Vogelgezwitscher

Erster Akt

KURZGESCHICHTE | Vogelgezwitscher? Die Augen noch geschlossen, spüre ich bereits den Schmerz hinter der Stirn und will liegenbleiben. Liegen und an die Decke starren, an eine ferne Welt denken; noch mit allen Gliedmaßen im Morast meiner Träume steckend. Erwachen ist eine zähfließende Mure. Die Schmerzen sind das Geflecht in die Realität eines neuen Tages. Nach vier oder fünf Stunden auf diesem jämmerlichen Zustand einer Matratze, peinigt mich mein Rückgrat derart, dass Aufstehen die einzige Möglichkeit ist, den Schmerzen zu entkommen. Und dem Vogelgezwitscher. Die Erkenntnis, woher dieses Geträllere kommt, schiebt sich in mein Wachwerden. Ich verfluche mich. Schon wieder vergessen, das Fenster zuzumachen! Wann bin ich so vergesslich geworden? Das macht mich wütend! Zu hastig drehe ich die Hüfte und will beide Unterschenkel vors Bett stellen. Die Antwort kommt unmittelbar und vehement aus den Lendenwirbeln, sticht nach allen Seiten, lässt jeden unnützen Muskel zucken. Mehrmals. Unkontrolliert. Ich stöhne laut. Durch das gekippte Fenster, dem verdammten Vogelgezwitscher entgegen. Um allem noch eins aufzusetzen, drücke ich mich trotzig dem Schmerz entgegen, richte auf, was von mir übrig ist, und sehe zwei Füße langsam auf den alten Lärchenboden rutschen. Mit dem Hintern noch auf der Bettkante, ist es plötzlich still. Hier drin und draußen. Nachbars Akku ist leer, hoffe ich und greife nach der Kommodenkante, ziehe mich vorsichtig hoch. Einatmen. Ausatmen. Strecken. Den hereingewehten Sand unter den Füßen spüren. Also doch keine sandfreie Tage … Wetterdienste sind überflüssig geworden und das feinmaschige Netz vor dem Fensterrahmen so gut wie nutzlos. Die Pein in den Muskeln versiegt zusehends und lässt mich hoffnungsvoll nach dem Fensterbeschlag greifen. Zudrücken, schließen. Es knirscht. Sand in jedem Falz. Verflucht!

Im Bad hänge ich das Altherrengemächt über die Kante des Waschbeckens und lasse laufen was kommt. Viel ist es nicht und das auch noch stoßweise. Ein kleines Glas für die Wasseraufbereitung. Prost, sage ich laut und schaue in den Spiegel. Ich weiß nicht, was Dreck auf dem Glas ist und was maligne Inseln auf zerfurchter Haut. Dann klickt es hinter mir, piept zwei Mal. Der Strom ist da. Sofort denke ich an rasieren, lasse es bleiben und drücke eine Kaltwasseranforderung. Das Magnetventil öffnet, spendet eine Handschale kühles Nass. Ab damit ins Gesicht. Noch eine Ladung hinterher. Das Handtuch spare ich mir, genieße lieber nasse Haut, lecke mit der Zunge jeden erreichbaren Tropfen ab. Starre in den Spiegel. Es muss Sonntag sein, vermute ich. Ansonsten wäre ich nicht von Nachbars Vogelgezwitscher geweckt worden. Er spart die ganze Woche Energie, um seinen Sonntag so angenehm wie möglich zu beginnen. Das Ordnungsamt interessiert sich nicht für Vogelgezwitscher am frühen Sonntagmorgen, es hat genug andere Probleme. Seit er die Außenlautsprecher unter das Wellblech der Veranda montiert hat, geht das schon so. Und das war … ich stutze. Krampfhaft überlege ich, wann das gewesen ist … es fällt mir nicht ein. Egal. Ich bin wach, ziehe mich jetzt an und kontrolliere Strom- und Wasserkonto auf dem Tablet. Alles in Ordnung. Zeit für einen Kaffee.

