KURZGESCHICHTE | Jauchzen und Kreischen. Nichts was gefährlich ist. Nur Spaß. Für die vielen anderen. In meinem Kopf existiert nur ein Bild. Petra. Schiebe ich es beiseite, kommt es zurück, mit Federn an den Wandungen meiner Schädeldecke fixiert. Selbst die Augen öffnen und all die schönen Mädchen im Freibad beobachten, bringt nichts. Kein noch so spannender Badeanzug, keine noch so schillernden Augen, sind in der Lage, Petras Abbild in den Orkus meiner Erinnerungen zu verdrängen.
»Denkst du schon wieder an Petra?«
»Tu ich.«
»Aber sie wohnt nun mal nicht mehr hier. Weg ist weg. Andere Väter haben auch schöne Töchter, sagt meine Mutter immer.«
»Verschon mich mit deiner Familie.«
»Ja, ich weiß ja …«
Hätte ich so eine Familie wie Horst, wäre entweder ich tot oder seine Familie. Horst zieht es vor, zu schweigen und ich öffne die Augen. Petra muss da weg. Ich kann kaum an ihr vorbeischauen, kaum die Welt sehen. Kaum die Menschen im Freibad oder das Licht der Sonne, wie es durchs Dach aus Ahornblättern über uns bricht. Horst lehnt auf den Ellenbogen und lässt den Blick umherschweifen. Manche sagen, wir sehen uns ähnlich. Dunkelbrauner Lockenkopf neben hellbraunem Lockenkopf. Rasieren müssen wir uns auch. Nur dass ich einen Kopf größer bin.
»Heute Abend ist Fete bei Andi. Hast du schon ne Flasche Bärenfang besorgt?«
Eine Flasche Bärenfang? Ich schaue zu Horst. »Wieso Bärenfang? Wer trinkt denn Bärenfang? Pappsüßes Zeug.«
»Die Mädels und Andi.«
»Ich habe Jack Daniels organisiert.«
»Auch gut«, stellt Horst fest. »Wann gehen wir?«
»Ich hole dich um acht ab.« Er nickt zu drei Mädchen, die gerade angekommen sind, sich vier Meter vor uns ausbreiten, Badetuch auslegen, zwei Flaschen Sinalco dabei, reden, lachen, ausziehen, Badeanzüge und Bikini schon unter den Klamotten. Keine von ihnen kann es mit Petra aufnehmen.
»Was war das mit dir und Petra?«
»Wie meinst du das?«
»Na, warum sie? Warum hängst du nach einem halben Jahr immer noch an ihr? Weil sie einfach weggezogen ist und ihr euch nie wirklich getrennt habt?«
Tief Einatmen. Ich rieche Sonnenmilch. Langsam ausatmen. Ob Horst das, was ich dazu sagen kann, nachvollziehen kann, weiß ich nicht. Er fährt manchmal mit dem Schlitten über den Tiefschnee und bekommt das nicht mal mit. Dafür weist er mit einem Kopfnicken und hochgezogenen Augenbrauen auf eines der Mädchen. »Die sieht doch wirklich gut aus, finde ich. Und hat ein liebes Gesicht.«
»Aber ne schreckliche Stimme und ein grausames Lachen, Horsti.«
»Du meinst, das ist wichtig?«
Nicht sicher, ob er mich auf den Arm nehmen will, schweige ich. Horst hatte noch nie eine Freundin. Zumindest keine, von der ich weiß. Er redet immer nur drüber. Zwei Mal habe ich mitbekommen, dass Mädchen sich ihm auf weniger als einen Meter näherten, aber er hat sie mit rotem Kopf stehen lassen. Muss ja nicht sein, haben wir anderen gesagt. Wird schon noch. Er legt sich wieder hin, Hände auf der Brust gefaltet. Ich greife in die Tasche nach einem Buch, das ich heute bei 2001 gekauft habe. Bukowski. Gedichte die einer schrieb, bevor er im 8. Stock aus dem Fenster sprang. Die richtige Lektüre für einen Nachmittag im Freibad.
