Diên Biên Phu

Etwas zu fest schlage ich die Kühlschranktür zu. Auf dem Stahlblech klirren die Kölschgläser. »So ein Dreck!« Ich überlege krampfhaft, woher ich Mineralwasser bekomme. Leoni schubst mich von hinten.
»Wat is?«, ruft Leoni.
»Peter hat vergessen, Mineralwasser zu kaufen. Ist nur noch ein Kasten in der Kühlung und zwei hinten.«
»Dat is genug, bis Mutti die Kinder ruft. Und ab zwölf isset scheißegal. Sind eh alle dicht und wir nehmen Leitungswasser.« Leoni nimmt sich Eimer, Schwamm, Spültuch und beginnt die Tische abzuwischen. Sie ist die beste Hilfe, die ich in all den Kneipenjahren erlebt habe. »Sonst alles da?«, ruft sie herüber. »Cola, Fanta, Apfelsaft? Wat is mit Wein?«
»Reicht noch bis übermorgen, wenn kein Krieg ausbricht.«
»Und das andere Zeug? Schweppes und was es noch an Saft gibt?«
»Das hat Peter seltsamerweise heute Morgen besorgt, obwohl der Kühlraum voll ist. Kaffee, Milch, Zucker, alles im Soll. Aber Mineralwasser …«
»Mach dir keinen Kopp. Das passt«, versucht sie mich zu beruhigen. Leoni ist an Tisch 11, richtet sich auf, drückt beide Hände in den Rücken und dehnt sich. »Ah! Mann! Viel schlimmer ist mein Kreuz! Ich werde so schnell alt.« Ich zapfe den Schaum aus den neuen Fässern, entlüfte die Anlage, kippe den Inhalt eines Kölschglases in den Ausguss und mustere Leoni.
»Ich würde mich sofort in dich verlieben! Aber du magst ja nur Mädels!«
Leoni wischt ungerührt weiter. »Und ich würde mich sofort in dich verlieben, Heinrich, aber ich mag nur Mädels.« Wir grinsen. Dann zähle ich 150 Mark Kleingeld in die Ledertaschen der Bedienungen und lege die Mix-für-den-frühen-Abend-Kassette ins Deck. Die Stones beginnen zu grooven.

»Kalender! Kasse umgestellt? Ist achtzehn Uhr«, ruft Leoni von der Eingangstür. Kalender? Das habe ich ganz vergessen. Ich öffne die Kasse und stelle auf 10. Mai 1986, zähle noch mal den Inhalt und vergleiche das Ergebnis mit dem von letzter Nacht. Stimmt überein. Leoni schließt die Außentüren auf und im Laufe der nächsten Stunde sind wir fast voll belegt, zumindest die Tische. Kurz vor 19 Uhr kommt Cello. Ein Stammgast, den alle Cello nennen, weil er ab und zu mit einem Cello durch die Straßen rennt. Niemals hat ihn jemand spielen sehen. Keiner weiß, wie alt Cello ist oder sein richtiger Name lautet. Er hat immer Geld, prellt nie seine Zeche, kommt jeden Abend und sein Platz ist der erste Barhocker neben dem Zigarettenautomaten.
»Mhhrhm«, knurrt Cello als er sich mit elegantem Schwung auf den Barhocker schwingt.
»Nabend, Cello. Wie geht’s?«
»Mhhrhm«, antwortet er. Es geht ihm gut.
»Kölsch?« Seine Augen leuchten mich an. Leoni beugt sich über die Theke.
»Machste mir bitte für die ‚8‘ ein Bitter Lemon und ein Kölsch, für die ‚13‘ einen Milchkaffee, ein Nullfünfer-Apfelschorle.«
»Okay.«
Während ich die Getränke richte, kommt Schmitti herein, wie Cello ein langjähriger Stammgast, setzt sich an die Theke vor die Schankanlage und atmet tief ein und aus.
»Nabend, Heinrich, Servus Cello.« Er nickt Richtung Zigarettenautomat.
»Nabend, Herr Schmitz. Wie war dein Tag? Komplett verstrahlt?«
»Nix verstrahlt. Die Fahrgäste …«, schüttelt er den Kopf und winkt ab. Ich höre Cellos Fingerklopfen auf der Theken und stelle sogleich ein volles Glas vor seine Nase.
»Die Fahrgäste!«, ruft Schmitz gegen die Barwand.