Zwei Stunden lesen. Alle zehn Minuten einen kleinen Schluck von der kostbaren schwarzen Brühe schlürfen. Nicht zu viel. Gegen elf Uhr klingelt es an der Tür. Es zu ignorieren, gehört zu meinem Standardprotokoll. Dann erneutes Klingeln. Ausdauernder. Und ein drittes Mal. Mein Blick fällt in die Kaffeetasse. ‚Leck mich‘ steht auf der rissigen Innenseite. Nur meine Nachbarin von der anderen Straßenseite klingelt so ausdauernd. Duaa ist ihr Name. Sie kommt wegen meines Kaffees. Traut sich nicht jeden Tag, aber heute hält sie es ohne wohl nicht mehr aus. Wieder die Klingel. Also stapfe ich in den Flur, öffne die Tür, löse das Netz vom Klettverschluss und pfeife. Sie kommt um die Hausecke gestürmt. Wohl schon auf dem Heimweg. Schwer atmend drückt sie sich an mir vorbei, direkt in die Küche und lässt sich auf den vergilbten Lederstuhl fallen. So gut es geht, hefte ich das Netz an den Rahmen und sondiere die Zarge. Kaum Sand. Tür zu, abschließen und noch einmal durchatmen. Dann gehe ich in die Küche. Sie hat inzwischen den Hidjab abgenommen. Prächtiges, volles Haar, bis zur Hüfte reichend, füllt meinen Sichtkreis aus; so kommt es mir jedenfalls vor. Es ist schwarz wie das Universum vorm ersten Licht.
»Guckst wieder mein Haar, was?«
»Ja«, gestehe ich und setze mich ihr gegenüber. »Es ist wunderschön.«
Sie zeigt eine ungebrochene Reihe weißer Zähne, wechselt aber abrupt zum Grund ihres Kommens. »Machstu Kaffee? Ich brauch Kaffee!«
»Du weißt ja, wo die Maschine steht.«
Duaa nickt, steht auf und wirft einen Blick in meine Tasse, dann auf das Tablet. Der Wetterbericht der nächsten Tage. »Haben gesagt, dass kein Sand kommt. Heute Nacht doch Sand. Erzählen Scheiße.«
»Ja ja … hab vergessen, das Fenster zuzumachen. Nachher muss ich wieder fegen.«
»Ha! Fenster offen! Heute Morgen wieder viele Vogele gesungen! Hab‘s gehört. Hat dich geweckt, was?« Sie steht vor der Kaffeemaschine, stellt eine große Tasse darunter und drückt zwei Mal.
»Ich habe nur noch zehn Tüten Kaffeebohnen, Duaa. Sei sparsam. Wenn die leer sind, war es das mit Kaffee trinken beim Nachbarn.« Sie schüttelt die Mähne und lacht.
»Du bist einzige Mann mit gut Kaffee weit und breit. Und ich einzige Frau, die kommt. Wir können heiraten.« So was wie ein gepresstes Lachen entfährt mir spontan. Ich sehe sie lange an. »Bin ich schön?«, will sie mit forschem Blick wissen.
»Das bist du. Ohne Zweifel.«
»Aber bissel dick«, setzt sie nach, hält die Hand über den Kopf und dreht sich einmal um die eigene Achse.
»Schönheit hat nix mit dick oder dünn zu tun.«
Sie sieht mich an, nimmt die volle Tasse, setzt sich wieder. »Du bist alter Mann. Kannst Vater von Vater sein …«
»Opa …«
»Ja, Opa.« Sie hebt die Tasse an den Mund und trinkt vorsichtig, setzt ab. »Und ich bin alte Frau.«
Ich seufze. »Du bist 45!«
Sie starrt mich mit aufgerissenen Augen an. »Ja! 45 Jahre! Niemand will alte Frau …« Ich atme tief und hörbar ein, denke an den Sand und sehe dann ihre schwarzen Haare. Ganz unvermittelt legt sich ihre Hand auf meine. »Warum du weinst, alter Mann?«
Was sagt sie? Ich weine? Zweimal blinzeln. Mein Blick trübt sich ein. Tatsächlich.
»Weiß nicht«, sage ich wahrheitsgemäß. »Wirklich, ich weiß es nicht. Vielleicht … der ganze Staub im Fenster?«
»Du allein. Wie ich. Aber allein nicht gut«, erklärt Duaa. Ihr Blick wandert über den Tisch, bleibt aber an nichts hängen. »Und der ganze Sand! Bin weg aus Mauritanie wegen Sand. Jetzt kommt Sand nach Europa, nach Deutschland!« Sie schließt die Augen und lehnt sich an, legt den Kopf nach hinten. Fast berühren die Haare den Boden. Ich schweige. Was soll ich auch dazu sagen? Duaa hat recht. Ruckartig nimmt sie den Kopf hoch, fixiert mich mit dunklen Augen, zieht das Tablet heran. »Hast du gelesen? UNO baut Inseln! Seit paar Jahren. Jetzt erst sagen sie uns. Und dass nur die Junge dürfen auf Inseln! Aber nix wir Alte!« Ihre Kohleaugen beginnen zu glühen.
»Du bist nicht alt«, betone ich. Duaas Augen sind magnetisch. Voller Feuer. Für einen kurzen Moment. Dann seufzt sie und alles Glühen erkaltet.
»Gut, ja, bin nicht so alt, aber kann nix. Koche, putze, bete, bei dir Kaffee trinke und quatsche. Lange Haare und schön nicht genug für Insel.«
»Niemand von uns kommt auf so eine Insel, Duaa«, beginnt mein Versuch, sie zu trösten. »Dort brauchen sie Ingenieure, Techniker, Wissenschaftler …«
»Weiß ja«, unterbricht sie mich. Sie zieht jeden einzelnen Finger lang. Ausnahmslos alle geben ein knackendes Geräusch von sich. »Überall Sand«, fährt sie fort. »Afrika, Europa, Amerika. Sogar Peking! Hab ich gesehen in Fernseh. Keine Menschen mehr in Peking.«
Sie nimmt einen großen Schluck, setzt wieder ab, schaut in die Tasse. Vier Jahre ist Duaa nun in Deutschland, hier im Dorf, wohnt in einer kleinen Wohnung gegenüber. Eine der Wenigen, die es noch aus dem Maghreb nach hier geschafft haben. Jetzt kommt niemand mehr. Dort töten der Sand und die Hitze. Und hier? Wir wissen es alle. Was bleibt uns übrig? Duaa trinkt leer.
»Was tust du heute?«, will sie wissen, richtet sich auf, greift mit beiden Händen in die Haare und lässt sie über die Handflächen gleiten. Mir bleibt nichts als Bewunderung.
»Dir zuschauen.«
Duaa lacht, steht auf und trägt die Tasse zur Spüle. »Du hast kein Geschirr. Alles gespült? Dein Wasser steht auf grün. Warum hast du viel Wasser?«
»Ich wasche mich nicht so oft.«
Verwundert schaut sie mich an. »Was ist ‚nicht so oft‘?«
»Einmal in der Woche. Das reicht.«
Sie verzieht das Gesicht. »Also du stinkst. Dann ich dich nicht heiraten.«
»Als wenn du mich heiraten würdest. Ich bin ein Opa. Vergiss das nicht.«
Sie nickt. »Lil’asaf … es tut mir leid, mein Opa. Ich darf dich nicht heiraten, weißt du? Mein Mann ist verlore in Meer. Vielleicht er lebt noch irgendwo.« Sie kommt dicht an mich heran und streicht über meine Glatze. Ich nicke gegen ihre Brust.
»Ja, ich weiß, Duaa. War nur ein Witz.«
»Ich geh jetzt. Is besser.« Mit dem Finger drückt sie mein Kinn nach oben. »Du bist allein. Ich bin allein. Wir alle allein.« Sie nimmt den Hidjab vom Tisch, zieht ihn über, langsam und korrekt, zwinkert mir zu und geht.

