Die rote Mütze

KURZGESCHICHTE | Heute ist es nicht das immerwährende Pfeifen des Windes, an das ich mich gewöhnt habe. So sehr gewöhnt, dass es nur noch zu hören ist, wenn all meine Gedanken so leise sind, dass ich mich in einer anderen Welt wähne. Heute ist es ein Summen. An- und abschwellend. Mal ein hohes Summen, dann eher tiefes Brummen. Es kommt näher. Ich werde zu Staub, Dreck, Unrat. Hier oben auf dem Dach des großen, braunen Gebäudes. Eine schmutzige Decke, unter der ich liege, ist meine Deckung. Die Unterseite habe ich komplett mit Alufolie versehen, unzählige Tackerklammern verschwendet. Gegen die Drohnen, hat Mutter gesagt. Jetzt noch die Luft anhalten, mit dem Kopf zwischen den Trümmern der kaputten Dachaufbauten. Das Gesicht ist zum Himmel gerichtet. Ein selten blauer Himmel. Nicht gelblich-diesig, wie die meiste Zeit sonst. Nicht das beängstigende Anthrazit heftigen Stürmen.
Still liegen, das Blau in mich lassen. Und das Summen, das immer näher kommt. Ich bin Schrott. Rest von Zivilisation. Niemand wird mich sehen oder überhaupt hier oben vermuten. Ein Blitz im Kopf, schmerzhafter Gedanke an meinen kleinen Bruder. Wenn Matthias aufwacht und nach oben kommt, ist es aus mit der Deckung. Das Summen ist so nah. Die Drohne gleitet ins Blickfeld. Stoppt für einen Augenblick. Dann setzt sie sich erneut in Bewegung. Sechs Rotoren und allerlei kleine Kästchen anmontiert. Vielleicht fünf oder sechs Stockwerkhöhen über dem Dach. Stillhalten ist das Mittel gegen den Tod von oben. Und genug Dreck im Gesicht. Dreck lässt mich kalt sein. Die Alufolie tut ihr Übriges. Immer folgen den Drohnen in schwarze Anzüge gekleidete Menschen. Wenn es noch Menschen sind. Ich habe noch nie einen aus der Nähe gesehen oder Stimmen gehört. Menschen reden. Sie unterhalten sich über etwas. Mutter und Vater haben immer miteinander gesprochen. Oder zumindest gestritten.
Tiefes Brummen. Sie ist ein riesiges Insekt, denke ich und habe das Bild einer dicken Fliege im Kopf. Kurz nur. Lieber beobachte ich den Weiterflug. Nach Norden. Wenn der Rhein genug Wasser führt, kommen Transportschiffe und viele dieser Menschen. Sie bauen alles ab, was aus Metall ist. Sogar die große Brücke ist verschwunden. Ihren Namen habe ich vergessen. Und Vater kann ich nicht mehr fragen. Das Summen wird leiser und verschwindet einen Moment später. Ich kann mich wieder bewegen. Mit der Decke über mir, krieche ich an die Brüstung und äuge vorsichtig drüber. Aus Richtung des Doms kommen die schwarz Uniformierten. Zehn sind es. Fünf auf einer Seite der Straße, fünf auf der anderen. Große Waffen vor der Brust. Schweigende Wesen.

