Gwen

KURZGESCHICHTE | Hinter mir liegt stundenlanges Fahren von Lander, Wyoming, nach Denver in Colorado. Mein Rückflug in heimatliche europäische Gefilde ist für morgen 20 Uhr ab Stapleton International angesetzt. Jetzt ist es kurz vor Mitternacht und noch immer an die 30 Grad. Ich nehme das Gepäck vom Bussteig der Greyhound-Station und gehe auf eine Gruppe Taxifahrer zu. Für die Nacht brauche ich ein Quartier. Die Fahrer leiern die Namen einiger Hotels runter, die sich teuer anhören. Ich sage ihnen, wie viel Geld ich noch habe und daraufhin bietet einer an, mich für acht Dollar zum Flughafen zu fahren, wo es Schlafkabinen für fünf Dollar die Nacht gäbe. Ich willige ein. Er trägt Rucksack und Kameratasche zum Taxi, schmeißt beides in den Kofferraum, dann rasen wir los.
Leider kann mir die Flughafenverwaltung kein einziges freies Zimmer mehr geben. Also schlendere ich nach draußen, setze mich auf die breiten Steinbänke der Bushaltestelle. Ein warmer Wind fegt über die leere Fläche. Was soll ich tun? Im Freien übernachten ist nicht ratsam. Mit dem Bus in die Stadt zurück, um ein billiges Zimmer zu suchen? Es ist inzwischen ein Uhr nachts. Und wann fahren hier überhaupt Busse? Ich versinke in einer Art Lethargie, lasse den Wind mein T-Shirt heben und senken, lege einfach die Beine hoch und harre der Dinge, die da kommen – oder auch nicht.

Nach einer Zigarette und mehr oder weniger erhebenden Gedanken, ändern sich auf unerwartete Weise die Lebensströme um mich herum. Zwei schwarze Frauen torkeln auf mich zu. Die eine groß wie ich, gertenschlank, die andere einen Kopf kleiner und eher unauffällig. Aber beide so betrunken, dass sie die Bushaltestelle nur durch gegenseitiges Stützen erreichen. Zwischen sich tragen sie eine große braune Papiertüte. Außer uns dreien ist niemand an hier, und sie wählen meine Steinbank als geeigneten Sitzplatz; mehr noch: die eine setzt sich links, die andere rechts neben mich. Und sie lachten unentwegt. Ich fühle mich eingeengt und habe Mühe, die Gesprächsfetzen zu verstehen. Alles ist ein Lallen, Lachen, Kichern, Luft holen. Die Gertenschlanke zieht eine Literflasche Bier aus der Tüte, schaut mich an, kneift ein Auge zu und reicht sie der Unauffälligen. Ich lehne mich weit zurück. Dann kommt eine zweite Flasche zum Vorschein, es ploppt, die Kronkorken landen auf dem Boden und die Frauen genehmigen sich zwei, drei kräftige Schlucke. Meine Hoffnung auf etwas Schlaf verliert sich in der Nacht. Eine Flasche taucht vor meinem Gesicht auf.
»Hey, willst’n Bier?«
Ich sehe zur einen, dann zur anderen. Sie geben sich ernsthaft Mühe, ein Kichern zu vermeiden, haben sich zu einer gewissen Anteilnahme entschlossen. »Warum nicht«, erwidere ich, greife zu, trinke einen ordentlichen Schluck. Es schmeckt nach nichts.
»Mein Name ist Gwen.«
Ich schaue nach rechts. Die Kleine ist also Gwen.
»Und ich heiße Linda«, lallt die große Schlanke.
»Wir sind die Scheißschwestern.«
»Ihr seid Schwestern?« Ich bin verblüfft. Etwas Gegensätzlicheres kann es kaum geben. Ich vermute, sie nehmen mich auf den Arm. Gwen fördert noch eine Flasche hervor und öffnet sie.
»Hier, für dich. Und jetzt sag uns deinen Namen.«
»Heinrich.«
»Was?«
»Ein deutscher Vorname.« Ich trinke mehrere Schlucke aus der Literbombe.
»He, er issen Deutscher«, sagt die Große. Sie rücken von beiden Seiten auf mich zu. Ihre Alkoholfahnen sind bedeutend.
