KURZGESCHICHTE | »Nimm ihn mit«, bittet Mutter.
»Warum? Das ist völlig sinnlos. Ich bringe die Löhne hin, kontrolliere alles …«
»… und gibst das Angebot ab. Ich weiß.«
»Na, wenn du weißt, dann nerv mich doch nicht damit.«
»Sein Herz hängt an seiner Arbeit, Heinrich. Denk mal an früher, wie er mit Haut und Haaren für diese Arbeit gelebt hat.«
»Ja. Nur nicht für uns.«
Ihr Blick kann vorwurfsvoller nicht sein. Ich atme tief ein und aus, schließe für einen Moment die Augen. Warum ich?
»Okay, sag ihm Bescheid. Und pack alles ein, was ich so brauche. Falls was passiert.«
Ein gütiger Ausdruck erobert ihr Gesicht. »Danke, Heinrich.« Mutter geht ins Haus und ich packe, nein, ich schmeiße die bestellten Wischmops samt der Staubtücher in den Kofferraum, schlage die Klappe zu und blinzle in den Nieselregen hinauf. Grauer Himmel, graue Stimmung. Toller Tag. Nach ein paar Minuten kriecht das schlechte Gewissen an mich heran und ich gehe ins Haus. Mein Vater sitzt im Rollstuhl und Mutter versucht, ihm die Schuhe anzuziehen, aber es ist wie so oft: Er schreit. Weil die Socken zu eng sind, die Schuhe verkehrt herum, was offenkundig nicht stimmt, weil er Angst vor der Autofahrt hat, weil die Mütze nicht richtig auf dem Kopf sitzt; ich schiebe Mutter beiseite, bücke mich und erledige das mit den Schuhen.
»Die Schuhe sind völlig korrekt. Die Socken passen einwandfrei. Alles ist in Ordnung. Wenn du mit willst, sei jetzt besser ruhig. Verstanden?« Ich sehe zu ihm auf. Er nickt mit zusammengepresstem Mund. »Dann los jetzt.«
Die Rollstuhlrampe überwinden wir souverän, ich verfrachte ihn in den Commodore, plus Vierpunktstock, Schnabeltasse, krampflösende Tropfen, Ersatzwindel und Beißkeil. Dann drehe ich und fahre den schmalen Weg vor zur Straße.
»Oha!«, ruft er, als der Zaun gefährlich nahe kommt.
»Mach die Augen zu«, raune ich. Kaum auf der Autobahn nach Karlsruhe, klopft er mit den Handknöcheln an die Seitenscheibe. Wieder und wieder. Fünfhundert Meter halte ich das aus, dann fahre ich auf den Parkplatz, stell den Motor ab und sehe Vater an. Er klopft immer noch.
»Willst Du mir sagen, dass du pinkeln musst?«
Er nickt.
»Und hast du keinen Mund zum Reden? Kannst du nicht sagen: Heinrich, bitte fahr in den Parkplatz, ich muss mal?«
»Dochschsz.«
Der Speichel läuft ihm aus dem linken Mundwinkel. »Okay, du hast einen Spasmus. Sehe ich ein.« Seufzend steige ich aus, hole ihn aus dem Wagen und wir tippeln vorsichtig in die Büsche. Vaters Arm habe ich um meine Schulter gelegt, meinen um seine Hüfte. In dieser Position öffne ich den Reißverschluss und halte sein bestes Stück in den Wind. Mit der Hand klopft er auf meine Schulter, ich packe ein und wir fahren weiter. Aber schon das Nöttinger Gefälle vermasselt uns die freie Fahrt. Stau auf ganzer Linie. Alte Reichskriegsautobahn, zwei Spuren ohne Standstreifen, Betondecke, dem heutigen Verkehr in keinster Weise gewachsen. Ich suche im Radio nach einem gescheiten Sender.
»War dein Opa ein Verbrecher?«
Ich starre auf den Lastwagen vor mir. Aus Ungarn. Wir alle werden uns daran gewöhnen müssen, dass der Verkehr aus Osteuropa um einiges zunimmt.