Zweiter Akt

Wind kommt auf. Und mit ihm setzt das Knirschen im Mund ein. Genervt zerre ich die Maske aus der Hosentasche, ziehe sie über, prüfe den Sitz. Rasieren ist zwingend erforderlich. Bartwuchs macht undicht. Dann klingle ich bei Herrn Vogelgezwitscher. Er hat eine Automatiktür. Das Netz rollt sich ein und das Stahltürblatt schwingt auf. Es ist kühl im Flur.
»Tür zu!«
Kopfschüttelnd komme ich seiner Aufforderung nach, was ich sowieso getan hätte, aber nicht so zackig. Vogelgezwitscher heißt eigentlich Kevin Lohmann, aber wir Nachbarn bevorzugen die Alternative. Er wohnt seit zehn Jahren im Dorf, hat das Haus nebenan von einem verstorbenen Ingenieur übernommen und damit auch die eingebaute Technik. Photovoltaik, Wärmepumpe, Wasseraufbereitung, elektrostatische Fensterrahmen. Seit der Sand jedoch mehr und mehr die Solarzellen bedeckt und Lohmann immer öfter die Module davon befreien muss, kotzt ihn das Leben hier an und er probiert es mit der Verschönerung der Umwelt mittels Vogelstimmen am Sonntagmorgen und holographischer Blumenwiesen auf der Hauswand. Mit einem Ruck reißt er die Küchentür auf und wirft mir einen stieren Blick zu.
»Du bist es …«
»Ja. Nur ich. Enttäuscht?«
»Ich hab die Du … Du … Dingens bei dir rauskommen sehen. Habt ihr beiden was?«
»Duaa, heißt sie. Duaa Sidi.«
Er macht kehrt. »Wie auch immer«, murmelt er in die Küche hinein. Ich verstehe das als Einladung, folge ihm, setze mich ungefragt an den alten Eichentisch und falte die Hände. Lohmann sieht auf sein Tablet, wischt hin und her, hoch und runter. Tippt zwei Mal, wirft es achtlos auf die Arbeitsplatte und dreht sich mir zu. »Ich hau ab«, eröffnet er mir. Mit diesem Satz überrascht er mich wirklich einmal. Er merkt es mir an. »Jetzt fällt dir nichts mehr ein, was?«
»Nicht wirklich«, muss ich zugeben. »Was verstehst du unter ‚Ich hau ab‘?«
Er stellt eine Schale Eiweißriegel auf den Tisch. Von den Guten. Lohmann hat Geld. Er nimmt Platz, beugt sich vor und sieht mich lange an, als gäbe es eine Verschwörung zu organisieren. Ich nehme einen Riegel, reiße das Papier auf und genieße den tollen Geschmack.
»Hast du von den Inseln gehört?«, fragt er leise.
»Klar, hab ich das, Lohmann. Alle haben von den Inseln gehört.«
Er lehnt sich an, gestreckt, atmet ein, klopft mit der flachen Hand auf den Tisch.
»Ich hab ne Einladung …«
»Einladung? Wofür?«
Lohmann verdreht die Augen. »Einladung ist das falsche Wort. Es ist so was wie eine Berufung, verstehst du?«
Ich kann ihm nicht ganz folgen. »Wohin? Für was?«
Er grinst. »Meine Güte, Heinrich, du weißt doch, was ich bin, oder?« Ich erinnere mich, dass er sich einmal als Molekularbiologe definierte, aber hauptsächlich drehen sich unsere Gespräche um die bei uns so gut wie ausgestorbenen Vögel und Insekten und wer denn in den Treibhäusern die Blüten bestäubt. Und um Duaa. Die seiner Meinung nach nicht so alleine leben sollte als schöne Frau, die sie ja nun mal ist. Mir geht ein Licht auf.
»Du wurdest als Molekularbiologe auf so eine Insel berufen?«
Lohmann nickt mit kleinen Bewegungen, sehr bedächtig und bedeutungsschwer. »Darf eigentlich nicht drüber reden. Hab was unterschrieben, aber dir kann ich es ja sagen. Dir vertraue ich.« Ich presse einen Seufzer durch den geschlossenen Mund und deute auf die Riegel.
»Kann ich noch einen?«
»Klar, Mann. Iss so viel du willst.« Ein breites Grinsen zieht über sein Gesicht. Unverschämterweise lege ich gleich drei Stück neben mich und reiße den ersten auf. »Pass auf, Heinrich. Ich will das Haus verkaufen, nein, ich muss es ja verkaufen. Wollte dich schon vor paar Tagen fragen, ob du es kaufen willst.«
Ich höre auf zu kauen und ziehe die Augenbrauen hoch. »Das Haus kaufen? Und was mache ich dann mit meiner Hütte?«
Er starrt mich entgeistert an. »Was ist das für eine Frage? Hier hast du genug Strom, eine Wärmepumpe, der Staub bleibt fast zu hundert Prozent draußen und es gibt eine Tiefbohrung für Wasser! Du bist so gut wie autark, Heinrich! Sei nicht dumm!«
»Und die Vogelstimmen krieg ich umsonst?«
Lohmann stutzt und bricht in polterndes Gelächter aus, bis er händeringend nach Luft schnappt. Ich stehe auf, klopfe ein paar Mal auf seinen Rücken und drücke ein Glas Wasser aus dem Ventil. Vorsichtig hebe ich es gegen das helle Fenster. Klar und kühl. Nicht wie das von uns anderen. Während wir mit immer weniger Wasser zurechtkommen müssen, das meist aus der Aufbereitung kommt, die Dürre uns fest im Griff hat, pumpt Lohmann sein eigenes Wasser aus wer weiß wie viel Meter nach oben. Ein Haus mit einem gerichtlich bestätigten Brunnenrecht zu kaufen, war sein Meisterstück. Ohne Zweifel. Ich trinke das Glas leer.
»Lohmann, ich bin achtzig Jahre alt. Was denkst du, wie lange ich noch lebe?«
Er zeigt mir den Rücken, zuckt mit den Schultern. »Wie lange du lebst, weiß ich nicht. Aber du könntest gut leben.«
Ich will antworten, dann wiederhole ich in Gedanken den letzten Satz. »Hm, da ist was dran …«
»Du musst ja deine Hütte gar nicht verkaufen. Die Kommune sucht ständig Wohnungen für die Migranten aus Südeuropa. Du vermietest an die Gemeinde zu einem guten Preis und überweist mir die Kohle.« Ich schweige. Von irgendwo her beschleicht mich die Erkenntnis, dass diese Idee gar nicht mal so übel ist. »Außerdem … ja, ich muss dir noch was sagen …«
»Was?«
»In diesen Verträgen, du weißt, mit der UNO, den Inseln, da …« Lohmann wird still, bekommt so einen Blick nach innen. Er darf es ja gar nicht erzählen. Jetzt hat er wohl Fracksausen.
»Ich bin ganz Ohr, Lohmann.«
»Es wird kein Geld geben. Keinen Lohn. Ich brauche also kein Geld mehr. Man hat eine kleine Wohnung, Essen, ein ganz normales Leben, so weit das auf einer Insel normal sein kann. Sie sagen, dass es eine Arbeit für die Gemeinschaft ist. Für die Menschen auf so einer Insel …«
Sein Blick driftet erneut ab. Träumt er? Lohmann scheint begeistert. Nach zehn Jahren Nachbarschaft macht es Klick bei mir. Lohmann ist ein Idealist und hat noch so was wie eine Utopie im Hinterkopf. Das Vogelgezwitscher fällt mir ein, die mit Blumenwiesen ausgeleuchteten Außenwände. Was soll ich ihm antworten? Was sagen?
»Okay, Lohmann. Ich mach es.«
Sein Blick kehrt zurück an diesen Tisch. Dann lächelt er und legt die Hand auf meinen Unterarm. »Danke. Das ist gut. Frag doch die Frau von gegenüber, ob sie nicht hier mit dir zusammenwohnen will. Kann man gut zwei Wohnungen draus machen. Ihr müsst ja nicht gleich heiraten. Die Menschen sollten zusammenhalten solange es geht. Warte, ich zeig dir was …« Er steht auf, holt das Tablet und legt es auf den Tisch. Die Nachrichten von heute Morgen. SARS-CoV4 und dieser indische Nipah-Virus wüten in Fernost. Die Menschen sterben wie die Fliegen. In Massen. Oder vegetieren dahin. Lohmann schiebt das Tablet beiseite. Gerade im richtigen Moment. Sonst hätte ich es getan. »Morgen gehen wir zum Notar ins Rathaus und bringen das mit dem Verkauf hinter uns«, kündigt er an.
»Aber gleich um sieben Uhr«, schlage ich vor. »Wir sollen an die 38 Grad bekommen. Da will ich schnell wieder daheim sein.« Er nickt. Ich denke an das Vogelgezwitscher und Duaa.