»Deswegen trinkt er das Bier wie nix«, vermutet Gwen. Die Große setzt die Flasche an und leert sie mit einem Zug, verdreht die Augen. Dabei murmelt sie Unverständliches und sackt nach hinten weg. Gwen steht auf.
»Hilf mir!«
Wir legen ihre Schwester in voller Länge auf die Bank. Dann setzen wir uns nebeneinander davor. »Wenn die Bullen auftauchen und sie so sehen, kommt sie in den Bau. Und ich ebenfalls.« Das beunruhigt mich. Ich hole den großen Rucksack und positioniere ihn so auf die Bank, dass er die Sicht auf den Rest der Großen verhindert. »He, das ist ‘ne gute Idee.« Die Kleine lächelt mich an. Wie war noch ihr Name? Gwen. Sehr krause Locken, die Haut ein reines Schwarz, einen weißen Pullover, dazu verwaschene Jeans. Im kargen Licht der Flughafenbeleuchtung starre ich in das Weiße ihrer Augen. Sehr große, sehr runde Augen. Pupillen so schwarz wie die Nacht und der Blick verloren, traurig verloren.
»He, Gwen, hör mal …« Sie ist dabei, ihre Flasche zu leeren. Ich biete ihr meine an. »Sag einfach Henry zu mir, okay?«
»Henry«, wiederholt sie. »Ja, Henry gefällt mir. Wie alt bist du?«
»Siebenundzwanzig. Und du?«
»Oh, ich bin neunundzwanzig.«
Neunundzwanzig! Unglaublich. Sie sieht aus wie neununddreißig.
»Wo kommt ihr beiden her?«
Sie blickt zu Boden.
»Downtown.«
»Und ihr seid tatsächlich Schwestern?«
»Selber Dad, aber verschiedene Mütter.«
»Yeah«, lallt Linda aus dem Hintergrund, kurz wach geworden. Sie dreht sich, krault ihren Kopf und dämmert wieder weg.
»Ist es schön in Deutschland?«, will Gwen wissen.
»Mir gefällt es gut.«
»Habt ihr Schwarze?«
»Ja.« Ich erwarte die nächste Frage, aber sie blickt in den Himmel.

»Wann kommt denn hier ein Bus? Oder ist jetzt Nachtruhe?«, versuche ich das Gespräch anzukurbeln. Gwen schaut auf die Uhr.
»In ein paar Minuten kommt einer. Wir warten auch auf ihn. Na ja, normalerweise fahren wir erst morgens um fünf zurück in die Stadt. Aber …«, sie schaut auf Linda, »sie haben uns rausgeschmissen.«
»Wo rausgeschmissen?«, frage ich.
»Wir waren bei der Putzkolonne, im Flughafen. Unser Chef hat uns gerade gefeuert. Aber wir haben gut gearbeitet! Klos und so etwas. Na ja, was soll’s. Jetzt wollen wir auf ‘ne Party. Ist uns eigentlich ganz recht.« Sie schaut erneut zu Linda. Dann hebt sie den Blick. »He, Mann, warum kommst du nicht mit?«
Ich sehe sie an. Eine Party? Was könnte das wohl für eine Party sein? »Du denkst, das ist eine gute Idee? Schau mich an?« Ich drehe beide Handflächen vor ihr.
»Scheiße, Mann, das sind lauter Freunde. Ist doch egal. Wenn meine Schwester und ich dabei sind, geht das schon klar. Oder wartest du hier auf etwas Bestimmtes?«
»Nein, eigentlich nicht. Mein Flug geht erst morgen Abend. Also gut! Gehen wir auf deine Party.«
»Okay, Mann, Henry, ich freue mich wirklich!« Sie grinst breit und ihre Augen leuchten. Meine Freude hält sich in Grenzen. Ich habe Bammel. Gwen kommt mir vor wie die Blume vom Lande, fast unschuldig. Wären da nicht die Augen. Sie erinnern mich an ein Scheunentor, das man öffnet und im Inneren ein Flammenmeer entdeckt. Doch in all dem steckt eine vorsichtige Schönheit. Der Bus fährt auf das Rondell. Wir wecken Linda. Sie ist kaum fähig zu konkreten Äußerungen. Ich hieve sie hoch, lehne sie an Gwen und packe mit der rechten Hand den Rucksack, zieh ihn über den Rücken, schultere die Kameratasche, dann lege ich mir Lindas linken Arm um den Hals. Gwen schaut mich an.