*

Matthias schläft noch. Ich bin überrascht und lege vorsichtig die Hand auf seine Stirn. Alles normal. Unter der Stupsnase wächst seit geraumer Zeit ein dunkler Flaum heran und wenn er losplappert, bricht die Stimme nach ein paar Worten oder überschlägt sich. Mein kleiner Bruder wird ein Mann. Wie alt ist er dann? Vierzehn oder fünfzehn Jahre, vermute ich. Wie alt bin ich? Diese Frage bleibt unbeantwortet. Mutter und Vater haben mir zum siebzehnten Geburtstag gratuliert. Das Wort ‚siebzehn‘ fiel, da bin ich mir sicher. Aber wie viele Tage sind seither vergangen? Wie viele Jahre? Unbekannt. Es wird jeden Tag etwas kühler. Am Eingang hängt ein Thermometer. Gestern zeigte es elf Grad. Also ist es Winter, denn vor einigen Wochen oder Monaten, kletterte der blaue Strich auf fast vierzig Grad für viele Sonnenauf- und -untergänge. Der Sommer eben. Die Hand noch auf Matthias‘ Stirn, öffnet er die Lider und schaut mich an. Einen dicken Knubbel Sand im linken Augenwinkel. Er blinzelt.
»Pst, nicht bewegen, kleiner Bruder, ich mach den Dreck aus deinem Auge.« Sachte rolle ich die harte, kleine Kugel Richtung Nase, schnippe sie weg.
»Victoria?«
»Hm?«
Er schweigt. Anstelle des Drecks entsteht eine Träne.
»Was ist, mein Großer?« Ich bin erstaunt, wie schnell eine Träne wachsen kann. Das habe ich wohl vergessen. Sie kullert die Wange hinab, zieht eine Spur durch den Dreck und fällt auf die Matratze. Ich rutsche an Matthias heran, hebe den Kopf in meinen Schoß, kraule die verfilzten Haare.
»Ich habe von Mama geträumt«, sagt er leise. Mehr als Nicken kann ich nicht. Wie oft ich von Mutter und Vater träume, habe ich ihm noch nie erzählt. Warum sollte ich ihn damit quälen? Ich habe mir sogar angewöhnt, Mutter und Vater zu denken, die Worte ‚Mama‘ und ‚Papa‘ verkrafte ich nicht. Dabei sind es doch nur ein paar Buchstaben. Und Matthias hat Vater gar nicht mehr erlebt. Er starb kurz nach der Geburt des Kleinen. Als er dann meine Hüfte erreichte, holte der Tod unsere Mutter.
»Hat sie zu dir gesprochen?«
Er bewegt den Kopf hin und her, ein Reiben auf meinen Oberschenkeln. »Nein«, sagt er dann und richtet sich auf. »Ich sehe sie vor einem Haus stehen. Sie winkt. Ist immer der gleiche Traum.«
»Was ist das für ein Haus?«
Matthias zuckt mit den Schultern. »Wie alle aussehen. Tür, Fenster, Dach.«
»Ist die Tür offen?«
Er überlegt und sieht mich unverblümt an. »Nein!« Aus seinem Unterleib kommt ein Grummeln und Knurren. Wie von einem Hund. »Ich habe Hunger, Victoria. Großen Hunger.«
»Dann machen wir uns was zu essen«, erkläre ich. »Was richtig gutes, oder?«
Matthias nickt, schiebt die Decke beiseite und streckt sich. »Was denn?«
Ich fühle mich ertappt. Was denn?, wiederhole ich still die Frage. Das, was wir gesammelt haben. Nudelpackungen, alle Arten von Konserven. »Na, eben was ganz Besonderes«, muntere ich ihn auf.