Dritter Akt

Dieses Mal klingle ich bei Duaa. Das dritte oder vierte Mal in den Jahren ihres Hierseins. Durch die Tür höre ich deutlich ihre Schritte. Sie öffnet und blickt mich überrascht an. »A-Salaam-Aleikum«, eröffne ich. Sie ist baff. Sprachlos. Steht wie angewurzelt im Flur, den Türgriff in der Hand. Es ist mehr als heiß und der Schweiß drückt sich aus jeder meiner Poren. »Komm rüber zu mir, Duaa. Ich möchte dir einen Vorschlag machen. Außerdem ist es in meiner Küche kühl und es gibt eine Tasse Kaffee extra.«
Sie nickt und schlägt die Tür zu. War gar nicht so schwer, denke ich, blinzle zum Himmel hinauf. Keine Wolke, aber hoch oben gelbe Schlieren, die das Licht diffus streuen. Sand. Die Sahara bestraft uns. Eine fast schattenlose Welt. Ich spüre mein Herz. Der Hals pocht. Zeit für etwas Abkühlung. Langsam quere ich die sandige Straße, schaue zurück auf meine Spuren, die der Wind nach wenigen Minuten verwischt. Wieder ein Schlagen der Tür. Schnelle Schritte. Duaa hakt sich unter und zieht mich mit in die Durchfahrt. Ich schließe auf, wir gehen ins Haus, durch den Flur in die Küche. Ihr Hidjab landet auf dem Tisch, geschüttelte Haare treffen mich am Hinterkopf.
»Jetzt was los, Vater von Vater …«
»Opa.«
Sie geht schnurstracks zur Kaffeemaschine, greift auf dem Weg nach der größten Tasse in meinem Besitz und drückt zwei Mal. Vorsichtig balanciert sie die randvolle Tasse zum Tisch und setzt sich. »Ich höre.«
»Vogelgezwitscher verkauft sein Haus. Er geht weg.« Duaa nickt nur. Als wäre das alltäglich. »Ich habe es gekauft«, eröffne ich ihr. »Heute Morgen.« Ihre Augen werden groß. Größer als sie eh schon sind und ich wäre am liebsten hineingesprungen.
»Du hast doch Haus! Bist du Millionär, oder was?«
»War gar nicht so teuer. Ich werde mein Haus der Gemeinde vermieten. Die ganzen Flüchtlinge aus Südeuropa brauchen Wohnungen und …« Duaas Blick lässt mich schweigen. Sie beugt sich zur Tasse und schlürft einen großen Schluck, packt dann mit beiden Händen zu und trinkt sie halbleer. Ich verstehe es nicht. Das muss doch wahnsinnig heiß sein. Langsam richtet sie sich wieder auf und schüttelt den Kopf.
»Du bist alt … Opa. Achtzig. Ich mag dich. Aber guck … wer hat Scheiße gemacht? Spanier, Italiener, Franzosen, Deutsche, alle in Europe«, sie winkt ab. »Und noch viel andere.« Ich kann ihrem Blick nicht ausweichen. »Was meinst, haben Menschen in Mauritanie Scheiße gemacht? Oder in Senegal? Oder wo?« Sie steht auf. Geht Kreise in der Küche. Setzt sich wieder. »Warum bin ich in dein Küch?«
»Ich, äh, wollte dich fragen, ob du mit mir zusammen in Lohmanns Haus ziehst. Du musst keine Miete zahlen, hast Wasser aus dem Brunnen, Strom vom Dach und Warmwasser von der Wärmepumpe. Ich wohne unten, du oben …« Dass ihre Wohnung frei wird für Flüchtlinge verschweige ich lieber.
»Warum soll ich das tun?«
»Ich bin achtzig. Und krank. Ich brauche Hilfe. Du wohnst im Haus, musst nichts zahlen, nur mir ab und zu helfen.«
»Und ich muss dich nicht heiraten?«
Ich muss lachen. Es schüttelt mich mehr und mehr, bis die Lendenwirbel bohrenden Schmerz durch den Körper jagen und ich fast vom Stuhl rutsche. Duaa greift zu, rückt mich gerade. Ich verziehe unwillkürlich das Gesicht, so weh tut es. »Ich hab Kraft. Du hast kaputte Rücke, was?«
»Ja, leider.«
»Scheiße!«
»Duaa, du musst mich nicht heiraten. Aber ich vertraue dir und … ich mag dich. Mir fällt sonst niemand ein, den ich fragen könnte.«
»Du bist achtzig. Bald vielleicht sterben. Und dann?«
»Erbst du das Haus.«
»‘Erbst‘? Was ist ‚erbst‘?«
»Ich schreibe auf ein Papier, dass es dir gehört, wenn ich sterbe.«
Sie macht einen beeindruckenden Schmollmund, reibt die Nase dabei und sieht mich lange an. Ich sehe, wie die Glut langsam ihre Augen ausfüllt. »Inschallah, Opa.« Sie kippt den Kaffee in einem Zug in sich hinein, steht auf und drückt eine zweite Tasse. Das Mahlwerk raspelt lauter als sonst? Oder hat mich ihr Einverständnis aufmerksamer werden lassen? »Freust du dich, Opa?«, ruft sie durchs Mahlgeräusch.
»Ja, ich freue mich.«