»Wie stark du bist!«
»Alles nur Show.«
Der Bus kommt in weitem Bogen um das Rondell gefahren. Er ist leer. Die hellen Fenster leuchten uns entgegen. Die vordere Tür schwingt auf und wir steigen unter enormen Anstrengungen ein. Gwen zahlt für uns drei. Hinter dem Fahrer sind vier Sitze längs montiert. Ich lade das Gepäck samt Linda ab. Gwen und ich jeweils links und rechts. Im Rückspiegel des Fahrers sehe ich sein Gesicht. Misstrauisch beäugt er uns. Nach fünf Minuten geht es endlich los.

Wir erreichen die Innenstadt – Downtown. Irgendwann zieht Gwen an einer Schnur. Der Bus hält. Linda wird wach und schafft es mit eigenen Kräften raus. Ich halte ihren linken Arm, mehr zu meiner Beruhigung. Wir trotten den Bürgersteig entlang und nach kurzer Zeit führt eine kleine Treppe in einen Kellereingang. Ein Club. Dummerweise bin ich zuerst an der Tür. Linda erklärt mir, dass ich klingeln müsse, was ich tue. Prompt öffnet jemand. Ein Schrank. Bisschen über zwei Meter, muskulös, kurzgeschorene Haare, kantiges Gesicht. Er schaut mich an, sieht Rucksack, Kameratasche und will gerade zu einer Rede ansetzen, als Gwen sich bemerkbar macht. »He! Mike! Ist ein Freund von uns! Los, lass uns rein!«
Gwens Hilfe rettet mir das Leben, vermute ich zumindest. Er macht Platz, muss es sogar. Neben ihm passt niemand durch die Tür. Er weist mir im Vorraum eine Ecke zu. Dort stelle ich Rucksack Kameratasche ab.
»Bitte pass darauf auf. Danke.«
Eine mächtige Reihe weißer Zähne grinst mich an. Ich glaube an die Menschheit im Großen und Ganzen. Gwen schiebt mich in den Club hinein. Er erinnert mich sofort an etwas aus den Siebzigern. Alte Charles Bronson Filme, Rockford oder ähnliches. Ein etwa acht Meter durchmessendes Podest als Tanzfläche, der Raum misst sicher zwanzig auf fünfundzwanzig Meter und komplett mit einem weinroten Teppich ausgelegt. In die Wände sind Nischen eingebaut mit Tischen drin, schwarze Tische, hochglanzpoliert. Und es riecht süßlich. Mir gefällt es. Ein Club mit Stil. Die Musik ist nicht laut, eine Funkmelodie. Dann das Publikum. Dreißig Leute etwa. Alle sehen mich an. Das Weißbrot, verwaschene Jeans, Cowboystiefel, weißes T-Shirt. Haare nicht gewaschen. Ich will in den Boden versinken. An einigen Tischen sitzen sehr edle Schwarze. Ein feiner, sehr glatt gebügelter Nadelstreifenanzug, weiter Schlag, rotes Hemd, die obersten drei Knöpfe offen, Goldkettchen und ein breitkrempiger Hut mit einem seidenen Band umwickelt. Wie im Film, denke ich. Von diesem Stil gibt es noch einige. Der Rest ist gekleidet wie ich. Die Frauen entsprechen eher Lindas Typ. Rechts hinter dem Eingang, an der Außenwand, ist eine große, geschwungene Theke. Gwen steuert darauf zu, also folge ich ihr. Ich fühle mich plötzlich wohl und weiß nicht warum.

An der Theke hocken ausnahmslos Gewichtheber. Linda sitzt schon neben einem Anzug. Gwen und ich nebeneinander an der Bar. Der Stiernacken links von mir schaut mich an, nickt kurz und starrt wieder auf sein Bier. Der rechts von Gwen grummelt eine Begrüßung, dann leert er sein Glas. Der Barkeeper gesellt sich gemächlich zu uns.
»Das ist Henry. Er kommt aus Deutschland«, erzählt Gwen.