Leoni kommt und legt einen Zettel neben die Kasse. »Hier, für die ‚12‘ drei Kölsch, für die ‚7‘ ein helles Weizen und, äh, nen Fencheltee? Ham wir so was?«
»Klar ham wir so was. Getränke für die ganz Harten sind hinten im Safe.« Leoni grinst und nimmt die vorige Bestellung mit.
»Fencheltee«, sagt Schmitz. »Wer trinkt denn Fencheltee? Mach mir mal eine Null-Fünfer-Dröhnung, bitte.«
»Was ist mit deinen Fahrgästen, Schmitti?« Ich arbeite an Leonis Bestellung und gieße Schmittis Dröhnung zusammen. Großes Glas mit vier Fünftel Cola und einem Fünftel Southern Comfort plus dem Saft einer halben Zitrone mixe und vor Schmitti auf einen Deckel stelle.
»Sie haben mir Linie 10 gegeben, Zollstock, Ford-Werke. Fahr ich ungern, weißte ja. Zu den Proleten nach Merkenich. Aber«, er gönnt sich einen ordentlichen Schluck, »heute steigt so eine Alte am Ebertplatz ein, natürlich vorne bei mir, und will wissen, ob ich nach Zollstock fahre. Ich sage Ja, aber sie geht nicht weiter, sondern fragt noch mal und noch mal und während sie da steht, läuft so en weißes Zeug aus ihrer Plastiktüte unten raus. Nicht wenig.«
»Milch?«, unterbreche ich ihn und Schmitti nutzt die Pause für den nächsten Schluck.
»Bestimmt«, nickt er. »Das läuft und läuft, die schiefe Ebene zum Einstieg runter, sammelt sich da, und ich sag zu ihr: Gute Frau, sehen sie sich diese Sauerei an! Wer macht denn das wieder weg? Aber sie reagiert nicht! Zollstock?, fragt sie immer wieder. Ich sage – ach was – ich schreie ihr ins Ohr: Nein, ich fahre nach Marsdorf! Da steigt sie endlich aus.«
Schmitti trinkt und ich lache.
»Erschießen!«, kommt aus Cellos Ecke. Schmitti und ich sehen zu Cello. Sein Glas ist leer. Ich nehme ein frisch gefülltes und drücke es ihm in die Hand.
»Zum Wohle, Cello. Man kann nicht jeden erschießen, der einem nicht gefällt«, kläre ich ihn auf.
»Doch. Kann man«, meint er.
»Na, jedenfalls«, fährt Schmitti fort, »hab ich sie nicht erschossen. Die Leute sind durch das weiße Zeug gestiefelt und haben mir den ganzen Wagenboden verklebt. Aber …« Leoni kommt und zieht an meinem Ärmel.
»Tisch ‚1‘, vier Studenten! Fahr die Produktion hoch. Ich nehme vier Kölsch mit, mach du gleich noch acht nur für diese Jungs. ‚2‘ und ‚5‘ Kölsch bis zum Abwinken.«
»Ist gut, Leoni.«
Schmitti trinkt leer und Cello ebenso. Beide nicken. Aus der Ecke hole ich zwei volle Kartons Kölschgläser und stelle sie aufs Stahlblech. Die Produktion hochfahren, meinte Leoni. Auf ihren Instinkt ist Verlass. Nach und nach fülle ich ein Glas nach dem anderen, reiche eines davon an Cello und mixe eine weitere Dröhnung für Schmitti.
»Aber«, setzt Schmitti erneut an, »das war noch nicht alles. Ne Stunde vor Feierabend steigt so ein Kerl mit seiner Töle in Wagen zwei. Die Töle kackt in die Ecke, wo die Kinderwagen stehen! Kannst du dir das vorstellen?! Unten am Südfriedhof. Die Leute fangen an zu murren und zu rufen. Ich halte die Bahn an und …« Schmitti trinkt einen großen Schluck. »und brüll den Kerl an, er soll seinen Mist wegmachen, sonst würde ich ihn mit der Nase da durchziehen!«
Cello lacht wie ein glucksender Frosch.
»Weiß nicht, was es da zu lachen gibt.«
»Beruhige dich, Herr Schmitz, das passiert nun mal. Weißte was? Die nächste Dröhnung geht auf meine Kosten.« Er sieht mich überrascht an.