Sie grinst, wartet das Befüllen ab und setzt sich neben mich. »Hast du kein Familie?« Die Frage trifft mich wie der Schmerz beim Aufstehen. Quer durch den ganzen Körper. Ohne eine Möglichkeit zu entkommen. Ich stehe auf, gehe in den Flur und von dort in die kleine Gästetoilette. Schließe die Tür ab, knipse das Licht an. Nichts zu lesen da. Noch drei Rollen vom Eiweiß-Klopapier aus dem 3D-Drucker. Also setze ich mich auf den Deckel und schalte das Licht wieder aus. Sie kann ja nichts dafür. Natürlich. Eine ganz normale Frage. Jeder hat eine Familie, oder? Lohmann offenbar nicht. Auf den Inseln ist es wohl ohne Familie besser. Und schließlich kann man dort auch jemanden finden, sich verlieben, Kinder bekommen … Kinder auf Inseln? Dann sehen sie nur Wasser und die Insel. So kommen sie auf die Welt, werden groß und das Land ist außerhalb ihrer Realität. Neue Menschen. Und wir? Wie Brechdurchfall bricht das Schluchzen aus mir heraus. Findet alle Öffnungen. Augen, Nase, Mund, nichts hält es auf. Nicht mal der Schmerz im Rückgrat. Ich bin zu laut, denke ich. Es klopft an der Tür.
»Opa … mach auf! Bitte!«
Zuerst schalte ich das Licht an, schnäuze ein paar Mal in das Einmal-Handtuch und spüle mit einer Handvoll Wasser die Tränen aus dem Gesicht. Dann schließe ich auf. Duaas Hände greifen zu, ziehen mich raus. Kraftvoll schiebt sie mich in die Küche. Ich komme mir vor wie ein Brotteig an dem ein Profi seine Knetkünste exerziert. Schon sitze ich. Duaa mir gegenüber. Bevor sie den Mund aufmachen kann, lege ich den Zeigefinger auf ihre Lippen. Sie lässt es geschehen. Der Schublade entnehme ich meine Kladde und lege sie auf den Tisch. »Meine Familie«, sage ich. Duaa sieht mich lange an. Sie ist unsicher. Was ihre Augen ausdrücken können, ist faszinierend. Wie flackernde Kerzen im Wind, so bricht ihr Blick wieder und wieder. Dann öffnet sie das alte Heft, blättert, Seite für Seite. Das erste Foto.
»Meine Frau. Vor fünfzehn Jahren gestorben. Krebs.« Duaas Daumen fährt ein Muster über das Bild. Blättert weiter. Ein junger Mann. Voller Kraft, mit Rauschebart. Zwischen Bäumen, die heute längst nicht mehr stehen. »Mein Sohn. Vor zwanzig Jahren ums Leben gekommen. Unfall. In Chile. Bäume absägen, für die es zu warm wurde. Ein alter Baum hat ihn erschlagen.« Duaa sieht mich mit gesenktem Kopf an. Hält die Hände still. Ich blättere für sie weiter, drei Seiten. Bis zu einer jungen Frau.
»Meine Tochter. Niemand weiß, wo sie ist. Hat bei Ärzte ohne Grenzen gearbeitet als Logopädin. Menschen mit Kriegsverletzungen das Sprechen beibringen. War in Äthiopien. Das ganze Team ist verschwunden.« Langsam lehne ich mich an und weiß nicht, was ich sagen soll. »Vielleicht lebt sie ja noch …«, flüstere ich an die Decke.
»Wann ist verschwunden?«
»Vor dreizehn Jahren.«
»Allah ma’ak, Baabaa.«
»Ich weiß nicht, was das heißt, aber danke.«
»Du bist nicht allein …«, sie stutzt. »Warum ich weiß nicht dein Name?«
»Heinrich.«
»Das schwer. Geht anders? Nom en français?«
»Aber ja. Henri.«
Duaa klappt das Heft zu und legt die Hand darauf, schließt die Augen und murmelt ein paar unverständliche Worte. Sicher ein Gebet auf Arabisch. Ich lasse sie. Es beruhigt mich seltsamerweise. Mir fällt ein, dass diese Kladde sicher schon seit fünf oder sechs Jahren in dieser Schublade ruht und ich mich geweigert habe, sie herauszuholen, um darin zu blättern. Schließlich ist alles vorbei. Familie und Leben. Warum tue ich das hier? In Lohmanns Haus ziehen? Meines vermieten. Duaa fragen, ob wir zusammenwohnen. Ich schüttle den Kopf über so viel Unvernunft. Ob man im Alter so wird? Irrational?
»Henri«, holt mich Duaa zurück. »Wann ziehen wir ein?«
Für einen Moment bin ich perplex. »Lohmann ist in vier Tagen weg. Er wird Freitag in der Früh abgeholt.«
Sie nickt. »Freitag ist gut. Muss noch alles packen. Und Möbel?«
»Drüben gibt es alles doppelt und dreifach. Nimm nur deine Papiere mit, Kleider, persönliche Sachen …«
»Hab ich nicht. Liegt alles in Meer.« Sie steht auf. »Ich gehe und packe. Morge und übermorge muss ich arbeite. Bei Doktor putze.« Dann verschwindet sie. Mit einer Hand auf meiner Schulter, die kurz zudrückt, deren Wärme ich für zwei Sekunden genieße. Es ist still. Da liegt die Kladde. Aus einem Reflex heraus will ich sie tief in der Schublade vergraben. Etwas in mir wehrt sich. Mit einem Eiweiß-Riegel und der Kladde gehe ich ins Wohnzimmer, nehme das Tablet vom Tisch und suche nach den Inseln.