»Ah, Deutschland. Mein Bruder war in Deutschland stationiert, in Coburg.«
»Coburg. In Bayern.«
»Ja«, raunt der Wirt. Er überlegt. »Henry? Ist kein deutscher Name, oder?«
»Ich heiße Heinrich«, sage ich.
»Okay, Henry ist besser. Was willst du trinken?«
»Was wird empfohlen?«, frage ich zurück.
»Russian Hip.«
Ich weiß nicht, was Russian Hip ist. »Nehme ich.«
Gwen ordert dasselbe. Er mixt etwas zusammen und stellt es vor unsere Nasen. Gwen und ich prosten uns zu und trinken das grünliche Zeug. Es schmeckt phantastisch frisch. Wodka mit Limone und noch etwas. Auf jeden Fall nicht zu wenig Wodka. Ich greife unwillkürlich zum Geldbeutel in der Gesäßtasche. Dort steckt auch mein Kugelschreiber. Ich hole ihn raus und gehe auf Klo. Auf dem Weg dorthin komme ich an Mike vorbei. Ich halte ihm den Lamy unter die Nase.
»Hier, ein Präsent aus Deutschland. Extra für dich.«
Er nimmt ihn sehr vorsichtig in die Hand, drückt auf den Knopf, es klickt satt. Mine raus, Mine rein, Mine raus, dann holt er einen Zettel aus der Tasche und malt Kringel. Mike ist offensichtlich beeindruckt, bedankt sich vielmals und reicht mir die Pranke. Ich schlage ein und er drückt zu. Gib dir nicht die Blöße, denke ich und versuche zu parieren. Zwecklos. Er lässt los und ich gehe auf Toilette.

Wieder an der Bar, den zweiten Russian Hip vor mir, mache ich ein paar Notizen auf einen Zettel. Gwen schaut zu. »Was schreibst du da?«, fragt sie nach einer Weile.
»Ein paar Notizen für Gedichte.«
»Du schreibst Gedichte? Was für Gedichte?«
»Na ja, Gedichte halt. Was ich sehe, wie ich etwas sehe und so weiter.«
»Bist du berühmt?«
»Nein. Mit Gedichten wird man nicht mehr berühmt. Hier in den Staaten vielleicht. Es gibt eine Menge Untergrundzeitschriften und kleine Verlage bei euch. Black Sparrow Press zum Beispiel.«
»Du kennst Black Sparrow Press?«
»Ja, Bukowski ist einer von denen, der durch Black Sparrow Press richtig berühmt wurde. In Deutschland hat er einen beachtlichen Erfolg.«
»Wow, du kennst Bukowski? In Deutschland wird der auch gelesen?«
»Bei uns ist er sogar ziemlich berühmt.«
»Das ist großartig, wirklich. Ich kenne Bukowski auch. Meine Schwester hat ein paar Bücher von ihm.«
Ich hebe das Glas. »Auf Bukowski«, proste ich ihr zu.
»Yeah, auf Bukowski.«
»Was ist mit Bukowski?«, fragt der Barkeeper.
»In Deutschland kennen sie Bukowski. Er ist dort berühmter als bei uns. Henry kennt ihn. Und er schreibt auch Gedichte«, erklärt Gwen.
Der Stiernacken links beugt den Kopf zu mir. »Wer schreibt Gedichte?«
»Das ist Henry aus Deutschland!«, sagt der Barkeeper, »und er schreibt Gedichte.«
»Wirklich? Mein Cousin schreibt auch Gedichte«, erwidert der Stiernacken erfreut. Der Barkeeper füllt unsere Gläser. Diesmal etwas mehr Wodka als üblich. Ich vertrage keinen Wodka. »Lies uns vor, Henry«, fordert er mich auf.
»Oh ja, lies uns vor«, bittet Gwen.
»Die sind doch alle auf Deutsch. So gut spreche ich nicht Englisch.«
»Los, Mann«, brummelt der Stiernacken auf. Alle um mich herum nicken. Der Alkohol macht mich leichtsinnig. Ich stehe auf und hole aus der Kopftasche des Rucksacks meinen Schreibblock. Mike, der Türsteher, fragt, was das sei. Gedichte, erkläre ich. Oh, Gedichte. Und was ich damit nun wolle? Den anderen an der Theke vorlesen. Ich gehe zurück und Mike folgt mir. Der Barkeeper bedeutet mir, auf seine Seite des Tresens zu kommen. Es wäre der beste Platz. Ich folge dem Rat. Er ist erfreulicherweise etwas kleiner als ich.