»Wirklich?«
»Klar. Schließlich hatteste heute nen schweren Tag und für uns alle den Kopf hingehalten.«
Schmitti beruhigt sich und klopft mit einem Bierdeckel einen Takt auf die Theke. »Danke, Heinrich.«
»Gerne doch. Und weil Cello so brav ist, geht ein Kölsch auf mich.«
Leoni kommt mit einer großen Bestellung.

Es ist kurz vor zwölf und über das Mikro werde ich meinen Satz zum Schutze der Jugend in der Öffentlichkeit los. »Alle mit Milchbart müssen jetzt raus. Wer erwischt wird, zahlt eine Lokalrunde!« Die Gäste klatschen und klopfen mit ihren Gläsern auf die Tische.
»Das ist nur fair«, kommentiert Cello und wedelt mit seinem leeren Glas. Ein älterer Mann kommt herein und setzt sich neben Cello auf den freien Barhocker. Ich kenne ihn nicht, nicke ihm zu.
»Guten Abend. Was darf es sein?«
Er überlegt einen Augenblick. »Einen Malt. Was habt ihr im Angebot?«
»Zwei. Einen zehn Jahre alten Glen Moray und einen Glengoyne, 21 Jahre. Aber der ist etwas teurer.«
»Ich nehme den Glengoyne, bitte.«
»Eis oder Wasser?«
»Nichts von beidem.«
Leoni kneift mir in den Hintern. Ich habe sie gar nicht bemerkt. »Da sitzt einer neben Cello. Geht das gut?«, flüstert sie.
»Wir werden sehen.«
»Tisch ‚2‘ und ‚5‘ sind abgefüllt. Da brauche ich zwei starke Kaffee. Die Studenten pinkeln alles wieder raus und sind gut im Training. Mach noch mal acht vor und ich nehme vier mit. Dann noch eine große Spezi für die ‚9‘.
»Okay, Leoni.« Ich bereite alles zu und spüle zwischendurch eines der Scotchgläser. »Die Gläser benötigen wir nicht sehr oft. Ich spüle es noch einmal«, erkläre ich dem neuen Gast.
»Sehr zuvorkommend. Danke.«
»Diên Biên Phu«, sagt Cello in sein Kölschglas hinein. Oh nein, denke ich und fülle zwei Fingerbreit Glengoyne in das Glas, stelle es auf eine Filzunterlage auf die Theke und ein Schälchen Erdnüsse dazu. Der Mann bedankt sich und sieht sich um.
»Diên Biên Phu«, sagt Cello wieder. Ein wenig lauter als zuvor. Schmitti sieht mich mit unruhigem Blick an. »Trinken Sie nicht von Ihrem Whisky?«, fragt er den neuen Gast.
Der nickt. »Doch. Aber der Scotch möchte noch ein wenig atmen. Ich gebe ihm die Zeit.«
»Ja«, sagt Schmitti, »das kann ich verstehen.« Leoni holt ihre Bestellungen ab und wirft einen fragenden Blick rüber. Sie nickt Richtung Cello und runzelt die Stirn.
»Diên Biên Phu«, ruft Cello laut und haut gegen den Zigarettenautomaten. Ich bereite mich darauf vor, ihn hinaus in die Nacht zu führen, denn ich bin einer der Wenigen, die er gewähren lässt. Der neue Gast nimmt den Malt, hebt ihn unter die Nase und riecht entzückt daran. »Vive la légion«, sagt er unvermittelt und dreht sich zu Cello. Der beäugt ihn misstrauisch, das eine Auge zugekniffen, einen Mundwinkel nach oben gezogen. »Puis-je vous présenter? Capitaine Friedrich Stolzer. 2e Régiment Etranger d’Infanterie. Et elle?« Erstaunt sehe ich, wie Cello aufsteht und vor dem älteren Mann salutiert. Viele der anderen Gäste werden ebenfalls neugierig.
»Lieutenant Gunther Meirich, 1er Régiment Etranger de Cavalerie, Monsieur le capitaine. A votre service.«
Nun steht auch Cellos Gegenüber auf und salutiert. Bis auf die Musik wird es fast still in der Klause. Die meisten Augen sind auf die beiden sich gegenüberstehenden Männer gerichtet. Ich sehe das sanfte Knistern durch den Raum schwirren, halte die Luft an und rechne damit, dass einer dem anderen an die Gurgel geht. Aber nichts dergleichen geschieht. Nach einigen Sekunden fallen sie sich unvermittelt in die Arme, klopfen sich auf die Schultern und reden ohne Unterlass aufeinander ein. Man kann förmlich das Aufatmen aller im Raum hören. Das Leben in der Klause geht weiter, und das Trinken auch.

»Puh! Ich dachte schon, es gibt jetzt Tote«, sagt Schmitti. »Mach mir bitte noch ne Dröhnung. Brauch ich jetzt.« Ich nicke ihm zu und beuge mich dann zu Cello und dem älteren Mann, schweige aber, um ihre angeregte Unterhaltung nicht zu stören; zumal ich nur die Hälfte verstehe, da beide Französisch sprechen. Sie halten inne und sehen mich gespannt an.
»Zur Feier des ungewöhnlichen Wiedersehens möchte ich gerne auf Kosten des Hauses ein Getränk spendieren. Für beide einen Glengoyne?«
»Qui!«, ruft Cello laut.
»Vielen Dank, der Herr. Sehr freundlich. Das nehme ich gerne an.«
»Kommt gleich.«
Keiner unserer üblichen Gäste, denke ich, gepflegtes Auftreten, gewählte Sprache. Schnell mixe ich Schmittis Dröhnung, spüle zwei Scotchgläser, fülle den Glengoyne ein und stelle sie auf die Theke.
»Heinrich?« Leoni taucht hinter mir auf und zupft an meinem Hemd. Ich drehe mich um. An ihrer Mimik erkenne ich, dass sie misstrauisch ist. Leoni hat ein Gefühl für kommenden Ärger, und wenn sie den riecht, macht sie solch ein Gesicht.
»Was brauchst du?«
»Hier, der Bestellzettel. Was ist das für ein Vogel?«, will sie wissen und nickt mit dem Kopf zur Theke.
»Fremdenlegion«, erkläre ich ihr. »Wir haben uns doch immer gefragt, was Cello in seinem Leben gemacht hat. Jetzt wissen wir zumindest einen Teil. Er war bei der Fremdenlegion. Und der andere auch. Fremdenlegionäre begrüßen sich weltweit mit ihrem Spruch Vive la légion, hab ich mal gelesen.«
»Aha. Fremdenlegion. Das riecht nach Ärger.«
Ich lächle Leoni an und schiebe sie vor zur Kasse. »Komm, ich bitte dich. Das sind zwei alte Menschen. Cello ist locker 65 und der andere noch älter.«
Sie holt ihre Ledertasche hervor und nimmt einen Großteil der Scheine heraus. »Dein Wort in meinem Ohr. Hier, tu das in die Kasse und gib mir ne Rolle 50 Pfennig und zwei Rollen Markstücke.«
»Klar.« Ich öffne die Kasse mit der Leertaste.
»Und mach meine Bestellung fertig.« Für einen Augenblick mustere ich Leoni. So kenne ich sie gar nicht. Ganz angespannt und unwirsch.
»Natürlich. Für dich mach ich doch alles.« Sie reagiert nicht, nimmt das Kleingeld und geht zu einem der Tische. Ein junger Mann winkt mit einem Fünfziger.
»Heinrich?« Ich drehe mich um.
»Schmitti. Was gibt es. Schon wieder leer?«
»Zieh mal ab. Muss heim. Hab zwar Spätdienst, aber muss mit Muttern einkaufen.«
»Oho! Wie geht es deiner Mutter?«
Er winkt ab. »Die stirbt nie. Vorher komme ich unter die Erde. Das wird nie was mit meinem Erbe.« Ich lache. Schmitti … schon über vierzig, Single, wohnt ein Stockwerk unter seiner Mutter und geht einmal in der Woche mit ihr zum Einkauf.
»Gib mir einen Zwanziger, Schmitti.«
»Danke, Heinrich. Viel Spaß noch mit den beiden Alten da.«
»Danke, Schmitti. Grüß deine Mutti.«
Er klopft aufs Thekenholz. »Jo. Und tschö.«

Ich mache seinen Platz sauber, stelle das Glas in die Spüle und beobachte mit einem Auge Cello und den älteren Herrn. Leoni bringt ein Tablett zurück und ich wische es ab, als der Mann eine Hand auf Cellos Schulter legt und der seinen Kopf in beide Hände vergräbt. Es schüttelt ihn. Nicht durchgehend, aber immer wieder. Manchmal heftig. Ich höre einen Pfiff. Leoni steht drüben bei Tisch ‚15‘ und gibt mir durch Nicken zu verstehen, dass ich zu Cello schauen soll. Der rutscht vom Barhocker und der Alte fängt ihn mit Leichtigkeit auf, stellt ihn gerade hin und redet leise, aber mit deutlichen Worten auf ihn ein. Vorsichtig nähere ich mich. Cello dreht sich plötzlich um und verschwindet wieselflink durch die Tür zur Männertoilette neben dem Eingang. Ich habe das Gefühl, etwas entgleitet mir. Einige der bekannteren Gäste tuscheln oder starren zu uns herüber.

