenzulernen in dieser Stadt, der noch einen Paragraph-51-Stempel in seinem Ausweis hat. Na, was sagt ihr dazu?«
Die Dunkelblonde seufzt. Als sie zu einer Entgegnung ansetzt, segelt ein Bierdeckel gegen ihre Stirn. Wir schauen alle zur Theke, von wo eine Art Bierdeckel-Staffel angeflogen kommt, mehrere Gäste trifft. Lydia verpasst Toni, dem Mann an der Zapfanlage und Bierdeckel-Pilot eine heftige Kopfnuss. Der Große steht auf und klatscht kräftig Beifall. Der Abend entwickelt sich besser als anfangs geglaubt. Ich nutze die Gelegenheit der Ablenkung und beuge mich zum rechten Ohr der Dunkelblonden.
»Danke dafür, dass ihr mir den Spinner abnehmt. Sehr nett von euch.«
Sie dreht den Kopf. Grüne Augen und Sommersprossen. »Du kannst uns ja ein bisschen unterstützen, wie wär’s?«
»Ich glaube nicht. Meine Motivation ist im Keller.«
Schulterzucken. »Dann nicht«, erwidert sie und dreht sich weg, während der Große ihrer Freundin, einer Schwarzhaarigen, davon erzählt, dass er als Steuerberater sehr viel Geld verdienen würde, aber immer wieder Ärger hätte mit dem Paragraph 338 im Bürgerlichen Gesetzbuch. Das notiere ich. Paragraph 338 im BGB. Morgen werde ich nachschauen, was da steht. Jetzt jedoch kommt Lydia am Tisch vorbei.
»Lydia, mein Stern. Wie wäre es mit einem Southern-Cola?«
Sie lacht schrill und hebt den rechten Daumen. Ich schaue zum Nachbartisch. Der Große hat es gerade von Alkohol am Steuer, entwickelt daraus aber ein unglaublich kompliziertes Wortspiel, das sich auf Alkohol bei der Steuer bezieht. Keiner kann ihm folgen. Doch das irritiert den alkoholisierten, unzurechnungsfähigen Steuerberater nicht im Geringsten. »Passt mal auf«, beginnt er. »Wie nennt man das Geschlechtsteil einer Nonne?« Die beiden Frauen blicken sich überrascht an und das Gesicht des Steuerberaters spannt sich in freudiger Erregung. Mein Southern kommt. Die beiden Frauen wissen die Lösung nicht. Ich auch nicht. Das ist des Großen Moment. Er beugt sich weit über den Tisch, öffnet den Mund, ein kleiner Speichelfaden zieht sich von Ober- zur Unterlippe. In dem Moment, als der Speichelfaden infolge Überdehnung reißt, sagt er: »Christstollen.«
Keine Reaktion von den beiden Frauen.
»Guter Witz, was?!«
»Geht so«, sagt die Dunkelblonde.
»Was?! Hat er euch nicht gefallen?«
Groß und verrückt wie er ist, blickt er doch ganz traurig an die Decke und murmelt etwas Unverständliches in seinen Fuselbart. Er ist wie weggetreten, als hätte irgendwo jemand das Stromkabel durchgeschnitten oder die Sicherung rausgedreht. Er senkt den Kopf und fängt an zu weinen. Ein schrilles Pfeifen malträtiert alle in der Kneipe. Wir halten uns die Ohren zu.
»Raus!«, ruft Toni. »Alle raus!« Lydia rennt kreischend in die Küche, die Schwingtür kracht gegen den Kühlschrank. Wie ein Fächer gegen zu große Hitze, pumpt die schwingende Küchentür den Rauch aus dem hinteren Teil. Lydia kommt wieder. »Alle raus!«, ruft sie und wedelt mit beiden Armen. »Die Küche brennt!«
Tatsächlich. Es riecht ziemlich nach verbranntem Plastik und Papier. Es dauert nur noch einen Lidschlag, dann hat die Meute kapiert, um was es geht. Sie stürzen Richtung Ausgang. Gläser fallen, Flaschen, jemand rutscht auf dem schnell nasser werdenden Fliesenboden aus. Die beiden Frauen sind fix und ich suche nach Flammenzungen oder flackerndem Leuchten. Ein heller Kopf kommt auf den Gedanken, die Seitentür zu öffnen. Immerhin verteilt sich so die Masse. Ich mache mich auf den Weg. Mit dem letzten Schritt höre ich das Prasseln aus der Küche. Dann fällt mir der Große ein und drehe mich um. Er sitzt noch am Tisch und weint. Ich gehe zurück, packe ihn am Kragen und ziehe ihn mit nach draußen. Er lässt sich führen wie ein abgerichtetes Hündchen. Gegenüber an der Hauswand stelle ich ihn ab. Jemand hat die Feuerwehr gerufen. Die Leute sortieren sich, quatschen wie wild durcheinander.
»Gott hat uns ein Zeichen geschickt«, sagt der Große und ist wieder hellwach. »War ich das? Habe ich die Flammen entzündet? Mit meinen Gedanken?« In seinen Augen flackert es sonderbar.
»Mach dir keinen Kopf. Das ist nur die Ofenpizza!«, erwidere ich. Das blaue Licht der Feuerwehr malt die alten Häuser schön an. Sie biegen um die Ecke, halten. Wir müssen alle weichen, auf die Hauptstraße. Als ich mich umdrehe, den Großen packen will, ist er weg.
»He! Wo ist der Große hin?«
Einige sehen mich an, als wäre ich der Verrückte hier. Weit und breit nichts zu sehen. Der Erdboden hat ihn verschluckt. Irgendein Paragraph hat ihn geholt.
»So machen Sie doch endlich Platz!«, fordert ein Feuerwehrmann.
»Ich will eh nach Hause«, entgegne ich. »Bezahlen tu ich morgen.«
Diese Geschichte
Im Jahr 1993 geschrieben. Im Laufe des Lebens trifft man allerhand verrückte Menschen und sonderbarerweise passieren mit ihrem Erscheinen hin und wieder verückte Dinge. Zufall gibt es nicht, sagen die Quanten, nur eine mehr oder weniger hohe Wahrscheinlichkeit. Also die Wahrscheinlichkeit für diese Situation war aus meiner Sicht sehr gering, aber Ihr wisst ja: Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder verstorbenen Personen ist rein zufällig. Inzwischen habe ich den Text mehrfach überarbeitet. Vor allem in die Gegenwart geholt. Ich finde, der Kontakt zu den Leser:Innen ist auf diese Art intensiver.