»Jonathan«, sagt er, »aber alle nennen mich Jon, ohne ‚h‘.« Er reicht mir die Hand. Ich nehme einen großen Schluck. Das Herz rutscht mir in die Hose. Bloß keinen Mist bauen jetzt. Auf was habe ich mich da nur eingelassen? Ich blättere ein paar Seiten zurück. Mein erster Tag in New York, die Geschichte, als der Busfahrer mir elf einzelne Dollar abknöpfte, keine Scheine akzeptierte. Die Zuhörer lächeln. Weiter. Die U-Bahn aus der Bronx, eine betrunkene Schwarze, obdachlos, liegt blutend auf dem Bahnsteig. Ohne aufzuschauen, trinke ich einen großen Schluck. ‚Amerika‘ ist das nächste. Nach einer Satzpause schaue ich in die Runde. Die Anzahl der Zuhörer ist gestiegen. Dann etwas über eine Frau in Deutschland, kurz und prägnant. Ich mache lange Pausen zwischen den Sätzen, trinke. ‚Lieben ist Leben‘ heißt eines. Ich höre ein paar Mal Yeah, dann Fuck, ein Gedicht über meinen verstorbenen Vater. Sie klatschen. Das Glas ist leer. Jonathan füllt nach. Manchmal erfinde ich Sätze dazu, wenn ich den dramatischen Punkt hervorheben will oder nicht weiter weiß. Weitere vier folgen, dann kann ich nicht mehr.

Lauter Hände drängeln sich an mich und ich greife danach. Gwen ist neben mir. Sie strahlt übers ganze Gesicht. Dann kehrt Ruhe ein und ich gehe wieder zum Hocker, setze mich, frage Jonathan, ob er etwas von ‚Public Enemy‘ hat. Das würde ich jetzt gerne hören. Der Stiernacken freut sich, dass ich ‚Public Enemy‘ kenne. Ich unterhalte mich mit Gwen und unseren Nachbarn über Deutschland, ab und zu gesellen sich Mike und ein paar andere zu uns. Ich fühle mich geborgen, bin aber wohl einfach nur komplett naiv. Gwen beugt sich zu mir. »Du bist ein Weißer mit schwarzer Seele«, flüstert sie mir ins Ohr. Was kann ich antworten? Dass ich nur Mensch sein will und das aber wohl nicht ausreicht, um die Welt zu retten? In meine Grübeleien hinein fliegt krachend die Eingangstür auf.

Vielstimmiges Geschrei, mein Überblick geht verloren. Alle sollen aufstehen und an die Wand, ich versuche im Durcheinander etwas zu erkennen. Polizisten in schwarzen Uniformen stehen an der Tür, Waffen in der Hand. Mike wird abgetastet. Meine Nachbarn, Gwen und ich werden von den Hockern gezogen. Durch meinen Wodkakopf höre ich ein paar Mal die lauter werdende Frage nach meinem Ausweis. Unter meinem T-Shirt!, brülle ich zurück. Jemand greift unter mein T-Shirt. Eine unendliche Zeit später packen Hände meine Schultern und drehen mich. Ein braunes Gesicht, blaue Augen.
»Was macht ein Deutscher in dieser Kneipe?« Er wiederholt die Frage.
»Freunde«, sage ich hastig. »Das sind Freunde von mir. Sie haben mich eingeladen.«
Gwen erklärt es ihm. Ein anderer bringt Rucksack und Kameratasche. Sie durchsuchen beides. Dann gibt es nichts mehr zu tun für sie. Ich sei verrückt, gibt mir der Braungesichtige zu verstehen. Sie führen fünf der Gäste ab, den Rest schmeißen sie raus. Der Club wird für heute geschlossen. Ich versuche dem Braungesichtigen klar zu machen, dass ich noch nicht bezahlt habe. Er lächelt mitleidsvoll.

Gwen und ich stehen betrunken auf der Straße. Die Leute haben sich verzogen, samt Polizei. Mir kommt der Gedanke, dass ich eine Menge Geld gespart habe.
