Die Drei vom Friedhof

KURZGESCHICHTE | Eine unsichtbare Hand packt mich und presst alle Luft aus meinen Lungen. Wie eine Springflut wälzt sich Angst von tief unten bis hinauf in meinen Kopf. Ich knicke leicht ein. Schnell drehe ich mich weg vom Stehtisch und zähle die Klinker an der Wand hinter mir, spüre Tränen kommen und bin nicht imstande es zu verhindern. Mit einem lauten Räuspern hole ich tief Luft und bücke mich zu den Schnürsenkeln. Zwei, drei Mal den Knoten wiederholen, ein Wisch mit dem Jackenärmel über die Augen, ein Husten, und wieder aufrecht, das Glas zum Mund und den Southern Comfort durch die Kehle schicken. »Prost!«, sage ich, nicke den Kumpels zu und stelle das Glas auf den Deckel. Dann gehe ich hinaus. Ohne ein Wort zu sagen. Für meinen Wirt kein Problem. Zechprellerei gibt es bei mir nicht.

Draußen herrscht eine trübe und klamme Kälte. Feucht, sehr neblig. Der Silvesterabend 1990. Hier auf der Gabelsberger Straße, mit Blick auf den Turm der Stadtkirche. Durch spärliches Geäst. Über den zugemüllten Spielplatz hinweg, mit seinen Hundehaufen. Die Scheinwerfer der Kirche malen den Nebel orange an. Fast kann ich die Tropfen sehen, so gesättigt ist die Luft. Das Atmen fällt schwer. Der Southern setzt mir zu. Dann weiß ich, was um mich herum lauert, was sich um mich legt und zu zerquetschen droht. Ich spüre, wie er sich nähert.
Eine Hand legte sich auf meine Schulter. Ich erschrecke. Ist er es? Nein, meine Freundin. Sie lächelt. »Was ist los mit dir, Heinrich? Komm rein, es ist bald zwölf.« Ihre Finger spannen sich um meinen rechten Arm und ziehen leicht. Ich habe beide Hände in den Hosentaschen und spielt mit Dingen, die sich dort ansammeln. Geld, Papier, irgendwelcher Unrat.
»Ich komme gleich«, vertröste ich sie.
»Was ist denn los?«
Wieder blicke ich hoch und unterdrücke mühsam die Tränen. Ich schaffe es nicht, sie anzusehen.
»Mein Vater wird bald sterben.«
»Wie kommst du darauf?« Sie klingt sichtlich überrascht und ich kann es ihr nicht verdenken.
»Schwer zu sagen, aber es war in mir und hat es mich spüren lassen. So muss es sich anfühlen, wenn er kommt.«
»Wer?«
»Der Tod.«
Langsam stellt sie sich vor mich, sieht mich lange an. »Wann?«
Ich drücke sie. »Weiß nicht. Eine Woche oder zwei, vielleicht …«
»Es ist besser so. Glaub mir.«
»Ja, das ist es wohl für uns alle …«
Sie streckt sich, legt die Arme um meinen Hals und küsst mich, dann dirigiert sie uns wieder Richtung Eingang. Die Kirchturmuhr zeigt noch eine halbe Stunde zum neuen Jahr. Fast dreieinhalb Jahre lebt er mit diesem Tumor im Kopf. Diesem Astrozytom, Klasse vier. Ein Monster. Unnachgiebig. Wesentlich stärker als wir alle. Der Kampf ist verloren, hat viel zu lange gedauert. Ein ganzes Leben lang; so wie ich das sehe. Wir gehen hinein und tun so, als sei dies das beste Silvester seit Jahren.

Es ist der 27. Januar, vier Wochen später, ein Sonntag. Das Telefon klingelt. Die ersten Töne registriere ich kaum. Dann pumpt die Erkenntnis eine volle Ladung Adrenalin durch meinen Körper. Sechs Uhr und ich weiß, dies ist der Anruf! Meine Freundin steht auf und geht ans Telefon, kommt nach kurzer Zeit wieder.
»Dein Vater hat’s geschafft.«
»Mh. Ich komme.«
Der Ernstfall ist eingetreten. Ich werde zu einer Maschine. Waschen, anziehen. Dann fahren wir zu Mutter. Die Straßen sind leer. Kein Schnee weit und breit, aber Eiseskälte. Ich sage nichts. Wir kommen an und entdecken sie vor der Haustür unter dem Vordach. Dieses alte Hexenhäuschen, ein Unikum in seiner Umgebung.
»Hallo«, begrüßt sie uns mit roten Augen. Meine sind eisern. Ich atme tief ein, langsam, gehe hinein. Drinnen mein kleiner Bruder mit seinen zwölf Jahren. Still. Wir setzen uns in die Küche und ein paar Minuten später kommt der Hausarzt und sieht zur Küchentür rein.
»Was ist los. Jemand gestorben?« Er lacht und verschwindet ins Wohnzimmer. Ich atme ein paar Mal tief durch. Humor der besonderen Art. Immerhin musste ich grinsen. Der Tod gehört zum Leben. Immer und überall. Aber er macht keinen Halt vor gerecht und ungerecht. Das könnte man ihm übel nehmen.