»Entschuldigung, vielleicht sollte ich mich nicht einmischen«, spreche ich den älteren Mann an, »aber Cello, wie wir ihn nennen, ist einer unserer langjährigen Stammgäste, und ich mache mir natürlich Sorgen um ihn. Er gehört sozusagen zur Familie hier. Darf ich fragen, was passiert ist?«
Der Alte mustert mich mit einem Blick, den ich am ehesten als das Abschätzen einer Beute durch der Löwin Augen beschreiben kann. Unwillkürlich habe ich das Gefühl, auf dem Sprung sein zu müssen. Ich bleibe einen Meter vor der Thekenplatte stehen.
»Natürlich dürfen Sie das fragen. Das ist ja ihre Lokalität. Und ich respektiere sehr, wie sie um Lieutenant Meirich bemüht sind. Er hat hier keine Familie mehr, da ist es umso erfreulicher, freundliche Menschen um sich zu haben.« Er schweigt. Aber bevor ich, keine Ahnung was, erwidern kann, fährt er fort. »Sie können es natürlich nicht wissen, denn Lieutenant Meirich hat es erst vor einer Woche erfahren. Er hat Krebs im Endstadium und deswegen die Kommandantur des Maison du Legionnaire in Auriol angerufen. Er bittet darum, dass ihm geholfen wird.«
Ich bin kurz sprachlos und stütze mich auf der Kante ab. Ich gehe seine Worte noch einmal durch. »Was ist das Maison du Legionnaire?«
Er lächelt kurz. »Das Altenheim der Fremdenlegion. Frankreich sorgt für seine treuen Soldaten. Neuerdings haben wir aber auch ein Hospiz. Dort dürfen die Legionäre ehrenvoll und mit Würde sterben. Das sind wir ihnen schuldig.«
Ich schüttle den Kopf.
»Sie schütteln den Kopf? Warum?«, fragt er sogleich.
»Das hat nichts mit Ihnen zu tun oder diesem Altenheim, entschuldigen Sie. Das sollten Sie nicht missverstehen. Es ist nur …«, ich suche händeringend nach Worten. »Wenn man jemanden mehr als zehn Jahre kennt und ihn doch nicht kennt«, antwortet Leoni für mich, die plötzlich neben mir steht. Ich nehme sie spontan in den Arm.
»Ja, genau. Er hat ja nie viel gesagt. Diên Biên Phu oder Algerique, das waren seine Lieblingswörter.«
Der alte Mann nickt. »Wir waren beide dort. An beiden Orten. Nach Diên Biên Phu saß Lieutenant Meirich jedoch eine gewisse Zeit in einer Zelle des Viet Minh, bis ihn Frankreich freigekauft hat.«
»Scheiße«, sage ich.
»Ich geh mal bedienen«, meint Leoni. »Und ich will keinen Ärger hier«, setzt sie nach.
»In dieser Zelle ist Lieutenant Meirich so was wie verrückt geworden.«
»So was wie verrückt?«, wiederhole ich.
»Aussetzer. In den darauffolgenden Jahren immer mehr. Während der Suez-Krise und in Algerien. Bis zu seinem Dienstende 1965. Er hat die Legion verlassen und ist wieder zurück nach Indochina. Vermutlich hat er auf Seiten von Freiwilligen-Verbänden gegen den Viet Cong gekämpft.«
»Freiwilligen-Verbände? Sie meinen Söldner.« Er antwortet nicht. »Darum hat er auch nie Geldsorgen. Nicht wahr? Er bekommt Rente von Frankreich.« Der Alte nickt. Aus einem Impuls heraus atme ich tief ein.
»Als er 1970 zurückkam, hat Frankreich ihn reaktiviert und als Ausbilder in Guyana eingesetzt. Bis 1975.«
Cello war ein Soldat. Für einen Moment bin ich mit den Gedanken in meiner Jugend. Fernsehbilder schwirren durch meinen Kopf. Aus Vietnam. Wie weit war all das von unseren Jugendabenteuern entfernt.