»Heinrich?«
»Was?«
Erst jetzt geht mir auf, dass er etwas gefragt hatte. Nur was? »Tschuldigung. Was hast du gefragt?«
»Ob dein Opa ein Verbrecher war?«
»Mein Opa? Welcher Opa? Opa Hannes oder wer?«
Er zieht den Speichel hoch. Ein Zeichen von Erregung. Wenn die Worte in seinem Kopf drängeln, die Lähmung aber nichts rauslässt. »Nein!«, schreit er unvermittelt, sich von diesem Wort mit Nachdruck befreiend. »Opa Willi, mein Papa!«
»Ich kenne deinen Papa nicht, den Opa Willi. Nur aus ein paar Erzählungen von Oma. Hast du ihn denn gekannt?«
»Nur ein paar Jahre, mehr nicht. Bis 45, dann war er weg.«
»Ja, siehste. Oma hat gesagt, er wurde vermisst. Also, tja, er wird irgendwo auf offenem Feld liegen, zwischen Berlin und der Weichsel.«
Der ungarische LKW rollt beim Anfahren einen knappen Meter zurück. Mir wird Angst und Bange. Dann fängt er sich und zieht an, den Berg hoch.
»Er liegt in Hameln, auf dem Friedhof.«
»Wer? Opa Willi?« Mein Vater bekommt einen Tobsuchtsanfall. Wie wahnsinnig geworden, schüttelt er den Kopf hin und her, die Mütze fliegt auf den Automatikhebel. Ich gebe sie ihm zurück.
»Ja! Opa Willi! Du hörst mir ja gar nicht zu! Interessiert dich einen Scheißdreck, was ich dir hier erzähle!«
»Du erzählst mir ja auch gar nichts! Du kommst mir hier mit ner dämlichen Frage, ob ‚Opa Willi ein Verbrecher sei‘? Was soll ich mir denn da drunter vorstellen? Du warst, äh … sechs, als er nicht mehr auftauchte, und ich noch nicht mal Saft in deinen Eiern! Verdammt!«
Er lehnt den Kopf an die Seitenscheibe und weint. Mit der linken Hand versucht er sich die Mütze aufzusetzen, die verhasste Glatze bedecken, aber es ist die gelähmte Seite. Er versagt und kippt so weit nach vorne, bis der Gurt ihn mit einem Klicken hält. Ich schere links raus, bloß weg von diesem verfluchten Lastwagen. Ich hasse es, wenn Vater weint. Der vermaledeite Hass. Mit einem vorsichtigen Druck auf die Fensterautomatik öffne ich meine Seitenscheibe ein wenig und sauge gierig die kalte Novemberluft ein. »Hör einfach auf zu weinen«, rate ich ihm, »das ist ja schrecklich.«
»Er ist doch gar nicht vermisst. Er wurde gehenkt. Als Kriegsverbrecher.«
Ich traue mich nicht, ihn anzusehen, während der Vorbeifahrt am Ungarn. Aber ich denke daran, sofort stehenzubleiben, auszusteigen, und dem nächstbesten Fahrer eine in die Fresse zu schlagen. Mitten rein. »Sag das noch mal!«
»Er wurde gehenkt. Als Kriegsverbrecher. Am 29. Januar 1948. In Hameln.«
»Er wurde als Kriegsverbrecher gehenkt? 1948?«, wiederholt ich für mich noch einmal. Gedankenverloren bleibe ich weiter auf der Überholspur, mir gar nicht bewusst, dass sich der Stau vor mir langsam auflöst. »Wie … woher … weißt du das?« Lichthupe hinter mir. Ich blicke in den Rückspiegel und wechsle auf die rechte Spur.
»Ich werde ja wohl wissen, was mit meinem Vater passiert ist.«
Jetzt sehe ich ihn an. Vor mir ist ziemlich frei, also kann ich mir einen längeren Blick leisten. Seine Mütze auf dem Schoß, den Kopf an der Scheibe, Tränen auf der Backe. Grauer Bart, ausgemergeltes Gesicht. Aschfahl.
»Kann ich davon ausgehen, dass meine Familie jahrzehntelang Scheiße erzählt hat?«
Er nickt.
Wir passieren die Karlsbader Ausfahrt und das Nieseln geht über in einen schön gleichmäßigen Herbstregen, von einigen Böen zwischendurch unterstützt, die heftig am Commodore rütteln. Vater schweigt. »Warum fragst du, ob Opa Willi ein Verbrecher war, wenn er doch offensichtlich genau dafür gehenkt wurde?«
»Weil ich nicht weiß, ob das stimmt? Weil ich nicht weiß, was er dort getan hat?«
»Warte mal, warte mal … wo ist denn dort?«
»KoLaFu.«
»KoLaFu? Jesus, Maria und Josef, jetzt red‘ doch mal in ganzen Sätzen! Das ist ja nicht zum Aushalten!«
»Er war Kommandant vom Konzentrationslager Fuhlsbüttel. KoLaFu. Aber nur in den letzten beiden Jahren.«
Ich stülpe die Lippen vor und nicke mit dem Kopf, weil ich gerade nicht weiß, wie ich reagieren soll. »Er war also Kommandant eines Lagers, aber nur in den letzten beiden Jahren. Aha, ja klar, da war man bestimmt nicht mehr böse und so, schön Ostern und Weihnachten gefeiert mit den Insassen und im Mai 45 freundlich verabschiedet. Beehren sie uns bald wieder. Wir danken für ihren Aufenthalt!«
»Du sollst mich nicht verhöhnen. Warum tust du mir weh?«
Ich hole tief Luft. Was soll ich sagen? Was gibt es für eine Antwort? Nur falsche?