»So, Gwen, und was jetzt?«
»Wir gehen zu mir.«
»Ist das weit?«
»Es geht«, antwortet sie lapidar und stiefelt los. Ich schultere das Gepäck und marschiere hinter ihr her. Was bleibt mir anderes übrig? Uhrzeit und Orientierung gibt es nicht mehr auf diesem Planeten. Der Wodka poltert durch meinen Kopf. Ich verfluche die Situation und bin deprimiert. Nach ein paar Minuten nähert sich ein Taxi. Ich springe zwischen den parkenden Autos auf die Straße und stoppe es, rufe Gwen, die ein paar Meter voraus läuft. Ich werfe meine Last auf den Rücksitz, bugsiere Gwen ins Taxi und nehme vorne Platz.
»Wohin?«, fragt der Fahrer. Gwen nennt ihm eine Adresse, ihren Kopf schon leicht nach vorne gebeugt. Er sagt nichts, ich auch nicht und dann ist sie eingeschlafen. Nach fünf Minuten halten wir vor einem Haus.
»He, Gwen! He, wir sind da!« Ich rüttle kräftig an ihr. Sie hebt den Kopf, schaut raus.
»Nee, hier wohn’ ich nich’.«
Ich sehe den Taxifahrer an.
»Jesus«, die ist total besoffen«, stellt er fest.
»He, verdammt, Gwen! Du hast doch gesagt, du wohnst hier!« Ich rüttle sie wie ein Mixgetränk. Sie kommt zu sich, blickt wieder aus dem Fenster.
»Ja, Mann!« Der Taxameter tickt, Gwen starrt durch die Scheibe, fixiert mich, als nähme sie all ihre Konzentration zusammen. »Hier hab’ ich mal gewohnt, vor zwei Wochen. Jetzt wohn’ ich in ‚Roar‘. Direkt an der Startbahn.« Dann sackt sie weg.
»Wie weit ist das?«, frage ich den Taxifahrer.
»Eine Viertelstunde.«
»Und wie viel wird das kosten?«
»Zehn Dollar.«
»Dann mal los.«
Ich frage ihn, ob ich hinten die Scheibe runterkurbeln kann, um Gwens Zustand durch Frischluft zu verbessern. Er ist einverstanden. Also Frischluft hereinlassen. Nach kurzer Zeit hänge ich ihren Kopf aus dem Wagen. Sie stöhnt und redet wirres Zeug. Das Gewirr der Straßenschluchten zieht an mir vorüber, dann biegen wir links ab und halten abrupt.

»Hier steigen wir aus«, sagt Gwen. Mit einem Mal ist sie wieder hellwach, steigt aus und ich bezahle, packe das Gepäck. Die Straße ist kaum beleuchtet. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite ist die Startbahn des Flughafens und eine Maschine hebt ab. Der Name des Stadtteils leuchtet mir ein. Auf unserer Seite liegen die Mietskasernen, verwahrloste Ziegelbauten, diagonal angelegt, mit der Stirnseite Richtung Flughafen. Zwischen ihnen befindet sich jeweils ein zwanzig Meter breiter Grünstreifen. »Los, komm«, fordert sie mich auf, »wir sind gleich da.« Ich schultere ein weiteres Mal mein schweres Gepäck und folge ihr. Vor dem vierten Haus, dessen Eingang auf der Frontseite ist, bleibt sie stehen, geht auf die verglaste Haustür zu, öffnet. Ein ordinärer Muff schlägt mir entgegen. Spaghetti mit Tomatensoße, Hähnchen, Urinstein, alles Mögliche und in konzentrierter Form.
»Einen Moment noch, Henry.« Sie bleibt vor der ersten Wohnungstür stehen. »Geh schon mal hoch. Ich wohne im ersten Stock, gleich die erste Wohnung. Ich wasche mich kurz und hole meinen Sohn.«
»Deinen Sohn?«
Gwen lächelt.