Ich bin zu früh. Leider, aber daheim war dicke Luft. Nur das Übliche. Papa schon angetrunken zum Mittagessen gekommen, mit Blumen. Je größer der Strauß, desto schlechter das Gewissen und umso mehr Bommerlunder waren es. Jetzt will er mit Mutter auf einen Grillabend, immer noch unter Strom, und Mutter weiß, wie das endet. Na ja, nicht meine Baustelle. Allerdings bei Schmidtkens klingeln und aufschlagen, ist so was wie vom Regen in die Traufe kommen. Horstis Vater öffnet. Seine Erscheinung erinnert mich immer an ein geknicktes Streichholz. War mal Baggerfahrer, dann Bandscheibenvorfall, drei der Söhne Totalausfälle und seine Frau kann ihn unter den Arm klemmen. Er schaut nur, lässt mich vor der Wohnungstür stehen und schlurft in die Küche. Ein deutliches Zischen ist zu hören. Gaffel Kölsch. Ohne Zweifel. Ich trete ein in den dunklen Flur. In die Wohnungstür sind senkrechte Glaselemente eingelassen, von einem schmutzig-grünen Vorhang bedeckt, den ich zu berühren vermeide. Trotz zweier Lampen, herrscht im Flur stets Dämmerung. Ich tippe auf die Tapete. Barockes Muster, oliv bis braun, von Nikotin eingefärbt. Sie schluckt alles Licht. Und vielleicht auch alles Leben. Es gibt sie überall. In jedem Zimmer. Nur in der Küche unterbrochen von braun lasierten Nut- und Federbrettern, Schichten von Frittierfett oben drauf.
»Nabend«, sage ich anstandshalber und setze mich Horstis Vater gegenüber.
»Auch en Gaffel?«
»Warum nicht. Kann ja nicht schaden.«
Sie haben den Kühlschrank auf ein Arrangement aus Kalksandsteinen gestellt, damit Horstis Vater trotz Bandscheibenvorfall jederzeit nahezu schmerzfrei eine Flasche herausholen kann. Eiskalt. Er öffnet und stellt sie vor mich.
»Danke.«
»Mh.«
Große Schlucke und Schweigen. Rauchen hat der Arzt ihm verboten. Es sind Manfreds Zigaretten, die auf dem Tisch liegen. Manfred ist zuhause. Ich seufze schwer und ziehe das Gaffel halb leer.
»Guter Zug«, sagt der Baggerfahrer.
»Danke. Schmeckt auch. Schön kalt.«
»Muss. Scheiß Hitze draußen.« Er kippt den Rest der Flasche in sich hinein, holt Doornkaat aus dem Kühlschrank, greift über sich ins Regal, packt zwei Schnapsgläser, ohne hinzusehen, und füllt sie bis zum Rand.
»Hier. Für dich.«
Ich hasse Doornkaat. Ich hasse Klaren. »Danke«, sage ich und leere das Mistzeug sofort, ohne einzuatmen. Mir soll nicht schlecht werden. Gleich Gaffel hinterher. So ist es erträglich. Er will nachschenken.
»Für mich nicht mehr, danke. Muss ja noch auf ne Fete.«
»Zeig dem Jungen nicht, wie man säuft. Kommt er noch früh genug drauf.« Horstis Mutter. Sie nimmt ihrem Mann den Doornkaat weg und stellt ihn zurück in den Kühlschrank. »Setz dich ins Wohnzimmer. Ich will Essen machen.« Wir stehen auf. »Du nicht, Heinrich! Du kannst mir helfen. Kartoffeln schälen kannste doch, oder?« Horstis Vater schleicht aus der Küche. Ich bekomme Schäler und eine Papiertüte Kartoffeln. Sie schließt die Tür und kramt zwei Schüsseln aus dem selbst gezimmerten Unterschrank. »Ich muss mit dir reden«, offenbart sie. Auch die Küchentür besteht hauptsächlich aus Glas. Gelbes Milchglas. Ganz schrecklich. Hoffentlich muss ich Manfred nicht sehen. Sie passt kaum zwischen Wand und Tischkante, quetscht sich aber hinein. Das Edeka-Haushaltskleid, ärmellos, spannt und wirft seltsame Falten. »Horst geht es schlecht, und ich weiß auch warum«, beginnt sie.
»Wir waren aber nicht in der Sonne. Wie versprochen.«
»Davon rede ich nicht. Fang an zu schälen.«
»Mach ich ja schon.« Ich blicke zur Tür. »Ist Manfred da?«
»Ist da, aber ich habe ihn zu Famila geschickt mit der Kreidler. Speckwürfel und Zwiebeln holen.«
»Und wo ist Horst?«
»In seinem Zimmer. Dem geht’s nicht gut. Fang an.«
Ich fange an. Im Schälen von Kartoffeln bin ich ungeschlagen. Augen raus, beidseitig die Enden, dann den Rest an einem Stück. Verloren hat man, wenn die Schale reißt. Keine Ahnung, was sie mir sagen will. Horsti geht es nicht gut … was soll das sein? Magen-Darm? Das wäre fatal.
»Ich beobachte das schon lange.«
»Was?«
»Na, wie er dich ansieht.« Für einen Atemzug stoppe ich das Schälen, schau sie an. Dann mache ich weiter.