»Hör mal, Papa, nix für ungut, aber du bist jetzt fünfzig Jahre alt. Als Opa Willi gehenkt wurde, 1948, warst du neun. Rechnen wir mal weitere zehn Jahre weg, also 1958. Du bist neunzehn und hattest ab da 31 Jahre Zeit, dir darüber klar zu werden, ob er ein Verbrecher war oder nicht. Und was hast du zur Aufklärung beigetragen? Offenbar nichts.«
Ich fahre am Dreieck Karlsruhe weiter auf die A5, Richtung Rastatt. Wir sind bald da und der Regen nimmt zu. Vater sagt nichts mehr, sitzt wie ein Häufchen Elend im Sitz und hält sich am Vierpunkt-Stock fest.
»Dann fragst du mich ernsthaft, ob der Kommandant eines Lagers Verbrechen begangen hat? Das war ja keine Urlaubsinsel, nicht wahr? Was genau stellst du dir denn als Antwort vor?« Er winkt mit der gesunden Hand ab und ich blinke, um die Ausfahrt zu nehmen. »Wird das hier so ne Absolutions-Kiste?«, setze ich nach.
»Ich wollte einfach nur fragen, nur wissen … aber das geht natürlich nicht, nein, geht nicht, ich weiß ja …«
»Aber warum jetzt? Nach so langer Zeit? Warum ausgerechnet heute?«
»Ich … ich, äh«, er blickt mich von der Seite an, aufs Lenkrad, ich nehme die Ausfahrt auf die Südumgehung, Richtung Bulach. »Ich weiß, dass ich bald nicht mehr da bin.«
Ein Kloß wächst in meinem Hals. Ich habe keinen schlauen Spruch parat. Überhaupt keinen Spruch, nicht mal den Hauch einer Ahnung, was ich antworten könnte.
»Du willst aufräumen, nicht wahr? Aber warum fängst du nicht bei uns an? Bei Mutter und mir? Warum Opa Willi, den ich noch nicht mal auf Fotos gesehen habe? Wen interessiert der noch?«
Sein Blick schmerzt mich. Im selben Atemzug tut mir leid, was ich da gefragt habe. Herrjemine, was für eine beschissene Idee es doch war, ihn mitzunehmen. Die Ausfahrt Pulverhausstraße kommt und ich fahre von der Schnellstraße runter.
»Mensch, Papa, ehrlich. Was soll ich jetzt davon halten? Jahrelang hätten wir uns gemeinsam drum kümmern können. Jahre hatten wir Zeit. Und nichts ist passiert. Stattdessen nur … ach, vergiss es.«
Wir schweigen den Rest der Strecke. Nach zehn Minuten biege ich in die Einfahrt des Kunden, durch die Schranke und ich halte am Pförtnerhäuschen. Vater lasse ich im Auto, klopfe an die Pförtnertür und gehe hinein.
»Nabend.«
»Nabend, Herr Konstantin. Haben Sie ihren Vater dabei?«
»Ja, er wollte mal wieder mit. War ja bald zwei Jahre nicht mehr hier.«
»Wie geht es ihm denn?«
»Ach ja, er hat nen eisernen Willen. Man kann es lassen.«
Der Pförtner steht auf. »Ich werde ihm mal schnell Hallo sagen. Schließlich habe ich ihn ja fast jeden Tag hier gesehen, mindestens«, er rechnet kurz, »mindestens sechs Jahre lang.«
»Ja, gehen Sie nur. Er wird sich freuen. Sind alle Leute erschienen?«
»Ja, alle da.«
»Okay. Ich mach meine Runde und bin bald wieder zurück.«
»Gehen Sie nur. Ich pass gut auf ihn auf.«
Meine Kapuze über den Kopf gezogen, verlasse ich das Pförtnerhäuschen, klopfe an Vaters Seitenscheibe und gebe ihm ein Zeichen, dass ich die Runde mache. Er nickt und als ich mich vom Wagen entferne, drehe ich mich noch einmal um, aber die Scheibe ist schon zugeregnet, nichts mehr zu sehen von ihm. Die Sache schlägt mir richtig auf den Magen, weswegen ich zuerst den Kaffeeautomaten im Planungsbüro aufsuche.