*

»Ich muss dir was sagen, Bruderherz. Vorhin war ich auf dem Dach. Die Menschen mit den schwarzen Anzügen sind durch die Straßen gelaufen, ihre Drohne über den Dächern. Sie suchen wieder nach Metall.« Matthias ignoriert, was ich sage, nimmt einige Stufen auf einmal auf dem Weg nach unten. Ich hole ihn ein und reiße an beiden Schultern. »Stopp!« Sein Blick ist nach vorne gerichtet, auf die fast abgeblätterten Reste eines Schriftzuges. ‚1. Stock‘, kaum noch zu erkennen. »Nicht rennen! Vor allem nicht auf der Treppe! Wie oft muss ich das noch sagen? Wir haben weder Medizin, noch gibt es irgendwo einen Arzt oder ein Krankenhaus! Verletzt du dich, bedeutet das deinen Tod.«
»Lass mich einfach. Ich kann tun, was ich will!«
Das macht mich wütend. Ich zittere, gehe zwei Stufen runter und sehe zu ihm auf. Er schaut über mich hinweg. Dieser dunkle Flaum ist jetzt schon auf dem Kinn zu sehen und am Hals. So ein Kerl! Ich erinnere mich nicht an meine Pubertät. In mir war es immer still. Vater und Mutter werden froh gewesen sein deswegen. Eine Sorge weniger. Aber Matthias ist ein Dickkopf. Die Wut ist verschwunden, hat sich hinter meiner Angst um ihn versteckt. »Komm«, fordere ich ihn auf. »Ich bekomme auch Hunger.«
Wir steigen weiter hinab. Das Treppenhaus haben wir über einen langen Zeitraum freigeräumt von Schutt und sonstigen Gegenständen. Es endet im großen Eingangsbereich. Die schwere Stahltür funktioniert noch immer wie sie soll, bis auf ein leichtes Quietschen. Ein grünes Notausgang-Schild hängt auf der Vorderseite. Wir gehen an der Wand entlang in einen Flur und erreichen die Küche. »Holst du bitte Holz und machst Feuer? Ich öffne eine große Dose Tomaten.«
Es kommt keine Antwort, nur ein Murren. Das genügt mir. Aus der am Ende der Küche liegenden Speisekammer nehme ich Tomaten und Spaghetti. Eine Doppelpackung Spaghetti. Zur Feier des Tages, was auch immer wir feiern wollen. Mit dem Dosenöffner entferne ich vorsichtig den Blechdeckel. Auf jede Bewegung achte ich genau. Kein Fehler darf passieren, kein Abrutschen, kein Schnitt. Es riecht nach angebrannten Streichhölzern, dann raucht es aus einem der großen Stahlbecken. Matthias legt immer wieder kleine Stücke Brennholz nach.
»Mach bitte nicht das Fenster auf, Matthias. Lieber vorne und hinten die Türen.«
»Wegen der Metalljäger?«
»Ja, wegen der Metalljäger. Ich hoffe, sie sind schon weit genug weg.«
»Meinst du, sie würden uns umbringen?«
Ich atme langsam und tief ein, dann wieder aus, kippe die Tomaten in einen Topf. Zwei Kilo geschälte, saftige Tomaten. Es riecht wunderbar. Ja, das würden sie, uns umbringen. »Wir sind besser vorsichtig. Solange uns niemand sieht, haben wir ein gutes Leben.«
»Aber vielleicht sind sie gar nicht böse und können uns helfen …«
»Niemand kann uns helfen!«, falle ich ihm ins Wort.
Er dreht sich weg und legt den Rost über das Becken. »Feuer brennt …«
Ich trage den Topf hinüber, stelle ihn auf den Rost und lege eine Hand auf seine Schulter. »Entschuldigung …«
»Schon gut, Victoria.« Matthias reißt die Spaghetti-Packung auf, kippt alles in die Tomaten, dann eine Handvoll Salz und nicht zu wenig Pfeffer aus einer Plastikbox. Dann schließt er den Topf mit einem Deckel. »Wie viel Wasser haben wir noch?«, will er wissen. Ich denke an unser Zuhause. Vielleicht sollten wir dort hin. Möglicherweise leben ja noch einige Menschen, die nicht infiziert sind und niemanden für Metall töten. »He, Victoria! Träumst du?«