»Wir sehen uns immer an. Schließlich sind wir jeden Tag zusammen. Sitzen in der Klasse nebeneinander …«
»Er hat gesagt, du wärst nicht mehr mit deiner Freundin zusammen?« Ich schließe die Augen. Musste das jetzt sein?
»Stimmt. Die Familie ist umgezogen nach Hannover.«
»Scheiße«, sagt sie und rupft Kohlblätter vom Strunk. Eines nach dem anderen. Dann zieht sie die Nase hoch. Es schüttelt mich. »Schon mal überlegt, warum Horst sich nicht für Mädchen interessiert?«
»Tut er nicht?«
»Nein. Er interessiert sich für dich. Noch nicht gemerkt? Typisch Männer.« Die Kartoffel fällt aus meiner Hand. Ich lehne mich zurück. Der Stein ist geworfen, platscht in den See. Langsam entstehen konzentrische Kreise, mehr und mehr, und bringen Unruhe in meinen Gedankensee. »Und jetzt hör mir mal genau zu«, sagt sie und legt den leeren Strunk auf den Tisch. »Mir scheißegal, wen oder was mein Sohn Horst liebt, aber wenn Manfred das mitbekommt, gibt es hier Tote. Du weißt, er ist ein Idiot.«
»Weiß ich.« Mehr fällt mir nicht ein.
»Und jetzt schäl weiter!«, kommt die Anweisung.
Wir sind weg, bevor Manfred kommt. Kartoffeln sind geschält, werden in diesem Moment geraspelt. Mit fein geschnittenem Kohl zu Reibekuchen geformt und frittiert. Kochen kann sie. Wenn es nur nicht immer so fettig wäre … Horst schweigt. Ich bin still. Warum hat seine Mutter ihm gesagt, dass ich es weiß? Jetzt liegt es wie ein Klotz zwischen uns. Dankbarerweise sind wir bald bei Udo, klingeln und beim Eintreten wird klar, wie der Abend verlaufen wird. Die Fete findet nicht im Keller statt, wie angekündigt, das ganze Haus ist schon unter Beschlag genommen. Udos Eltern sitzen in ihrem Strandhaus in Oostende. Sieben Autostunden entfernt. Selbst wenn die Hütte brennt und jemand sie benachrichtigt, werden sie es nicht mehr rechtzeitig zurück schaffen. Horst geht irgendwohin. Weg von mir, habe ich den Eindruck. Ich öffne den mitgebrachten Jack Daniels, verteile zwei Drittel an die Anwesenden und fülle das letzte Drittel mit Cola auf. Meine Flasche. Das Haus ist mondän. Eine Band spielt im Wohnzimmer. Dem Zusammenspiel nach zu urteilen, haben sie die Instrumente erst zu Weihnachten bekommen. Horst bleibt verschwunden. Ich suche Udo, finde ihn in der Küche, neben seiner Schwester, einem Schwert, wie ich finde. Leider unterbelichtet.
»Heinrich! Du kannst mir helfen!« Er steht vor der Kücheninsel, sticht Teig mit Förmchen aus. »Leg mal bitte die Dinger auf die Backbleche, ne Alufolie drüber und ab in den Ofen. Fünfzehn Minuten.«
»Okay.«
»Dagmar! Kipp den Rest in den Teig! Wir wollen ja noch fertig werden heute!« Dagmar kichert und nickt. Wie in der Weihnachtsbäckerei, Abstand zwischen den Plätzchen, da der Teig noch aufgeht. Das erste Blech schiebe ich in den Ofen, schau auf die Temperatur. 180 Grad, das ist bei Mutter ebenfalls so, wenn sie Plätzchen backt, also kann es hier nicht falsch sein. Vom Eingangsbereich kommt Geschrei, Gejohle, antreibendes Klatschen. »Was machen die da? Geh mal nachsehen, Dagmar!« Dagmar ist wie ein Schoßhündchen. Sie hebt die teigverschmierten Hände in die Höhe und lugt durch die Tür.
»Die wollen sich abseilen«, sagt sie. Udo hebt den Kopf und runzelt die Stirn.
»Wer will sich abseilen? Und wo?«
»Erich und Rainer. Vom Treppengeländer.« Wir sehen uns an, gehen zur Tür, schieben Dagmar auf die Seite und sehen die Segeltaue von Udos Vater vom Geländer herabhängen. Erich bindet Rainer das Tau um Brust und unter die Achseln. Es ist eine Freitreppe und das obere Stockwerk ist wesentlich höher als in normalen Häusern. Sicher um die vier Meter. Die Meute feuert Rainer an, der sich loslässt. Das Tau hält. Er macht eine gute Figur. Wie im Film. Dann lösen sich die Bolzen des Geländers. Es gibt nach, kippt ein Stück, die Meute johlt und Udo rennt los. Auf der Hälfte seines Weges kippt der obere Teil der Konstruktion, Schrauben reißen aus dem Holz. Die Treppenabschnitte bleiben stehen. Das obere Stück rauscht samt Rainer nach unten. Er fällt auf eine Recamiere, Holz und Metallstangen zerschmettern zwei Baumarktvasen in denen Trockenblumen stehen. Der Applaus ist frenetisch, Rainer steht auf, erstaunlich unverletzt, nimmt einem Mädchen den Bacardi aus der Hand und trinkt einen großen Schluck. Mir fallen die Kekse ein. Dagmar steht an der Insel und bröselt alles Kief in den letzten Teig. Sie zwinkert mir zu.
»Ich hab gehört, deine Freundin ist weg?«
»Da hast du richtig gehört.«
»Wollte sie nicht mehr?«
»Sie hat dauernd im Schach gewonnen und wollte mich nicht ewig demütigen.« Dagmar lässt den Brocken fallen. Er versinkt im Teig. Meine Erklärung arbeitet in ihr, trifft aber auf keinen nennenswerten Widerstand. Von den letzten Keksen sollte ich jedenfalls keine essen. Ihr kann man alles erzählen und darauf wetten, dass davon kein Buchstabe auf dem anderen bleibt. Aus Winter wird Sommer und aus Liebe Mord. Ich grinse sie an.
Udo stöhnt, die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen. »Wo soll ich denn jetzt schlafen?«
»Schick Dagmar in die Garage und nimm ihr Zimmer«, schlage ich vor und ziehe Horst aus den Trümmern von Udos Bett. Er weiß nicht, was geschieht, tut aber das, was ich von ihm will.
»Im Turmspringen bin ich sehr gut«, merkt er an.
»Mein Bett ist aber kein Freibad«, sagt Udo und steckt sich einen Keks in den Mund. Wir gehen nach unten, Horst zwischen uns. »Bring ihn nach Hause. Er hat genug.«
Udo hat recht. Aber zu Horst nach Hause wird schwierig, wenn Manfred da ist. Besser zu mir. Aus Udos Beständen nehme ich eine Flasche Sprudel mit und wir ziehen los, kommen gerade noch bis zum Südpark, dann sind wir platt und legen uns auf eine Tischtennisplatte. Unbequem, aber sie reicht für beide. Immerhin weht ein warmer Wind aus der Eifel herüber. Nur wenig Sterne über uns. Das Licht der Stadt versaut den Blick ins All. Nach einer Weile höre ich einen tiefen Seufzer. Wie viel Uhr mag es wohl sein?
»Ich schreibe dir seit einem halben Jahr Briefe.«
Ich muss staunen. »Du schreibst mir Briefe? Vor jeder Deutscharbeit graut es dir und dann schreibst du Briefe?«
»Mh. Die sind ziemlich gut, finde ich.«
»Ich habe noch keinen gelesen, aber das tu ich gerne. Bring sie mir vorbei.«
»In Ordnung … bist du sicher?«
»Klar, ich bekomme gerne Briefe.«
»Bekommst du von Petra denn Briefe?«
»Nein, sie ist keine Schreiberin.« Er dreht sich mir zu und ich mich ihm. Wir müssen grinsen. »Wie ist das, in mich verliebt zu sein?«
Horst zuckt mit der rechten Schulter. »Ich denke, nicht anders, als in ein Mädchen verliebt zu sein.«
»Ja, warum auch …« Vermutlich hat er recht. Warum sollte das einen Unterschied machen? Und ein verliebtes Mädchen würde sich jetzt nicht so toll fühlen, wenn der Kerl neben ihr das so gar nicht erwidert. »Lass uns nach Hause gehen. Du kannst im Gästezimmer pennen. Du weißt ja, was dein Bruder davon hält, wenn man nachts betrunken ins Zimmer torkelt.«
»Nee, lass mal gut sein. Ich gehe lieber nach Hause. Es ist schwer genug, dich immer um mich zu haben. Wirklich, ist nicht einfach.« Ich ahne, dass Horst sicher nicht nach Hause will, aber ich kann ihn nicht zu mir zwingen. Er beugt sich spontan herüber und küsst meinen Mund; einen Atemzug lang, dann wälzt er sich von der Platte, schwankt und marschiert los. Ich bleibe wie gelähmt zurück, keine Ahnung, was ich denken, fühlen oder tun soll. Ein Handbuch für solche Situationen ist noch nicht geschrieben.