Vierter Akt

Es gibt Kämpfe in zehn südafrikanischen Städten. Die Regierung hat den Notstand ausgerufen, sagt die Sprecherin. Ich wische das Bild auf den großen Schirm. Die Armee dort hat sich teilweise aufgelöst. Australien wird seine Bürger nächste Woche auffordern, das Land zu verlassen. Zu heiß, Dürren, kein Wasser mehr. Der Premierminister bittet Commonwealth-Staaten um Aufnahme und Unterstützung. Und die Viren sind in Russland, Bulgarien und Rumänien angekommen. Experten befürchten ein schnelles Übergreifen auf Resteuropa. Man befiehlt den Menschen, in den Häusern zu bleiben.
Ich meine, im Augenwinkel der blonden Sprecherin eine Träne zu entdecken. Ihre Brust hebt sich ein paar Mal heftig. Sie ringt nach Atem, bewahrt die Fassung so gut es geht. Dann geht es um Essensmarken für folgende Städte und Regionen … ich schalte ab und suche im Netz nach Informationen über die Inseln. Die UNO baut Werften auf den Kerguelen … wo sind die Kerguelen? Ah, zwischen Südafrika und der Antarktis. Weitab von allem. Norwegen hat angeboten, der UNO Spitzbergen zu überlassen. Schließlich sei dort auch der Global Seed Vault. Dann entdecke ich einige Fotos von diesen ominösen Gebilden. Wie Sterne sehen sie aus. Offenbar können sie sogar abtauchen, um den vielen Wirbelstürmen zu entkommen … ich lege das Tablet weg und denke an Duaa. Was wird es uns bringen, gemeinsam in Lohmanns Haus zu wohnen? Es klingelt und ich seufze.