»Was?«
»Wie viel Wasser haben wir noch?«
»Ich, äh, ich muss nachsehen. Sollte noch eine Zeitlang reichen.«
Es blubbert im Topf und Matthias zieht ihn ein paar Zentimeter auf die Seite.

*

Die Spaghetti schmecken wunderbar, obwohl sie nicht anders gekocht sind als die vielen Male zuvor. Warum also der bessere Geschmack? Vielleicht wegen der Metalljäger oder Matthias‘ Traum, in dem Mutter vor einem Haus stand und ich eine Träne an ihm entdeckte. Ich weiß es nicht. Mein Bruderherz ist noch dabei, den Topf zu leeren. Sein Hunger wird uns schneller als gedacht an die Grenzen der momentanen Vorräte bringen. Wir müssen bald wieder losziehen, um aufzufüllen.
Ich sitze mit gekreuzten Beinen auf der Edelstahltheke, sehe Matthias‘ Hinterkopf, all die verfilzten Haare. Ein Bad, das wäre mein Wunsch für einen Traum. Seife, Shampoo, warmes Wasser. Ein Schatten fällt in den Raum. Warum? Klares Wetter mit blauem Himmel … da sehe ich den Mann im Türrahmen stehen. Wir starren uns an. Nicht mal atmen kann ich. Matthias kratzt den Topf leer. Bewege ich mich, sieht es der Alte und mein Bruder hat nur Augen für das Essen. Mich fixierend, dreht der Mann den rechten Arm von sich weg, führt ihn hinter den Rücken. Ich greife ebenso langsam nach dem großen Küchenmesser. Ein Schrei! Der große Topf fällt auf die Fliesen und Matthias springt auf. Ich sehe nichts mehr.
»Victoria! Da ist jemand!«
Mit den Füßen trete ich meinen Bruder aus der Bahn, er fällt nach vorne, eine Hand greift den Messerknauf. Im Nu bin ich auf den Beinen, runter von der Theke. Vor dem Alten auf den Boden fallen lassen, seine Beine aufschlitzen, so ist der Ablauf, den ich hunderte Mal im Kopf durchgegangen bin, wenn ich einem Fremden begegne. An der Ecke zieht der Alte mit schreckgeweiteten Augen etwas aus einer Tasche. Eine große, rote Mütze, mit weißer Stoffkugel obenauf. »Halt! Um Gottes willen!«, schreit er mir entgegen und weicht zurück. Das Messer liegt gut in der Hand, nimmt den Schwung auf. Was hält mich zurück? Woher kenne ich die Mütze? Er rennt weg, so gut er kann. Ein Bein zieht er nach. Schon ist er in der großen Empfangshalle, da grätsche ich in seinen Lauf. Er fällt auf ganzer Länge. Schlägt hart auf und bleibt liegen. Das Messer ist an seinem Hals.
»Nicht … bitte«, murmelt er in den dreckigen Teppich. »Bitte!«
»Du bist nicht infiziert«, stelle ich fest. »Warum nicht?«
»Wohl aus demselben Grund wie ihr es nicht seid«, erwidert er.
»Du kannst uns nicht ausrauben. Wir haben nichts.«
»Ich weiß«, sagt er.
»Was also tust du hier?« Der Idiot bewegt den Hals. Die Messerspitze drückt sich in die Haut hinein. Ein roter Punkt entsteht.
»Hab das Essen gerochen.«
Ich sehe Matthias‘ Füße vor dem wild behaarten Kopf des Alten. »Tötest du ihn, Victoria?« Töte ich ihn? Vielleicht. Aber nicht hier drin. Was ist mit der Mütze? »Was hat es mit der roten Mütze auf sich?« Er zuckt mit der linken Schulter, was seinen Hals gegen das Messer drückt.
»Ich bin der Weihnachtsmann und wollte nur nachsehen, ob jemand meine Dienste benötigt.«
»Der was?«, fragt Matthias und setzt sich auf den verratzten Teppich.
»Weihnachtsmann. Kennst du nicht den Weihnachtsmann?«, wiederholt der Alte.
»Nee, kenne ich nicht. Kennst du einen Weihnachtsmann, Victoria?«
»Hab schon mal von ihm gehört. Mutter hat von einem Weihnachtsmann erzählt.«
»Na also«, sagt der Alte. »Nimm bitte das Messer weg.«