Erwachsene haben vergessen, wie es ist, keinen Hafen anlaufen zu können, auf dem Ozean zu treiben, die Leuchttürme nur aus der Ferne zu sehen. Sie denken, alles ist toll und vor allem nicht so schlimm. Und wenn sie dann auch auf dem Ozean treiben, haben sie immer eine Kneipe an der Hand oder einen Koffer voller Ausreden. Horst fehlt in der Schule. Heute ist Mittwoch. Der dritte Tag. Ich denke über den Kuss nach, unweigerlich. Plötzlich spüre ich die warmen Lippen auf meinen und das eine Mal ist es schauderhaft, das nächste Mal furchtbar erregend. Ich werde noch verrückt. Alle wollen von mir wissen, wo Horst ist. Keine Ahnung!, schreie ich am Ende der 6ten Stunde. Ruft doch selber an! Besucht ihn! Aber das traut Ihr Euch nicht. Okay, die Hausaufgaben, ja, die nehme ich mit. Die von gestern und vorgestern sind noch in meiner Tasche.
Immerhin ist das Mittagessen gut und Vater trinkt Kaffee statt Reissdorf. Auch der Bommerlunder zum Verdauen fehlt. Nichts mehr im Haus. Nach dem Mittagsschlaf verbreitet er beste Laune, gibt Mutter einen Schmatz, erwähnt beiläufig, dass er von einem Vertreter eingeladen wurde heute Abend, es später wird, zwinkert mir zu und ist weg. Mutter und ich wissen, was das heißt, so können wir uns vorbereiten. Sie wartet nicht mit dem Abendessen, geht ins Bett, hadert mit dem Schicksal und ich kann nach Hause kommen, wann ich will. Kurz nach dem Vater verschwunden ist, melde ich mich ab bei ihr. Horsti, Hausaufgaben, nach dem Rechten sehen; sie lächelt. Jedenfalls einer, der sich kümmert.
Vorher jedoch fahre ich in die Stadt, kaufe drei Bücher bei 2001 und fange schon in der Sechzehn an zu lesen. Früchte des Zorns, von Steinbeck. Niemand bei uns daheim oder Schmidtkens kennt das Buch. Steinbeck werden sie für eine Biersorte halten. Ich lebe auf einer Insel. Die Bücher und ich. Schön ist es da. Beinahe verpasse ich die Haltestelle, springe gerade noch aus der Bahn und bin zehn Minuten später vor dem Haus. Die Baufirma hat es gebaut, acht Wohnungen insgesamt. Alle für die Angestellten. Die besseren Angestellten, wie Horstis Vater mal erklärte. Bessere Angestellte sind in seinem Weltbild Baggerfahrer, LKW-Fahrer, Poliere. Die Capos eben. Türken, Spanier und Portugiesen wohnen in wesentlich schlechteren Häusern auf dem Bauhof oder daneben, meist sechs oder sieben in einer Zweizimmerwohnung. Ich klingle. Horsts Mama öffnet, eine Augenbraue hochgezogen.
»Komm rein!«
»Tag, Frau Schmidtkens …«
»Ja ja …«
»Ist Horst da?«
»Natürlich! Wo sollte er sonst sein?« Darauf weiß ich keine Antwort und bin lieber still. Sie verschwindet in der Küche. Der Baggerfahrer sitzt im Wohnzimmer und schaut den Telekolleg Deutsch für die Hauptschulprüfung. Ich stutze für einen Augenblick. Telekolleg Deutsch? Ich sehe lediglich den linken Unterarm auf der Lehne, ein Gaffel in der Hand, der Rest vom Körper ist im Fernsehsessel verschwunden. Schulterzuckend klopfe ich an Horsts Zimmertür. Keine Antwort. Also hinein. Er hockt im Schneidersitz auf dem Bett und sortiert Briefmarken.