Die meisten Löhne bin ich losgeworden, habe hier und da einen Kontrollblick drauf geworfen, aber es gibt nichts zu beanstanden. Im Ingenieurbüro der Leiterfertigung treffe ich Frau Rodriguez, die Vorarbeiterin, frage nach Problemen, Ärger mit den hiesigen Mitarbeitern, was so anfällt in einer Gebäudereinigung. Die restlichen Löhne sind schnell verteilt und ich lasse noch einen Kaffee aus dem Automaten. Für die ganze Runde nur 45 Minuten ist nicht schlecht. Im Büro des Personalchefs gebe ich das Angebot für die Grundreinigung in den Weihnachtsferien ab und mache mich auf den Rückweg. Vater sitzt nicht mehr im Wagen. Ich entdecke seine Mütze im Pförtnerhaus. Das Putzmaterial lege ich auf die Außentreppe unters Vordach und gehe zum Pförtner hinein. Der erzählt fröhlich von seinem Schrebergarten, dem Flachdach auf seinem ‚KSC-Bunker‘ genannten Gartenhäuschen. Vater grinste und trinkt aus seiner Schnabeltasse.
»So, alles in Ordnung hier, was?«
»Klar, ich habe gut auf Ihren Vater aufgepasst. Ist ja noch ganz gut zu Fuß. Bis auf die Treppe, da hab ich ein wenig nachgeholfen.«
»Dann kann ich draußen noch eine Zigarette rauchen, oder?«
»Klar, kein Problem.«
Als ich mich umdrehe und nach den Luckys greife, poltert es hinter mir und der Pförtner stößt einen Schreckensruf aus. Ich schaue nach. Vater ist weg. Auf dem Boden liegt er, zuckt und zittert wie wild. Ich renne um die Empfangstheke und kniee mich neben ihn. Rechter Arm und Bein rudern in alle Richtungen, ziehen sich zusammen, schlagen aus …
»Gehen Sie zum Auto und holen Sie den Beißkeil von der Rückbank!«
Der Pförtner reagiert und ist im Nu zurück. Mit Mühe und Not schaffe ich es, das rote, keilförmige Hartplastikstück zwischen seine Kiefer zu bringen. Sein Knie erwischt mich im Rücken, aber er ist nicht mehr annähernd so kräftig wie Jahre zuvor. Mit weit aufgerissenen Augen, leicht verdrehten Pupillen, starrt er mich an. Ich weiß nicht, was in diesem Moment passiert, aber ich sehe mich. Ich liege dort. Der kleine Heinrich schreit sich die Seele aus dem Leib. Aber da ist niemand. Nicht Mutter. Niemals er. Niemals Vater. Wie angeklebt bohrt sich mein Blick in seine blauen Augen, die sich langsam wieder beruhigen. Das ist er und das bin ich. Sein Schmerz steckt in mir. Sein Hass ist mein Hass. So weit es ihm möglich war, musste er fliehen, bis an den äußersten Rand seiner Seele, bis an den Abgrund, und dabei verloren wir uns. Schon als er uns noch lange nicht kannte, verlor er uns. Mutter und mich.
Sein Körper erschlafft, die Muskeln entspannen sich, der Atem wird ruhiger. Ich sitze neben ihm und sehe in seine Augen. Vater, Mutter, ich. Zusammen und doch alleine. »Ich weiß, was du meinst«, nicke ich ihm zu. »Ich weiß. Ich werde mich auf die Suche machen nach deinem Papa. Versprochen.« Vaters blaue Augen werden feucht.
Diese Geschichte
Entstanden im Jahr 2014. Was sie beschreibt, ist die Wirklichkeit. Gestorben ist er Ende Januar 1991. Wie sein Vater, mein Opa. Wenn der auch unter anderen Umständen die Lebensbühne verlassen hat. Doch die für ihn zentrale Frage: War mein Vater ein Kriegsverbrecher, wurde so gestellt. Er hat diese Frage nie beantwortet, insgeheim wusste er aber, dass es sich genau so verhielt. Acht Jahre später habe ich mich auf den Weg gemacht, sie ganz offiziell zu beantworten. Mit Belegen, Dokumenten, Zeugenaussagen und allem, was dazu gehört. Der Kreis des Schweigens musste durchbrochen werden.