*

Der Weihnachtsmann sitzt vor dem Fenster, die rote Mütze mehr schlecht als recht auf dem Kopf. Zu viele Haare. Rundherum drücken sie sich unten heraus, hängen ihm ins Gesicht. Er verzieht den Mund. Vielleicht ein Grinsen. Oder die Atemnot. Er hatte zu kämpfen bis hier hoch in den fünften Stock. Möglicherweise aber ist es die Angst vor der Waffe in meiner Hand. Eine der Waffen, die ich im Laufe unserer Streifzüge durch die Stadt aufgetrieben habe und die auf ihn gerichtet ist. »Lass ihn von diesem Weihnachtsmann erzählen«, sagt Matthias und schaut mich herausfordernd an.
»Er könnte den Uniformierten unseren Aufenthaltsort verraten und dafür Essen und Medizin bekommen«, halte ich ihm entgegen. Matthias lehnt an die Wand, zieht die Knie unters Kinn und schmollt.
»Das alte Hotel Hilton. Habt ihr euch ein schönes Zuhause ausgesucht. Stabil und viele bequeme Zimmer«, meint der Alte. »Im Übrigen habt ihr wohl nicht viel Ahnung von den Polizisten.«
Was hat er da gesagt? »Polizisten? Was für Polizisten?«
»Die Uniformierten, wie du sie nennst, sind Polizisten. Sie kommen von den Inseln, durchkämmen die ressourcenreichsten Gebiete, sichern sie, bevor dann die Demontageeinheiten alles Markierte abbauen.«
Matthias hebt den Kopf. »Was meint er damit, Victoria?«
»Ich habe keine Ahnung, Bruderherz.«
Der Alte seufzt, zieht die rote Mütze ab, legt sie auf den Tisch und streicht ein paar Falten glatt. Er trinkt einen Schluck aus der Glasflasche, die ich ihm hingestellt habe. Das Wasser ist unser Leben. Es ihm zu geben, hat mich Überwindung gekostet. Als er absetzt, holt er tief Luft und atmet langsam aus. »Wo seid ihr beiden aufgewachsen, dass ihr keine Ahnung von den Polizisten habt?« Bevor ich eine gute Antwort parat habe, fährt er fort. »Na egal, es gibt da draußen Inseln. Viele Inseln. Alle aus Stahl, also künstliche Inseln auf den Ozeanen. Die nichtinfizierten Menschen leben auf ihnen. Schon seit dreißig Jahren. Aber alle Technik wird alt und geht kaputt, also brauchen sie Material für neue Inseln. Das holen sie von überall …«
»Mein Bruder und ich sind auch Nichtinfizierte, und wir leben nicht auf so einer Insel«, unterbreche ich ihn. »Warum sollte ich das glauben?«
»Infiziert bin ich auch nicht. Stimmt’s?« Ich nicke so unscheinbar, dass er es vielleicht nicht bemerkt. »Das kann also nur ein Teil der Wahrheit sein«, wendet er ein. »Der bedeutendere Teil ist: Wir sind unnütz. Wertlos. Ihr könnt nichts, ich kann nichts. Außer essen.«
Meine Hand krallt sich um den Waffengriff. Unnütz? Wertlos? Ich spüre die Wut kommen und sehe, dass auch der Alte das bemerkt. Ein leises Räuspern folgt. Unruhig rutscht er auf dem Stuhl hin und her. »Auf den Inseln leben nur Menschen, die wertvoll sind. Doktoren, Ingenieure und all so Zeug. Fachleute, wie man sagt, die müssen ja ihr eigenes Essen machen. Und Strom haben sie auch genug.«
Matthias steht auf und setzt sich neben mich, legt den Kopf auf meine linken Schulter. »Du sagst, es gibt dort draußen Menschen, die genug zu essen haben?«
»Aber ja, mein Junge. Sehr viele sogar.« Der Alte drückt den Finger in ein Nasenloch, dreht ihn ein paar Mal hin und her und holt eine Menge Dreck raus.
»Wie kommen wir auf so eine Insel?«, platzt es aus Matthias heraus. Er springt auf, geht zum Fenster und sieht auf die Straße. Der Alte schweigt, nimmt die Mütze in beide Hände und dreht sie unentwegt. Ich lege die Waffe weg. Darüber bin ich froh. Sein Satz saust durch meinen Kopf: Wir sind nutzlos.
»Niemand kommt auf so eine Insel, mein Junge. Die Polizisten würden uns schon beim ersten Versuch töten. Viele haben es schon probiert …«
Matthias dreht sich ruckartig um und packt ihn an den Schultern. »Du kennst welche, die das probiert haben?!«
»Jetzt nicht mehr. Sind alle tot.«