»Lohmann … hast du kein Leben mehr? Noch nicht gepackt?« Er drückt mich weg, kommt herein, geht direkt in die Küche und setzt sich.
»Und? Hast du die Dame aus …«
»Mauretanien.«
»… Mauretanien überzeugt?«
»Hab ich.«
Er nickt, wie um sich selbst zu bestätigen. »Ich glaube, du warst früher mal ein ganz schöner Schwerenöter.«
Schwerenöter … das Wort habe ich schon fünfzig Jahre nicht mehr gehört. »Sag mal, Lohmann, was ich mich schon immer und dich nie gefragt habe: hast du keine Familie?« Er presst die Lippen zusammen und schüttelt den Kopf.
»Um Gottes Willen. Ein Leben voller Kompromisse. Nix für mich.«
Ich überlege kurz und denke an die Inseln. Seine Zukunft. »Glaubst, dass es auf so einer Insel nicht ausschließlich um Kompromisse geht?«
»Kann schon sein. Ich weiß nur, dass ich hier weg will.« Er steht auf, läuft durch die Küche wie ein gehetzter Hund. »Hast du die Nachrichten gesehen? Die Viren kommen näher. Was denkst du, wie lange es dauert, bis sich das um uns herum ebenfalls auflöst? So wie in Südafrika …«
»Nicht lange, vermute ich …«
Er starrt mich entgeistert an, steht neben dem ausrangierten Kühlschrank. »Wie kannst du nur so ruhig bleiben?«, setzt er leise nach.
»Bin achtzig und krank.« Mehr muss ich nicht sagen. Lohmann nickt gedankenverloren. Mit dem Blick irgendwo, nicht in meiner Küche. »Kann ich dir was zu trinken anbieten?«, versuche ich eine Ablenkung. »Ich habe noch ein paar Flaschen Rotwein. Darunter Achtzehnjährige.« Er ist abwesend. Ich bekomme keine Antwort, also gehe ich in die Speisekammer, hole eine Flasche Spätburgunder aus dem Regal, entkorke sie und schenke uns ein. Lohmanns Position am Kühlschrank hat sich nicht verändert. Behutsam bugsiere ich ihn an den Tisch.
»Setz dich, Mister Vogelgezwitscher.« Der Aufforderung kommt er nach. Ich ebenso. Der Spätburgunder verströmt einen Duft nach Brombeeren und Kirschen. Ich habe noch drei Kisten davon. Mit echtem Kork, liegend gelagert. Darauf bin ich stolz. Und mein Nachbar sitzt da wie ein Häufchen Elend. »Komm, lass uns anstoßen, Lohmann«, animiere ich ihn, hebe das Glas, ziehe absichtlich geräuschvoll den betörenden Duft in die Nase. »Auf deine Zukunft … immerhin hast du eine.« Jetzt hebt er den Kopf und zieht die Augenbrauen zusammen.
»Du bist achtzig. Aber die Frau aus Mauretanien und viele andere noch nicht.« Von seiner Jammerei genervt, halte ich ihm sein Glas vors Gesicht.
»Los! Trink! Du hast mit allem recht. Und jetzt? Es gibt immerhin einen Plan. Und du bist Teil des Plans. Wenn du mich fragst …« Ich werde ungeduldig und kippe den Spätburgunder in mich hinein, schenke nach. Lohmann trinkt endlich und macht ein erstauntes Gesicht.
»Gut, ich frage dich«, sagt er dann. »Was denn eigentlich?«
»Wenn du mich fragst, haben wir es nicht verdient, das Überleben. Wir sollten Platz machen für Neues. So viel Unvernunft auf einen Haufen ist Grund genug, uns von der Oberfläche zu fegen.«
Er trinkt leer. Gießt sich zügig nach. Schaut auf das etwas verblasste Etikett und nickt anerkennend. »Ich bin depressiv«, gibt er dann zu und trinkt aus. »Das macht mich alles fertig. Aber du …«, mit dem leeren Glas deutet er in meine Richtung. »Du bist ein Defätist. Das sind die Allerschlimmsten. Dir ist alles scheißegal.«
Ich schnalze mit der Zunge, schüttele ein wenig den Kopf. »Dir steht dein Idealismus im Weg, Lohmann. Sieh es realistisch. Die Menschheit verschwindet. Ein paar bleiben übrig und versuchen einen Neuanfang oder was auch immer da mit diesen Inseln geplant ist. Was sollen die mit uns Alten anfangen? Ihr braucht die Besten, nicht den Müll. Wenn du die Kontrolle über das Ganze verlierst, solltest du wenigstens die Kontrolle über ein paar Wenige behalten. Und sei ehrlich …« Ich starre in seine Augen. »Wir hatten lange genug Zeit, es abzuwenden oder uns darauf einzustellen.«
Er zeichnet imaginäre Figuren auf den Tisch. Ich trinke leer und schenke uns wieder nach.
»Und? Hast du etwas dafür getan, die Katastrophe abzuwenden?«, will er mit herausforderndem Blick wissen. Auf diese Frage gibt es eine einfache Antwort.
»Nein, habe ich nicht. Okay, diese PV-Anlage, aber am Ende habe ich doch alles hingenommen. Am Ende wollte ich, wollten wir einfach leben, und …« Meine Stimme bricht.
»Und?«
»… und als sich meine Familie auflöste, verschwand, dachte ich, es wäre gut, die Menschen und das Leben zu bestrafen … mich zu bestrafen.«
Lohmann leert das Glas und schaut in die Flasche. Sie ist leer. Ich hole Nachschub.
»Bestrafen für was?«, höre ich im Rücken.
»Dafür, dass ich am Leben geblieben bin.«
Er schweigt. Ich ziehe die Flasche aus dem Regal, schließe die Tür und starre auf den Griff.

Fünfter Akt

Er ist weg. Ganz unauffällig mit einem E-Taxi. Noch jemand saß darin. Eine Frau mittleren Alters. Sicher eine Koryphäe auf ihrem Gebiet. Die besten eben. Vor einer Stunde war es zu Zwischenfällen in Karlsruhe und Mannheim gekommen. Ein Mob hatte Geflüchtete aus Bulgarien und Rumänien am Bahnhof abgefangen und massakriert. Angst vor den Viren. Hass auf die ausweglose Situation. Nur noch die Eiweißriegel, Essensmarken, der ewige Sand und diese Hitze. An die dreihundert Geflüchtete starben. Ein Blutrausch. Die Bundespolizei hat das Feuer eröffnet, in die Luft, dann in die Menge. Fünf Menschen aus dem Mob starben. Ansonsten wäre die Polizei der Situation nicht mehr Herr geworden, sagte jemand im Deutschlandfunk. Nun ist der Frieden in beiden Städten und anderswo dahin. Ich gehe vor Duaas Tür und klingle. Sie öffnet in derselben Sekunde. Zwei Koffer neben sich.
»Ist das alles?«, rutscht mir erstaunt raus.
»Mein ganzes Leben«, erklärt sie nickend.
»Ganz schön wenig Leben.« Sie lacht und ich nehme einen der Koffer.
»Meine Güte, ist der schwer …«
»Komm, alter Mann, ich mach das.«
»Nix.«
Mühsam schleppe ich den größeren der beiden bis zu Lohmanns Hauseingang, wuchte ihn hinein. Duaa trägt ihren ohne Anzeichen von Schwäche. »Jetzt Kaffee?«
»Ja, ich habe die Kaffeemaschine und das Wichtigste schon rübergetragen.« Wir stellen ihre Koffer ab und machen es uns in Lohmanns Küche gemütlich. Duaa gibt einen schrillen Pfiff von sich. Ich zucke zusammen.
»Er ist reicher Mann.«
»Zumindest hat er keine Not gelitten …«
Duaa sieht mich fragend an. »… keine Not gelitten …«, wiederholt sie langsam.
»Das ist besseres Deutsch für: er war nicht arm.« Sie nickt und schaltet die Kaffeemaschine an. Ich setze mich und ziehe ein paar Bögen Papier aus meiner Ledertasche, lege sie auf den Tisch. Wie selbstverständlich bringt sie kurz darauf zwei volle Tassen Kaffee und stellt beide auf das Eichenholz.
»Jetzt wir sind Ehepaar.«
Ich grinse sie an, pralle aber an ihrem ernsten Gesicht ab und stutze. »Meinst du das wirklich so?«
»Ich meine so. Ja.«
Mir fehlen die Worte. Obwohl ich ein dutzend Mal zu etwas ansetze, bringe ich doch nichts zuwege. Nur einen offenen Mund. Und ein Zittern. Oder Schüttelfrost oder einfach Einsamkeit. Duaa steht auf, drückt mich an ihre Brust, streichelt über meine Glatze und zitiert ganze arabische Lexika. Redet in dieser wunderbar weichen Sprache voller Bögen und Harmonien, bis ich wieder ruhig vor ihr sitze. Der Kaffee wird inzwischen kalt geworden sein. Langsam setzt sie sich und deutet auf die Papierbögen. »Was ist das?«
»Mein Testament. Alles gehört dir, wenn ich sterbe. Gestern Morgen war ich beim Notar. Mach damit, was du möchtest. Versuch zu überleben.«
Vorsichtig legt sie die Bögen aufeinander, steckt sie in den Karton und ihn in meine Ledertasche. »Shukraan laekaa, Henri.«