Der Weg nach oben ist wie Slalomlaufen. Um Kaugummis und seltsame Flecken herum. Dann stehe ich vor der Tür. Oder vor dem, was mal eine Tür war. Unten fehlen glatte fünfzehn Zentimeter auf der ganzen Breite. Ein Brett ist drüber genagelt. In Brusthöhe befinden sich trichterförmige Löcher, vier oder fünf Stück. In eines stecke ich meinen Zeigefinger. Das Sperrholz ist nach innen gesplittert. Hinter mir ist die Stimme eines Kleinkindes. Dann steht Gwen neben mir. Mit einem derart süßen Fratz auf dem Arm, dass ich sofort alles vergesse.
»Das ist Quentin«, sagt sie stolz. »Quentin, das ist Henry, aus Deutschland.« Quentin grinst mich an.
»Wie alt ist er?«
Gwen hebt ihn hoch. »Er ist jetzt drei Jahre alt.« Sie streckt ihn her. Ich nehme ihn auf den linken Arm und bewundere die vielen Locken, während Gwen in ihrer Hosentasche nach dem Schlüssel kramt.
»Was ist mit deiner Tür passiert?«
»Ungebetener Besuch, nehme ich an. Das war schon, als ich hier einzog.«
Sie ist schon wieder fit. Ich muss staunen. Nicht zu vergleichen mit der letzten halben Stunde. Offenbar verträgt sie einiges. Der Schlüssel steckt im Schloss, die Tür geht auf, ich setze den kleinen Quentin auf den Boden und schiebe ihn samt Gepäck in die dunkle Wohnung. Und es bleibt dunkel. Ich taste mich so gut es geht hinein.
»Gwen, wo ist das Licht?«
Die Antwort kommt in Form einer dicken, brennenden Kerze. »Hier gibt’s kein Licht. Den Strom ham sie mir abgestellt.«
Meine Augen gewöhnen sich an das Kerzenlicht. Was sie als Wohnung bezeichnet, ist ein Loch. Ein leeres Loch in Form einer Zweizimmerwohnung. Auf der rechten Seite das Fenster zum Flughafen. Das größere Zimmer ist etwa vier auf vier Meter und gleichzeitig auch die Küche. Das kleine Zimmer komplett leer. Vielleicht zwei auf drei Meter. Links, von der Tür aus gesehen, das Bad. Ich werde mir des Gestanks bewusst, der sich in meiner Nase ausbreitet. Rechts im Eck des ‚Wohnzimmers‘ türmt sich ein Berg Bettwäsche. Eine Quelle des Geruchs. Im linken Eck ein Berg mit Kleidung. Es macht den Eindruck einer Kleidersammelstelle des Roten Kreuzes. Alles was der Mensch zum Anziehen benötigt; nur eben völlig durcheinander und wahrscheinlich sehr verschmutzt. Gwen stellt die Kerze auf den Boden und knuddelt Quentin. Ich setze langsam einen Fuß vor den anderen. Es gibt Teppichboden, zumindest wurde er mal als solcher verkauft, übersät mit Flecken, Brandlöchern, abgewetzten Partien, Unrat, leeren Trockenmilchdosen. Die Flecken beeindrucken mich. Große, rote Fladen. Ich denke an getrocknetes Blut und fünf Löcher in der Tür. Mit diesem Teppich würde ich in Deutschland Millionär, ein zweiter Joseph Beuys.

Vorsichtig taste ich mich um die etwas nach vorn gezogene Trennwand. Dahinter siedelt die Einbauküche. Hängeschränke, Spüle, ein Herd, eine Arbeitsplatte und ein riesiger Kühlschrank. Die Küche ist nicht besser als der Teppich. Hier hält niemand etwas vom Spülen. Töpfe, Teller, Essensreste, getrockneter Ketchup, starre, kalte Fritten, eine Art organischer Sumpf in der Spüle. Ich mache den Kühlschrank auf, rein interessehalber, schließe ihn aber gleich wieder. Er ist eine Art Bioreaktor. Mich zupft etwas am Hosenbein. Es ist Quentin.
»Hunger«, sagt er grinsend.
»Gwen, dein Sohn hat Hunger.«
Sie schaut ums Eck. »Ich hab nichts. Morgen kriegt er was bei seiner Oma.«
Der Kleine schaut mich weiterhin an.
»Hunger.«
»Wie mir scheint, hat er aber jetzt Hunger, nicht morgen.«
Sie kniet sich hin und versucht ihm zu erklären, dass es erst morgen etwas gäbe. Er blickt traurig drein, aber dann sieht wieder zu mir auf, mit seinen großen schwarzen Knopfaugen. Ich halte es nicht aus.