*

»Erzählst du jetzt vom Weihnachtsmann?« Eine weit entfernte Stimme. Ist das mein Bruder? Jemand summt etwas. Es muss ein Lied sein. Ein schönes Lied. Mutter taucht auf. Aus dem Nebel. Nicht wie sonst, vor kaputten Häusern. Als der Tornado sie mit in die Höhe nimmt. »Mama?« Wer sagt das? Habe ich das gesagt? Wie kann ich mich selbst hören? Mutter rüttelt mich. »Victoria! He! Wach auf!« Das tue ich. Aufwachen. Wie schmerzhaft wach werden doch sein kann. Ich will wieder zurück in den Traum. Zurück zu Mutter. Sie aus dem Sturm ziehen.
»Richard erzählt uns jetzt was vom Weihnachtsmann!«
»Hm? Wer ist Richard?«
Matthias zeigt auf den Alten, der in eine Decke gehüllt auf einem der besseren Stühle sitzt. Sein Mantel liegt abseits und stinkt. Das Zimmer riecht nicht mehr nach Matthias und mir. »Na, der Alte.«
»Ja, okay, ich komme. Bring mir bitte Wasser.«
»Mach ich«, sagt er und rennt in den Flur. Es klappert draußen im Schrank und schon kehrt er mit einer vollen Flasche zurück, stellt sie auf den Tisch.
»Danke.«
»Kommt, setzt euch«, fordert uns dieser Richard auf. Wie lange habe ich geschlafen? Lange genug, dass mein Bruder und dieser Weihnachtsmann sich annähern konnten. Was hätte da alles passieren können. Unter dem dicken Pullover zieht der Alte eine rote Tafel hervor, reißt sie auf und legt den Inhalt auf den Tisch. »Frohe Weihnachten, ihr beiden.«
Matthias beugt sich vor. »Was ist das?«
»Schokolade«, erklärt der Alte.
»Schokolade?« Matthias kann sich nicht an Schokolade erinnern. Er war noch zu klein, als Mutter uns ab und zu wenige Stücke hingelegt hatte. Immer dann, wenn sie auf ihren Wanderungen auf eine solche Leckerei gestoßen war. Ich habe mich auf unseren Streifzügen durch die Stadt nie darum gekümmert. Nudeln, Reis, das macht satt. Der süße Duft steigt meinem Bruderherz in die Nase. Augenblicklich gehen die Mundwinkel nach oben. Der Alte bricht ein Stück ab und hält es ihm hin. Matthias beißt zu. Fast in die schmutzigen Finger. »Mh! Schokolade ist also Weihnachten …«, schmatzt er. Richard lacht. Ich schweige, denn ich kann mich nicht mehr an die Bedeutung dieses Weihnachten erinnern, wenn es denn eine Bedeutung hatte.
»Nein, Dummerchen. Heute ist der erste Weihnachtsfeiertag, der 25. Dezember. Ein besonderer Tag.«
»Warum?«, hakt Matthias nach und ich sehe seine Hand Richtung Schokolade zielen. Der Alte bricht ein großes Stück ab und reicht es mir.
»Nein danke, ich will nicht. Gib es meinem Bruder.« Matthias greift zu und weg ist sie.
»Das ist eine Legende«, erklärt Richard. »Vor über 2.000 Jahren kam ein Mensch auf die Welt, der wollte allen Menschen Gutes tun. Hat er auch. Aber die Menschen sind nun mal, wie sie sind. Idioten. Sie haben ihn umgebracht.«
»Arschlöcher«, sagt Matthias.
»Genau. Aber dieser Mensch, Jesus hieß der, kam drei Tage nach seinem Tod wieder aus dem Grab und hat gesagt, wir sollen uns mal anstrengen und gute Menschen sein, dann klappt alles und ganz am Ende kämen wir alle in den blauen Himmel oder so.« Mein Bruder sieht mich an. Er erinnert sich an Worte, die ich ihm vor langer Zeit einen Abend lang zugeflüstert hatte. Ich sehe, wie es hinter seiner Stirn rattert.
»Victoria … ist das der blaue Himmel, wo Mama und Papa jetzt sind?«
Ich seufze und breche doch ein Stück von der braunen Tafel ab, stecke es in den Mund. Dort lasse ich es einfach zergehen. »Ich glaube schon. Das muss der Himmel sein.«
»Eure Eltern sind also im Himmel über uns«, stellt Richard fest.
»Ja«, bestätige ich.
»Dann haben sie es gut«, klärt er uns auf. »So weit ich weiß, ist da oben alles in Ordnung.«
Ich finde, er redet einen ziemlichen Mist. Aber Matthias‘ Augen glänzen. Wegen der Schokolade oder weil der Himmel in Ordnung ist, weiß ich nicht. Ist aber auch egal. Das vorletzte Stück verschwindet in seinem Mund. »Und das ist also Weihnachten«, sagt Matthias. »Da kam der gute Mensch auf die Welt und hat allen Schokolade und andere gute Sachen gegeben.«
Richard nickt. »Genau. Heute ist dieser Tag. Er erinnert uns daran, dass es auch irgendwie anders hätte laufen können.«
»Woher weißt du eigentlich, dass heute dieser Tag ist?«, will ich von Richard wissen. Er grinst und greift wieder unter seinen Pullover. Dieses Mal zieht er ein dickes, kleines Büchlein heraus, legt es auf den Tisch, öffnet es und zeigt mit dem dreckigen Finger auf die rechte Seite.
»Das Buch hat 400 Seiten. 365 Seiten sind ein Jahr, alle vier Jahre ein Schaltjahr. Jeder Tag ist eine Seite und auf jeder Seite ist ein Strich. Das ist das Jahr. Morgen mache ich auf der nächsten Seite den Jahresstrich. Alles klar?«
»Nein«, sagt Matthias und starrt auf das Buch.
Ich nicke. »Ist klar. Und vor wie vielen Jahren hast du mit dem Buch angefangen?«
Richard zählt die Striche auf der Weihnachtsseite. »Vor 24 Jahren.«
Matthias schaut mich mit großen Augen an. »Was ist ein Schaltjahr?«