»Montag wir gehen zu Rathaus, dein Haus vermieten?«, fragt sie mich am Abend, als wir in Lohmanns, nein, in unserem Wohnzimmer auf den Monitor starren.
»Ja, machen wir. Und was ist mit deiner Wohnung?«
»Hab schon gesagt bei Gemeinde, dass ab heute leer. Sie war sehr froh.« Duaa sitzt neben mir wie seit vierzig Jahren verheiratet. Immer wieder sehe ich sie von der Seite an. Alles an ihr ist markant. Wie eines der großen Sternbilder. Wangen, Nase, das Kinn, lange Wimpern. Die Haare, Lohmanns halbe Zweier-Couch bedeckend. Seit sehr langer Zeit denke ich wieder an meine verstorbene Frau, meine Kinder. Es drängt mich, Duaas Kopf zu berühren, stoppe aber die Bewegung.
»Duaa?«
»Hm?«
»War das dein Ernst, dass wir verheiratet sind? Gibt es das im Islam?« Sie lacht laut auf. Dreht den Kopf. Das Glühen der Augen erdrückt mich fast.
»Nein, Dummerche! Aber bei Duaa! Wir sind es einfach. Oder?«
»Warum?«
»Jetzt wir sind nicht mehr allein. Allein ist nicht gut. Schau da in Fernseh. Heute in Mannheim, du gesehen? Ist überall. Kommt immer näher. Allein lebe, wir sterbe auch allein.« Sie beugt sich zu mir, legt meinen Arm um ihre Schulter und drückt den Kopf gegen meine Brust. Fast hätte mich etwas in mir zum Aufspringen gebracht. Aber ich zwinge meinen Blick auf die Haare. Vorsichtig streiche ich ihr Ohr frei, lege die schwarze Pracht nach hinten weg, fahre Linien und Formen ihres Gesichtes nach. So starren wir auf die Bilder. Bis ich irgendwann einschlafe.

Das Zimmer ist blau. Dann wieder dunkel. Und wieder blau. Bis ich begreife, dass ich in Lohmanns Wohnzimmer liege, jemand die Couch in ein Bett verwandelt hat und dieser Jemand mich ansieht, über mich gebeugt, vergeht eine geraume Zeit.
»Was ist …«
»Polizei«, flüstert Duaa. »Viel Polizei. Fahre seit zehn Minute an Fenster vorbei.« Wieder blaues Leuchten an der Decke und Duaas nackte Schultern über mir. Mit ihren Haaren kann sie uns wohl ganz zudecken. Von ihrem Gesicht ist kaum was zu sehen.
»Ich sehe dich gar nicht vor lauter Haaren.«
»Oh, warte …« Mit einer komplizierten Bewegung wickelt sie alles zu einem großen Knoten zusammen.
»Hast du nichts an?«
»Nein«, bestätigt sie grinsend. Ich taste mich ab und bin beruhigt. Dann beginnt sie mein Hemd aufzuknöpfen. Bis zum vierten Knopf schafft sie es.
»Duaa … Duaa, warte!«
»Was?«
»Ich nehme da so Medikamente, Blutdruck und so, also, da ist dann kaum noch Blut da für … du weißt schon …«
Sie lacht. »Das nicht wichtig, Henri. Wir nackt und streicheln. Wir fühlen. Ich dich und du mich. Wir nicht mehr allein.« Ihre Worte, diese Stimme, all diese Selbstverständlichkeit bringen mich zum Schweigen. Beseitigen den hirnverbrannten Widerstand.
»Ja, du hast recht.«
Duaa zieht mich vollständig aus, legt sich neben mich. Von den Zehen bis zur Stirn spüre ich ihre Haut. Vorsichtig drehe ich mich ihr zu, im Stillen meinen Rücken um Erbarmen anflehend, lege die Hand auf ihren Bauch und spüre das Leben in ihm. All die Wärme und Weichheit. Der Zauber von Duaas Existenz.
»Henri?«
»Hm?«
»Morge Samstag. Solle wir Vogelstimme einschalte? Für alle Menschen drauße?« Ich überlege. Und staune dann über eine Weisheit, die ich zuvor wohl übersehen haben muss in diesem ganzen Vogelgezwitscher. Tagein, jahraus. Lohmann hatte recht.
»Ja, eine gute Idee, Duaa. Wirklich eine gute Idee. Das machen wir jetzt jeden Morgen.«
Sie lächelt in das blaue Leuchten hinein.

Diese Geschichte

Entstanden im Jahr 2022. Die erste Geschichte aus dem Buch DIE NIEDERLAGE DER NIKE. Hier gehe ich ein wenig auf die Inseln ein, wie sie ungefähr aussehen, wer aufgenommen wird in die Riege der auserwählten Menschen. Und natürlich zieht das Unmut nach sich. Schweigeverpflichtungen sind da noch harmlos. In die Fluchtbewegungen hinein brechen bakterielle und virale Epidemien. Mit Kontrolle ist nicht mehr viel. Und die beiden Menschen? Ziehen zusammen. Viel Zeit wird ihnen nicht bleiben. Ein kurzes Glück. Okay, sagt mir gerne Eure Meinung oder lest die folgenden elf Geschichten zum Thema. Viel Spaß.

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