»Ah! Die Hausaufgaben! Haben es also doch noch bis zu mir geschafft. Wo warst du denn gestern und vorgestern?«
»Tu nicht so, als ob du scharf aufs Hausaufgaben machen bist. Ich hatte einfach keinen Bock, deine Familie zu sehen. Die geht mir schwer auf den Sack.«
»Oder hattest du keinen Bock, den zu sehen, der dir einen Kuss gegeben hat?«
»Möglich.«
Horst lächelt. »Ich hab dir vorhin einen Brief geschrieben. Wie ist es, willst du mal alle lesen? Du kannst sie mitnehmen. Musst mir auch nicht zurückschreiben oder was dazu sagen. Lies sie einfach.« Ich presse die Lippen aufeinander. Vielleicht sollte ich nicht mehr hierher kommen. Aber ich mag ihn. Der einzig Normale weit und breit. Und er ist in mich verliebt. »Tu mir den Gefallen, Heinrich. Es bedeutet mir was, wenn du sie liest.«
»Ja, hab ja gesagt, ich lese sie. Jetzt machen wir Hausaufgaben. Ist nicht wenig.« Mir fällt ein, was ich noch fragen will. »Sag mal, warum bist du eigentlich nicht in der Schule? Von krank sehe ich nix.« Horst seufzt, legt alle Briefmarken in Alben oder Kuverts, stapelt alles in einer Kiste und stellt sie unters Bett. Ich setze mich an den Schreibtisch. Der Regiestuhl knarrt. Director steht hinten drauf.
»Robert ist vorzeitig aus Ossendorf entlassen worden, wegen guter Führung. Er wohnt im Moment hier, bis er nen Job hat und ne Bleibe. Das macht Mutter verrückt. Sie dreht am Rad.«
»Robert? Wegen guter Führung? Da kann es sich ja nur um ein Versehen handeln. Und was hat das mit dir zu tun?«
»Ich muss auf sie aufpassen«, erklärt er mit Inbrunst. Die entsprechende Antwort liegt mir auf der Zunge. Eingeatmet habe ich, aber sie aussprechen klappt nicht. Es wäre zwecklos. Zügig setzt er sich neben mich auf den Drehstuhl. Der Schreibtisch ist eine alte Schrankseitenwand auf zwei Sägeböcken, zerkratzt, vollgekritzelt mit nicht jugendfreien Sprüchen. Ein Künstler wie Joseph Beuys würde dafür eine Viertelmillion bekommen; jede Wette.
»Wie ist es jetzt für dich, neben mir?«
»Schön«, sagt er leise. »Es beruhigt mich.« Ich kann nicht anders und lege die Hand auf Horstis schmale Schulter, drücke zweimal sanft. Englisch ist dran. Eine Zusammenfassung von Dickens Geschichte aus zwei Städten.
Sie knetet Pizzateig. Alles wird selbst gemacht, nichts gekauft. Ist viel billiger. Ich schneide eine ganze Salami in dünne Scheiben und Horst versucht sich an feinen Paprikastreifen. Für die Tomatensoße haben wir Tomatenmark, Wasser und Pfeffer verrührt. Noch günstiger geht nicht.
»Ich bin gottfroh, dass dein Vater keine Ahnung hat vom Bierbrauen. Das würde mir noch fehlen zu meinem Glück«, erwähnt Horsts Mutter.
»Dafür hat er richtig Ahnung vom Bier trinken«, erwidert er. Sie seufzt und ich öffne zwei Sardinenbüchsen, gieße das Öl ab, noch eine Dose Thunfisch, dann helfe ich ihm.
»Das wird ein Festessen. Extra für deinen Bruder. Hat er sich gewünscht. Ihr zwei müsst aber nicht hierbleiben …« Sie deckt den Pizzateig ab und schaut uns abwechselnd an. »Vielleicht habt ihr ja noch was vor. Ich meine …«
»Ist gut jetzt, Mama.«
»Mein ja nur. Nicht dass deine Brüder davon was riechen.« Horst lässt das Messer fallen, steht auf und verschwindet aus der Küche. Ich schneide weiter. Noch eine gelbe Paprika. »Was ist mit dir, Heinrich? Stehst du vielleicht auf Jungs?« Diese Familie überfordert mich. Einmal Eiswasser über den Kopf, dann mit dem Tauchsieder in die Badewanne.
»Im Moment weiß ich gar nix, Frau Schmidtkens. Weder ein noch aus. Aber ich mag Horst. Er ist ein lieber Kerl.«
»Habt ihr euch schon mal geküsst?« Sie grinst und legt zwei Bleche auf die Spüle. Ich bin sprachlos. Zu lange sprachlos. »Das genügt als Antwort«, meint sie und schrubbt alte Backreste vom Emaille. »Mein Rat ist: Macht euch einen schönen Abend. In ner Stunde sind Manfred und Robert hier. Ich geb euch was Geld.«
»Ich hab Geld«, sage ich und werde wütend. »Schmeißen Sie die beiden raus. Die bedeuten nur Ärger.«
»Das sind meine Söhne. Keine Mutter wirft ihre Söhne raus«, stellt sie trocken fest, rubbelt die Bleche ab und nimmt sich ein Gaffel. »Auch eins?«
»Kann nicht schaden.«
Sie reicht es rüber. Ich öffne mit dem Messergriff und verfolge das Ausrollen des Teigs auf beiden Blechen. Tomatensauce drüber, verteilen und belegen. Alles nicht sehr liebevoll, eher pragmatisch. Am Schluss Käse-Scheibletten aus der Cellophan-Hülle. So stelle ich es mir im sowjetischen Gulag vor. Der Backofen wird daraus Pizza machen, hoffe ich. Die Wohnungstür geht auf. Lautes Lachen und Gebrüll. Manfred und Robert sind zurück. Schatten vor dem Glas der Küchentür. Sie gehen ins Wohnzimmer. Ich bin heilfroh. Horsts Mutter wirft einen Blick durchs Glas der Ofentür, ist offenbar zufrieden und nimmt zwei weitere Flaschen aus dem Kühlschrank, füllt wieder auf und verlässt die Küche. Ich atme tief ein, trinke einen großen Schluck und denke an Petra.