»Wann fahren Sie nach Frankreich?«
»Morgen früh.«
»Sie holen ihn ab und bringen ihn ins Altenheim.«
Er verzieht ein wenig den Mund, als hätte er in eine Zitrone gebissen. »Ich weiß, sie werden das nicht verstehen, aber ich hole ihn nach Hause. Wir sind seine Heimat.«
Ich nicke. »Es ist nun mal, wie es ist. Die Geschichte glaubt mir sowieso keiner. Möchten Sie noch etwas trinken?«
»Gerne. Einen starken Kaffee, bitte.«
»Kommt.«

Der Alte blickt auf seine Uhr und ich tue es ebenfalls. Kurz vor zwei in der Nacht. In einer Stunde schließen wir. Ich räume die Kaffeetasse weg. Einiges darin ist schon angetrocknet. Leoni kommt. »Ich will nach Hause. Mir ist ganz unwohl«, meint sie.
»Du wirst doch nicht krank werden?«
»Quatsch. Ich meine mein Bauchgefühl. Seit wann ist Cello auf dem Klo?«
Ich sehe sie an, dann den alten Mann.
»Sagen sie, seit wann ist Cello auf der Toilette?«
Er schaut noch einmal auf die Uhr und auch dieses Mal muss ich bewundern, wie kontrolliert und schnell er sich bewegt. Steht auf und marschiert stracks auf die Toilettentür zu. Leoni folgt ihm und ich wische, unruhig geworden, das Stahlblech um die Schankanlage. Ein Pfiff ertönt. »Heinrich! Bring mal den Vierkant!«
»Scheiße«, flüstere ich und nehme den Vierkant-Schlüssel aus der Werkzeug-Schublade. Es sind nur noch wenig Gäste im Raum, meist mit ihrem Rausch oder tiefgründigen Gesprächen beschäftigt. In der Toilette hängen links drei Urinale und rechts ist eine gemauerte, abgetrennte Ecke mit der Kloschüssel hinter einer stabilen Metalltür. Rotes Blatt im Schloss. Ich setze den Schlüssel an, drehe und zögere für einen Moment. Mein Puls geht plötzlich nach oben, dann öffne ich. Cello sitzt auf dem Boden, den rechten Arm in der Kloschüssel, die Adern längs aufgeschnitten. Nur noch tropfenweise kommt Blut heraus. Die Toilette ist recht groß, die Fliesen erst ein paar Jahre alt. Kein Tropfen Blut ist auf ihnen zu sehen. Es ist alles sauber in die Schüssel geflossen. Mit dem Arm darin und der Hand, die zum Teil im bizarren Arrangement verschwindet, sieht es aus als wollte Cello ein letztes Mal Farbe anrühren.
»Oh Mann!«, entfährt es mir. »Merde«, dem alten Legionär. Er schiebt mich zur Seite, ich protestiere nicht. Geschickt greift er in Cellos Innentasche und fördert einen Orden zutage, den ich noch nie an oder bei ihm gesehen habe.
»Was ist das?«, frage ich ihn.
»Die Médaille de la Défense nationale. Wird nur wenigen Ausländern verliehen. Er hat sie für Diên Biên Phu bekommen.« Wie eine Stahlfeder kommt er hoch, haut die Hacken zusammen und salutiert. Ich drehe mich um. Leoni steht im Türrahmen. Sie hat Tränen in den Augen.
»Leoni, ruf bitte die Polizei.«
»Muss das sein?«, höre ich den Alten.
Ich schließe kurz die Augen, öffne sie wieder. Leoni ist schon auf dem Weg und die Toilettentür geht langsam zu. »Ja, das muss sein. Diese Lokalität ist nun mal nicht die Fremdenlegion. Wir haben Gesetze.«
»Wir auch«, sagt er.

Diese Geschichte

Entstanden im Jahr 2020. In meinem Leben sind mir einige Menschen aus der Fremdenlegion begegnet. Erstaunt habe ich immer wieder festgestellt, wie sehr das für diese Menschen mehr als eine Familie war. Unabhängig betrachtet von Krieg, Soldatsein, denn die getroffenen Menschen waren nicht mehr dabei. Und da die Geschichte in den 80ern spielt, ist auch Diên Biên Phu noch nicht lange vorbei gewesen. Ein Teil des 30 Jahre dauernden Vietnam-Krieges. Viel Interesse beim Lesen!

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