*

»Siehst du die Kirche dort hinten?« Richard zeigt mit ausgestrecktem Arm auf die Überbleibsel des Doms. Der zweite Turm fehlt zur Hälfte. Die Trümmer liegen auf dem großen Platz davor. Matthias nickt und ich esse die Reste des Frühstücks. Unser Gast hat Reiskugeln zubereitet. Irgendwie hat er es geschafft, aus dem Matsch Kugeln zu formen, alle in heißes Öl geworfen, bis sie knusprig wurden. Und das schmeckt sogar außerordentlich gut. »Du weißt, dass es der Kölner Dom ist?«
»Victoria hat es mir erzählt.«
»Gut«, sagt Richard. »Aber hat sie dir auch gesagt, dass es die größte Kirche nördlich der Alpen ist?«
»Was sind die Alpen?« Matthias sieht sich hilfesuchend nach mir um. Die Alpen … irgendwo habe ich mal eine alte Zeitschrift durchgeblättert. Da fiel mir das Wort auf. Alpen, große Berge irgendwo im Süden. Ein Bild ist noch im Kopf, aber was sollen wir hier mit großen Bergen. Besorgt suche ich den Horizont ab. Ein anthrazitfarbenes Band nähert sich schnell.
»Da kommt ein ziemlich heftiger Sturm!«, rufe ich beiden zu.
»Schon gesehen«, sagt Richard. »Wo geht ihr hin, wenn ein Sturm kommt?«
»Unten gibt es einen Keller mit schweren Türen. Da sind wir geschützt.« Ich bin nicht sicher, ob er das gehört hat, denn Matthias rüttelt heftig an seiner Schulter. Aber nicht so schlimm. Noch haben wir genug Zeit. Richard hat wieder die rote Mütze aufgesetzt und folgt Matthias‘ Blick. Vater fällt mir ein. Geh zu deinem Vater, hatte Mutter gesagt, wenn ich eine Frage gestellt habe. Mit seinem Tod endete meine Fragerei.
»Was ist denn eine Kirche?«
»Hör mal, Junge, ich sehe, du weißt recht wenig über die alte Welt«, stellt Richard fest. »Ich kann dein Lehrer sein, wenn du willst und deine Schwester einverstanden ist.« Er dreht sich mir zu. Die Augen sind kaum zu erkennen im Gewirr verfilzter Haare.
»Bin ich nicht«, erwidere ich. »Das Essen reicht für meinen Bruder und mich. Mit dir müssten wir wesentlich mehr organisieren, mehr und öfter unterwegs sein.«
»Am unterwegs sein ist nichts verkehrt«, hält er dagegen. »Man lernt am besten, wenn man unterwegs ist.«
»Und man trifft schneller auf Drohnen, Polizisten, Infizierte oder die lästigen Hunde. Nee, lass mal gut sein …«
»Aber Victoria!« Matthias lässt Richard los, kommt auf mich zu. Er ist wütend.
»Nein!«, rufe ich ihm entgegen. »Das ist mein letztes Wort! Er muss gehen!«
»Ich will aber nicht, dass er geht!« Geballte Fäuste, zitternd, so steht er eine Armlänge vor mir. Ein Funkeln in den Augen, wie es mir bisher nicht aufgefallen ist. Ich gehe an ihm vorbei Richtung Treppenhaus.
»Ihr habt nicht mehr lange Zeit, bevor der Sturm uns erreicht. Ich bin im Keller.«