Der Doc stellt den Totenschein aus. Mutter ruft beim Friedhofsamt an und bestellt die Männer mit dem Sarg. Ich gehe ins Wohnzimmer, wo wir für Vater in diesen Jahren ein Krankenbett eingerichtet hatten. Da liegt er. Sehr friedlich. Das Gesicht nicht mehr so alptraumhaft krank und entstellt durch den Muskelabbau. Er ist so eingeschlafen, als wäre er vor drei Stunden ins Bett, um sich einem Südseetraum hinzugeben. Und trotz des friedlichen Gesichts habe ich nicht viele Blicke für ihn, sondern setze mich lieber wieder in die Küche zu meiner Freundin und meinem Bruder. Wir schweigen. Was hätten wir auch anderes tun sollen?

Zwanzig Minuten später klopft es laut und kräftig an der Tür. Die Männer vom Friedhofsamt stehen draußen. Biernasen. Rot, aufgequollen. Guten Morgen, herzliches Beileid. Ja, danke. Hände schütteln. Wo ist der Verstorbene? Hier, im Wohnzimmer. Sie sind zu dritt, räumen ein bisschen um. Mutter und meine Freundin gehen wieder in die Küche und ich bleibe bei den Biernasen. Am Sonntagmorgen schon eine Alkoholfahne, das kenne ich zur Genüge von meinen Nachtdiensten bei der Post. Die Drei holen ein Leichenhemd aus der mitgebrachten Tasche, legen Vater in den Transportsarg, ziehen ihm den Schlafanzug aus, richten den Oberkörper auf so gut es geht. Vaters Kopf sinkt auf die Brust. Geschäftig beugen sie sich über ihn. Rechter Arm in das blütenweiße Hemd. Ein paar Rüschen am Hals. Das Hemd über den Rücken zum linken Arm, der schon etwas steifer geworden ist und einfach nicht so will wie sie wollen. Einer der Männer beginnt zu schwitzen und es riecht sehr deutlich nach Schnaps. Dann reden sie wie auf Kommando ganz laut und erzählen sich etwas von daheim und von heute Morgen. Die Lautstärke macht mich stutzig. Zwei von ihnen umfassen sich und hebeln am linken Arm meines Vaters. Dann knackt es durchdringend. Es fährt mir durch Mark und Bein.

Sie haben ihm den Arm gebrochen. Was sollen sie auch anderes machen. Es ist ihr Job und irgendwie müssen sie zurechtkommen. Jetzt geht der Ärmel drüber. Den Oberkörper legen sie vorsichtig zurück, machen ihn zurecht.
»So, jetzt können Sie Abschied nehmen.«
Sie verziehen sich in den Flur. Ich sage in der Küche Bescheid, dann stehen wir vor dem Sarg. Jeder denkt an etwas anderes. Erinnerungen vielleicht. Ich denke an sein Alter. Gerade so 51 geworden. Mutter dreht sich. Es ist so weit. Ich gehe zu den Männern.
»So, Sie können ihn jetzt mitnehmen. Vielen Dank für die Arbeit.« Meine Mutter hat mir Geld zugesteckt. Das gebe ich ihnen.
»Vielen Dank.«
Sie schnappen sich den Sarg und tragen ihn raus. Zwei Türen, direkt hintereinander. Dazwischen eine kleine Treppe. Sie bollern gegen die Türrahmen und schlagen Macken ins Holz. Wie im Film, denke ich. Als sie im Auto sitzen, macht der Beifahrer erst einmal einen Flachmann auf und nimmt einen kräftigen Schluck. Wer könnte ihm das verdenken? Ich nicht. Und mein Vater hätte es ihm auch nicht übel genommen. Ich schließe beide Türen. Da stehen wir nun. Mit uns allein.

Diese Geschichte

Geschrieben im Jahr 1995 und beruht auf einem Ereignis im Januar 1991. Wir sind mehr als endliche Wesen. Vor allem aber wisst Ihr ja: Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder verstorbenen Personen ist rein zufällig. Inzwischen habe ich den Text mehrfach überarbeitet. Vor allem in die Gegenwart geholt. Ich finde, der Kontakt zu den Leser:Innen ist auf diese Art intensiver.

Unterstützung durch Crowdfunding

Unterstütze Heiko Tessmann auf Tipeee

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert