Wahn und Wirklichkeit / 1

Filme, Serien, Verschwörungen, Politiker und die Realität

Wie verbreitet sich eine Idee? Also in den 70ern haben wir uns freitags im ZDF immer ‚Der phantastische Film‘ angesehen. Und natürlich musste die ARD mitziehen. Sie brachte in der Reihe ‚Science Fiction‘ zweimal im Monat samstags um 22 Uhr echte Klassiker, darunter den nach wie vor hochaktuellen „2022 – die überleben wollen“, mit Charlton Heston. Ende der 70er, Anfang der 80er, bevor das Unheil der Privaten über uns hereinbrach, waren aus meiner Sicht die Glanzzeiten des Fernsehens. Weltspiegel, Auslandsjournal, Monitor, Autorenfilme von Schlöndorff oder Fassbinder. Ein Traum. Und echtes Bildungsfernsehen. Na gut, was haben wir Jungs also damals gemacht? Salzstangen, Erdnüsse, Chips und jede Menge Bacardi-Cola, Filme geguckt und drüber geredet, über ‚1984‘ oder ‚Fahrenheit 451‘ oder ‚Angst essen Seele auf‘. Danach kam das Thema auf den Eisernen Vorhang, die Sowjets, Mehrfachsprengköpfe, Petting statt Pershing und dann kamen wir zu den Mädels. Am Ende aber, kurz vor dem Einschlafen, mussten wir noch einmal an die Filme und unsere Diskussion denken. Was hatten wir gesehen? Und wie unterscheidet sich das Gesehene von der Welt da draußen? Telefon mit Wählscheibe. Drei TV-Sender. Radio. SWF3, Frank Laufenberg stellt coole Musik vor.

Wir lebten

Wir lebten in der realen Welt. Und tauchten wir einmal ab in das Phantastische, das (Un)Denkbare, wussten wir doch, woher wir kamen. Aus dem realen Leben. Mit all seinen Fehlern und Schönheiten. Und diese Fehler und Schönheiten gab es überall. In der KPdSU ebenso wie im Westen. In Fernost ebenso wie in Nahost. Wir wussten auch, dass die CIA Pinochet ermöglichte, dass Apartheid in Südafrika scheiße ist und dass manch Alte mit ihren Sprüchen (Mach doch rüber, wenn es dir hier nicht passt!) mit mindestens einem Fuß noch in ihrer Naziwohnung lebten. Wir wussten, dass Arafat und die Israelis es nur schafften, wenn jeder den anderen so akzeptierte, wie er war. Wir wussten, dass manche unserer Lehrer Nazis waren und die FDP ebenjene aufgenommen hat nach dem Krieg. Alles war Realität. Nichts war Fiktion oder Verschwörung. Natürlich traf man hin und wieder christliche oder andere Fundamentalisten, Flacherdler, Esoteriker, in Orange gekleidete Bhagwan-Buchverkäufer und Hippies aller Art mit bunten VW-Bussen und jeder Menge Gras im Reservereifen. Selbst Ali unten im Gemüseladen sagte immer: „Mein Jott, wat für ne Spinner.“ Wir schafften es immer, in die Realität zurückzukehren. Denn wenn wir diese Menschen hinter uns ließen, erreichten ihre Botschaften uns nicht mehr. Bücher musste man nicht kaufen. Im Fernsehen kam der Quatsch nicht. Höchstens Däniken schaffte es mal auf einen Sendeplatz, aber danach war Abendessen und Handballtraining. Danach diskutierten wir darüber und stellten fest: Morgen ist Schule und die Sabine ist ein heißer Feger. Wir waren geerdet.

Das Multiversum der Botschaften

Das hat sich geändert. Radikal. Nichts ist mehr so, wie es war. Die Geschwindigkeit von Veränderung hat sich mehrfach potenziert. Und überall sind die Botschaften. Auf Twitter, Instagram, Mastodon, Gab (rechtes Netzwerk), TikTok, Snapchat, WhatsApp, Facebook, Telegram. Alle Botschaften laufen unzählige Male hin und her, hochgradig vernetzt, vom einen erweitert um dies Gerücht, von der anderen als Fakt von der Freundin einer Cousine, deren Tante schon mal was gelesen hat, ins Netz gestellt. Unumstößliche Wahrheiten allenthalben und wesentlich mehr, als es überhaupt Wahrheit gibt. In diesen Moloch aus Verbreitung, stoßen Filme und Serien von Fox, HBC, Netflix, Amazon Prime, Disney+ und wie sie nicht alle heißen. Und ein Großteil der Serien MUSS sich verkaufen. Und was verkauft sich besser als Verschwörung? House of Cards, Matrix, Deep State, Blacklist usw. Filme und Serien, die das Potential des Menschen, an Verschwörungen aller Art zu glauben, in höchstem Maße nutzen, gibt es wie Sand am Meer. Doch anders als wir damals, die sich einen Film ansahen, danach diskutierten und das wars, hat aus irgendeinem Grund die soziale und emotionale Deprivation zugenommen und die Menschen suchen sich Gleichgesinnte im Ozean des Internets, im Sumpf der Sozialen Medien. Sie wachen nicht mehr auf, finden nicht mehr den Weg in die reale Welt. Und nach einer gewissen Zeit, wird ihre Gedankenwelt zur Realität. Leben in einer Sackgasse, die gleichzeitig Einbahnstraße ist. Alles was von außerhalb kommt, findet nicht mehr den Weg dort hinein – oder wenn, dann kann es nur falsch sein. Ein Fake. Realitätsverlust, Hunger nach dem, was nicht sein kann, der Verschwörung, dem zündenden ‚ich hab es schon immer gewusst‘-Effekt. Plötzlich sieht man überall passende Sätze, Zeichen, Symbole, Geschehnisse. Fäden werden gesponnen, wo es in tausend Jahren keinen Zusammenhang gab und gibt. Und nun wird es fatal: die Politik macht sich das zunutze. So wird bestätigt, was vorher nur Verschwörung war. Nicht gehört zu werden, verstärkt den Außenseiter-Trotz umso mehr.

Der Untergang der Realität

Das Perfide: Die Melange aus Deep State-Quatsch, QAnon-Mist, Esoterik, Verschwörung allenthalben ist als Rezeptur geeignet, Wahlen zu beeinflussen, direkt und unmittelbar. Demokratien zu unterminieren. Familien zu zerstören. Chaos zu produzieren. Etwa: Die Unwetterfronten in NRW und RLP wurden erzeugt, gesteuert, um die Umvolkung zu beschleunigen. Hauptsächlich zwei Sorten von Menschen produzieren solche Idiotien:
1. die bewusst Lenkenden und
2. die unter Selbstsucht und Aufklärungswahn leidenden Paranoiker.

Zu 1: Die bewusst Lenkenden
Darunter fallen solche Menschen wie Friedrich Merz oder Hubert Aiwanger, aber auch der Führungstrupp der AfD. Allerdings gibt es unter den Lenkenden ein unsichtbares Levelsystem, ähnlich einem Computerspiel. Deutsche Politiker gehören auf jeden Fall NICHT zu den Endgegnern. Immerhin: mit der Verbreitung, dem dauernd am Kochen halten von Schwachsinn, verfolgen diese als Politiker auftretenden Menschen genau EIN Ziel: Angst schüren/verbreiten, Unsicherheiten bei labilen Menschen verstärken, also Wähler für sich zu gewinnen – oder zumindest Nichtwähler zu generieren. Die wirklichen Verursacher/Anwender dieser Taktik, die Hebammen der Verschwörungen, kann man auf eine relativ geringe Anzahl eingrenzen. Aber sie nutzen die Sozialen Medien, die Privatkanäle, die Möglichkeiten des digitalen Zeitalters wie Weltmeister. In dieser Disziplin sind sie allen anderen überlegen. Das muss man mal so sagen. Und sie sind vernetzt. Und sie haben Geld. Eine Menge. Ihre Strategien sind ausgereift, ausgefeilt und sehr flexibel. Ihr Tun folgt immer einer Agenda. Auch wenn sich Gruppierungen unter ihnen nicht so mit anderen Gruppierungen verstehen, gibt es gemeinsame Schnittmengen(-personen), die die Zusammenarbeit effektiv machen. Da denken wir an die Kohlebergbaubetreiber (unter anderen) als Geldgeber für Thinktanks gegen die wissenschaftlichen Studien zum menschengemachten Klimawandel bzw., die Verunglimpfung des IPCC und der vielen tausend Wissenschaftler weltweit. Und diese Thinktanks bestehen wiederum aus Menschen mit nationalkonservativem und/oder neurechtem Hintergrund, die bspw. auch diesen Leugner-Verein E.I.K.E. unterstützen, indem dann wieder Menschen aus der AfD reüssieren, denen Klima egal ist, aber was gegen die Umvolkung tun wollen usw. usf., und als Lautsprecherwagen und Verkünder tauchen dann die Medienzaren der Verschwörung auf, etwa Oliver Janich oder Ken Jebsen oder Samuel Eckert. Zwischen diesen einzelnen Zentren der Verschwörungsgläubigen wandern dann die Themen je nach momentaner politischer Lage hin und her, werden angepasst, neu formuliert, mit einem anderen Kontext versehen, und am Ende … weiß kaum noch einer der Zuhörer:innen, was eigentlich so passiert, real ist oder Fake. In diesem Universum an erschaffener, künstlicher Unsicherheit, braucht es nur noch einen Kulminationspunkt, und schon haben wir die Scheiße. Genau die Scheiße, vor denen die Verschwörungstrottel:innen Angst haben. Dass nämlich ihre Welt zugrunde geht. Dass sie dabei selbst am meisten beteiligt sind, ist jenseits ihrer Realität.

Zu 2: die unter Selbstsucht und Aufklärungswahn leidenden Paranoiker
Ach ja, die hätte ich fast vergessen. Für die gibt es Tabletten.

Viele Politiker sind sich für nichts zu schade

In Zeiten schwindender Mehrheiten und der Transformation von ehemaligen Volksparteien zu Fanclubs eines Drittligisten, sind Politiker geradezu zwanghaft bemüht, aus dem ganzen Mist Kapital zu schlagen. Ihre politische Daseinsberechtigung ziehen sie nicht mehr aus klaren, abgrenzbaren Utopien (einen Fahrplan dorthin mit eingeschlossen), sondern nur noch aus Diffamierung und verbalem Ätznatron, Teile von Verschwörungsquatsch mit eingebaut. Nicht die Politik ist in einer Krise oder die Demokratie, nein, die Politiker sind in einer Krise und spülen dadurch das ganze politische System die eigene Toilette hinunter. Und es ist ihnen nicht mal bewusst. Offenbar gehen wirklich nicht die Klügsten in die Politik. Was Politiker:innen aber wirklich drauf haben: sich von Lobbys die Butter aufs Brot streichen zu lassen. Und da wären wir wieder beim Kohlebergbau, Energieunternehmen, dem Bauernverband, der Automobilindustrie. Es ist ja nicht so, dass man mit anderen Produkten KEIN Geld verdienen könnte. Klar kann man. Aber solange es mit der Technik aus dem vorvorigen Jahrhundert noch geht, ziehen wir es durch. Für alles Neue muss man ja erst mal investieren. Da geben diese Leute sich die Hand mit den Politikern. Die sind auch nicht so für das Neue. Manchmal ist sogar der Name Programm (Altmaier). Und leider haben Politiker noch was mit dem Thema gemein: sie leben in ihrer eigenen Realität. Also weit hinterm Mond. Die Frage ist ja nicht mehr: Wer hat das Haus angezündet? Die Frage ist vielmehr: Wie kommen wir da raus? Zurück in die Realität. Dorthin, wo wir klar denken können.

Anmerkung
Falls es nicht ganz klar ist. Der Text oben ist Meinung.

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