Wie still es hier unten ist. Und sauber. In jedem Raum Regale mit einer Menge nutzlosem Zeug, Maschinen, von denen ich keine Ahnung habe, Rohre, Kabel. Die Temperatur ist immer gleich, egal wie kalt oder heiß es draußen ist. Und von den Stürmen bekommt man nichts mit. Der perfekte Ort. Eine Flasche Wasser in der Hand, sitze ich auf einem Podest, eines der Kissen unter dem Hintern. Noch ist die schwere Tür zum Treppenhaus offen, aber nichts ist zu hören von Matthias oder Richard. Ich trinke ein paar Mal, lausche in den Gang, dann in mich hinein. Höre ich noch Vaters Stimme? Oder Mutter? Aber da ist nichts mehr. Kein Ton. Kaum noch klare Bilder. Nur noch Teile ihrer Gesichter. Eine Wange fehlt, das Kinn. Die Erinnerungen zerfallen. Verschwinden in der Zeit, von der ich nicht mal sagen kann, wie schnell oder langsam sie an uns vorüberzieht. Wieder ein Schluck. Immer noch keine Stimmen oder andere Geräusche. Es knirscht, als ich mich anlehne. Die Waffe.
Aus irgendeinem Grund habe ich sie in den Hosenbund gesteckt. Wahrscheinlich wegen des Alten. Ich traue ihm nicht und werde langsam unruhig. Der Sturm kann auch an Geschwindigkeit zunehmen, wesentlich schneller hier sein. Ich weiß nichts über seine kommende Stärke. Wenn es ein Tornado wird, hinterlässt er nichts als Trümmer. Jemand atmet, dann Schritte. Matthias kommt um die Ecke, sieht mich und bleibt stehen. Die Wut ist verschwunden. Stattdessen sehe ich Tränen.
»Was ist los, Bruderherz?«
»Richard ist weg«, sagt er und schnieft, zieht den Rotz hoch.
»Bist du dir sicher?«
Nickend setzt er sich neben mich, den Kopf gesenkt. »Er hat gesagt, du hättest recht. Das Essen reicht nicht für drei, dann ist er zum Treppenhaus. Ich war auf einmal so … so leer wie eine ausgetrunkene Wasserflasche …«
Langsam lege ich den Arm um ihn, kraule den Kopf mit der anderen Hand. »Hast du ihn noch gesehen im Treppenhaus oder unten?«
Matthias schüttelt den Kopf. »Nein.«
»So ist es besser. Glaub mir, Kleiner. Wir haben viel Glück, dass wir noch was zu essen finden. Wie lange das geht, wissen wir nicht.« Keine Reaktion. Ich erinnere mich an den Abend, als Mutter die Türen schließen wollte und der Tornado einfach das Haus mitgerissen hatte. Samt Mutter. Als wir aus dem Keller kamen, sahen wir nur noch eine Trümmerwüste.
»Die Schubkarre«, sagt Matthias plötzlich und reißt den Kopf hoch.
»Die Schubkarre? Was ist mit …«
»Sie ist weg!«, behauptet er. »Sie steht nicht mehr neben dem Kücheneingang.«
Die Schubkarre! Wir brauchen sie auf unseren Streifzügen. Eine Menge Konserven und anderes Zeug passt hinein. Heute Morgen habe ich sie gesehen, heute Mittag auch! Wenn sie nicht mehr dort steht, dann … Ruckartig springe ich auf.
»Du wartest hier!«
Wenn der Alte die Schubkarre genommen hat, dann nur, um uns zu beklauen. Konserven, Reis, Nudeln! Ich hechte die Treppe hoch, durchquere die Eingangshalle und bin im Nu draußen, suche nach beiden Seiten die Straße ab. Da! So schnell ihn sein Hinkebein trägt und er die Karre im Gleichgewicht halten kann, flüchtet er nach Norden. Ich spurte los. Keine Entfernung für mich. Im Laufen ziehe ich die Waffe aus dem Hosenbund, entsichere. Vorbei an kaputten Autos, einem Kinderwagen, rostigem Zeug und überall der Sand. Er ist kurz vor der Unterführung.
»He! Bleib stehen!« Ich schieße in den dunkel gewordenen Himmel. Der Alte stoppt, stützt beide Hände auf die Knie. Sein Hecheln kann ich schon vorher hören. Er steht direkt neben dem umgeknickten Straßenschild. Marzellenstraße steht darauf. Fast unter der alten Eisenbahnbrücke. Eine Autolänge vor ihm halte ich an, die Waffe auf die rote Mütze gerichtet. In der Schubkarre liegt kein Essen, dafür unser Wasser. Und nicht wenig davon. Unser Wasser!
»Wenn du wenigstens die Nudeln genommen hättest!«, schreie ich ihn an. Seinen Namen will ich nicht denken. »Aber nicht das Wasser!« Er streckt sich, biegt das Kreuz durch, atmet immer noch heftig. Aber keine Reaktion. Kein Umdrehen. Stattdessen hebt er den Kopf, das Gesicht auf die schweren Wolken gerichtet. Rechnet er mit seinem Tod? Dann hat er recht. »Du bist es nicht wert, Alter. Und meinem Bruder den Kopf vollquatschen …« Ich denke daran, den Abzug zu drücken. Nur ein Gedanke. Will es nicht wirklich. Nur ein Gedanke. Nein! Nicht nur ein Gedanke. Es knallt und eine Faust reißt den Weihnachtsmann von den Füßen. Ein Stöhnen ist zu hören. Sein rechter Arm rutscht über den Sand auf der Straße. Da ist noch Leben drin! Er wird Schmerzen haben, stelle ich mir vor, gehe neben seinen Oberkörper. Bart, Mütze, wenig Gesicht zu sehen. Du musst ihn erlösen, sagt Mutter. Niemand soll Schmerz spüren, höre ich ihre Worte. Also erlöse ich ihn.

Diese Geschichte

Entstanden im Jahr 2022. Der Exodus der Menschen aufs Meer beginnt 2038. Also spielt dieser Text irgendwann 30 Jahre danach. In Köln. Und zufällig ist auch noch Weihnachten. Überleben ist die Devise. Auslöser für den Text war eine Ausschreibung für eine Kurzgeschichte zu Weihnachten. Naturgemäß habe ich damit keinen Preis gewonnen, denn Weihnachten ist friedlich und der Lebkuchenduft nicht weit. Weihnachten soll keine Dystopie sein. Kein Kampf ums Essen, ums Trinken. Was es zwar jetzt schon ist in vielen Teilen der Welt, aber das steht auf der Rückseite des Kalenders. Habt Ihr Gedanken oder Anmerkungen zum Text, lasst es mich wissen.

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