Horst und ich sind so schweigsam wie möglich, knabbern am verkohlten Pizzarand, kauen an verschrumpelten Salamischeiben. Die Paprikaschnitze sind matschig. Alles in allem ein besonderes Essen. Der Baggerfahrer sitzt rechts von mir, Horst links. Manfred und Robert uns gegenüber. Alles ist eng, wir sind Sardinen in der Büchse und die Gaffel-Bestände im Kühlschrank gehen zur Neige. An Schule denke ich nicht, betrachte lieber Roberts Gesicht. Ein betrunkener Schmied hat einen Vorschlaghammer glühend gemacht, ihn wie Knete verformt und ins Ölbad gelegt. Das ist Roberts Gesicht. Seine Sprüche sind von derselben Art. Manfred hängt an seinen Lippen. Frau Schmidtkens weiß, dass es nur böse enden kann und tätschelt doch immer wieder den Kopf ihres Erstgeborenen. Ich bin in einem Film und die Szenen werden immer besser.
»Kann mal jemand das Fenster ganz aufmachen?« Die Stimme von Horsts Vater ist bedeutungslos leise. Nur seine Frau hört ihn.
»Manfred, mach mal das Fenster auf«, kommt ihr Befehl und Manfred versucht aufzustehen, wird aber von Roberts festem Schultergriff wieder auf den Stuhl gedrückt.
»Das Fenster bleibt zu!« Frau Schmidtkens schaut ihn an.
»Deinem Vater ist warm und ehrlich gesagt, mir auch. Zu viele Leute in der Küche. Also, bevor dein Herr Papa vom Stuhl fällt, machen wir auf!«
»Das Fenster bleibt zu!«
Dafür steht der Baggerfahrer auf, nimmt die letzten beiden Flaschen und geht um den Tisch herum. »Ich geh ins Wohnzimmer«, sagt er und hat kaum ausgesprochen, als Robert ihm die beiden Flaschen aus der Hand reißt.
»Die bleiben hier! Du hast genug getrunken!« Horst lehnt sich ganz zurück und wird immer kleiner. Frau Schmidtkens fixiert mich.
»Bevor es zum Krieg kommt, geht ihr beiden mal zu Wewelenz und holt zwei Kisten Gaffel oder Früh oder was es gerade im Angebot hat. Ich geb euch Geld. Nehmt die Sackkarre aus dem Keller mit.« Sie meint Horst und mich. Wir stehen auf, stecken die beiden Zwanziger ein. »Nehmt die leeren Kisten mit.«
»Okay, Mama.«
Nichts wie raus. Ich habe mich gefühlt wie eine Kartoffel unter einem Stampfer. Dort in der Küche gibt es diesen Äther, von dem die Menschen mal annahmen, in ihm lägen alle Welten und nur in diesem Äther könnte man Funkwellen und Licht übertragen. Bei Schmidtkens in der Küche war es die Gewalt, die von Robert ausging. Ich war dieser Gewalt direkt ausgesetzt und sie hat mich gepackt, angesteckt, infiziert. Ich wollte jemanden schlagen.
Jetzt laufen wir zu Wewelenz und alles fließt von mir ab, zieht sich zurück wie das Meer bei beginnender Ebbe. Es hat abgekühlt. Dafür bin ich dankbar.
»Kann ich heute bei dir schlafen, Heinrich?«
»Klar. Kein Problem. Gästebett ist frei.«
»Ich kann nicht daheim pennen.«
»Ich weiß. Und morgen kommste wieder in die Schule.« Ich lege den Arm um seine Schulter, die Räder der Karre rattern hinter uns. Nur das Bier besorgen, mehr nicht. Meine Mutter wird sich freuen, Horst zu sehen.
Hausaufgaben lasse ich links liegen und gehe zu Horst. Ich will nicht, aber es muss sein. Die Briefe habe ich gestern nicht eingesteckt. Und ich möchte sie lesen. In einem Brief öffnen sich andere Welten, die von außen kaum einsehbar sind. Meine Briefe an Petra fallen mir ein und ihre wenigen an mich. Vieles wäre ungesagt geblieben, stünde es nicht auf dem Papier. Briefe sind wichtig. Auch für Horst. Deswegen muss ich sie holen. Wer weiß, ich könnte den einen oder anderen beantworten. Es ist, wie mit sich selbst reden und doch an jemand anderes denken. Schon auf dem Vorplatz sehe ich ihn am Fenster stehen. Er öffnet einen Spalt, winkt mich zu sich, legt dann den Finger auf die Lippen.
»Geh hinten rum auf die Wiese. Wir treffen uns an der Hecke«, sagt er leise, schließt das Fenster. Die Gardine wackelt. Ich komme mir vor wie im Agentenfilm, folge aber seinem Wunsch. Die trostlose Wiese hinter dem Gebäude dient als Platz zum Aufhängen von Wäsche, der Abfallentsorgung, ein alter Schuppen macht sie noch hässlicher. Trockene Flecken im Grün. Die Hecke besteht aus stinkendem Thuja. Aus dem Kellereingang, ein paar Stufen unter dem Niveau der Wiese, sehe ich Horst kommen. Alle Bewegungen verdächtig langsam, bewusst leise. Ich habe keine Ahnung, was vor sich geht. Er kommt entlang von Hemden und Handtüchern, ist kurz vor mir und lächelt schmal. Horst hat Angst.
Ein Brüller lässt mich an Dinosaurier denken. Vom Vorplatz kommt etwas angerannt. Direkt auf uns zu. Dinge passieren gleichzeitig, meint man. Ich komme nicht mehr mit, spüre nur den Tritt gegen meine Brust. Die Wucht wirft mich in die Hecke. Gar nicht so schlimm, denke ich, will einatmen und aufstehen. Aber ich kann nicht atmen! Will atmen! Kann aber nicht! Ich werde sterben und sehe meine Hände ins trockene Gras greifen, mich wälzen, alles sehe ich! Wie Robert auf seinen kleinen Bruder eindrischt und ihm Tränen kommen. Horst liegt da wie im Mutterbauch. Mein Blick verengt sich, eine dunkle Klammer greift nach meinem Herz. Manfred kommt und wirft Papier durch die Gegend. Die Briefe! Kurz wird es Nacht. Dann pfeift etwas. Das bin ich! Jemand hat das Ventil geöffnet. Luft kommt, die Kraft kehrt zurück. Die Wut … mühsam stemme ich mich hoch. Mein Brustkorb ist in einer Schraubzwinge. Manfred lacht wie ein Irrer und zerreißt die Briefe in tausend Fetzen. Meine Faust trifft seine Schläfe und er fällt gleich einem toten Baum aufs braune Gras. Robert lässt von Horst ab. Wir sehen uns an. Ich blicke nicht in die Augen eines Menschen. Er kommt! Seine Kraft ist unbändig. Mehr als mich schützen kann ich nicht. Wieder ein Schrei. Ich lasse mich fallen und versuche Roberts Beine zu packen, dann fällt er neben mich und liegt still. Nicht bewusstlos. Seine Augen blicken durch mich hindurch. Frau Schmidtkens hat ihm das Wellholz über den Kopf gezogen. Sie bückt sich zu Horst, will ihn hochziehen. Alles ist so ruhig. Die Wiese schweigt und Menschen stehen an den Fenstern. Aufstehen! Ich muss aufstehen!
»Geh nach Hause, Heinrich!«, sagt Frau Schmidtkens. »Nimm Horst mit. Ich kümmere mich um das hier.« Nickend lege ich den Arm um Horsts Schulter, er den seinen um meine Hüfte. Robert schaut in den Himmel und sieht vielleicht Sterne. Manfred jammert. Wir leben noch.
Diese Geschichte
Entstanden im Jahr 2024. Homosexualität in einer dysfunktionalen Familie. Und das Ende der Siebziger. Die Krusten von Intoleranz und Entwürdigung beginnen langsam aufzubrechen in dieser Ära, aber in nicht wenigen Köpfen kommt der Wandel nicht an. Selbst heute, im Jetzt des Jahres 2024 müssen wir erkennen, dass die Oberfläche von Zivilisation und Humanität wieder vermehrt aufbricht und intolerante, menschenfeindliche Kräfte erneut ans Tageslicht kommen.