»Gwen, wo gibt es hier einen Supermarkt? Einen, der noch offen hat?«
»Vorne ums Eck ist einer.«

Ich lasse mir den Schlüssel geben und gehe in den Supermarkt, besorge zwei Flaschen Milch und etwas vom nahrhaften amerikanischen Weißbrot, das sich wie eine Ziehharmonika pressen lässt. Unvermittelt sehe ich mich in der Küche wieder, meinen kleinen Gaskocher vor mir, wärme Milch im Campingtopf. Dann fülle ich sie in eine Nuckelflasche, die ich zuvor mit kochendem Wasser desinfiziert habe. In den Rest der Milch versenke ich Teile des Weißbrots. Dann wird angerichtet. Auf den Boden habe ich mein großes Badetuch gelegt, auf dem wir alle Platz haben.
»Vorsicht, Quentin, die Milch ist noch sehr heiß.«
Er nimmt die Flasche in die Hand, schert sich nicht um meine Warnung, setzt an und trinkt in einem Zug aus. Dann grinst er wieder übers ganze Gesicht, verputzt das in die Milch getauchte Brot und blickt mich erneut auffordernd an. Also dasselbe noch mal. Wieder verschwindet es wie nichts. Ich krame zwei Zigaretten raus, gebe Gwen eine. So betrachten wir eine Weile still das flackernde Kerzenlicht. Der kleine Quentin kriecht auf den Schoß seiner Mutter und lässt sich streicheln. Ein müdes Lächeln erscheint dann und wann auf Gwens Gesicht. Eine absurde Situation. So viel Zärtlichkeit zwischen all dem Elend. Mir kommen die Tränen. Mühsam verstecke ich das Gesicht im Halbdunkel. Ein paar Mal schniefen und es geht wieder. Mit einem Mal wird Quentin fit. Er wackelt ins Eck, schnappt sich eine Trockenmilchdose, stellt sie mitten in den Raum, zieht die Hose runter und setzt den kleinen Hintern auf den großen Weißblechbecher. Ich staune. Alles ist so selbstverständlich. Er beginnt zu pressen, sein Gesicht verkrampft sich, dann die Erlösung. Als Garnitur gibt es noch ein bisschen Flüssiges. Gwen hilft ihm beim Abputzen und wäscht ihre Hände im Bad. Quentin setzt sich auf meinen Schoß und lehnt den Kopf an meine Brust. Ich kraule seine Haare.
»Macht er das immer so?«
»Ja. Das macht er doch gut, oder?«
»Ja, so selbstständig, aber … hast du kein Klo?«
»Oh, die Toilette war schon verstopft, als ich hier einzog.«
»Und wo gehst du auf Klo? Ich meine, für einen Erwachsenen ist die Dose doch sicher etwas zu klein?«
»Ich geh entweder runter zu meiner Mutter, und wenn die nicht da ist, rüber zum Flughafen. Da hat’s vorne am Eck jede Menge Büsche.«
Ich überlege kurz. »Und auf die Idee, deinen Klo zu reparieren, bist du noch nicht gekommen?«
Sie lacht. Herzlich oder zynisch? Ich vermag es nicht zu erkennen.
»Für was?«
Tja, für was? Vielleicht hat sie ja sogar recht. Etwas steigt in meine Nase. Das ist eindeutig die Dose. Ein erdrückendes Fluidum.
»Die Dose stinkt, Gwen.«
»Oh, Entschuldigung, warte …« Sie steht auf und wirft sie in hohem Bogen aus dem Fenster. »Schon fertig.«

So einfach ist das. Der kleine Quentin hat sich hingelegt. Nicht in ein Bett. Es gibt ja kein Bett in dieser Wohnung. Er liegt auf dem Badetuch und ist schon halbwegs eingeschlafen. Er wird frieren, befürchte ich, aber mir wird klar, dass er nicht seine erste Nacht auf diese Art verbringt, ohne Decke, ohne ein weiches Kissen. Mit angewinkelten Knien, die Handflächen unter dem Kopf gefaltet. Ich krame ein zweites Handtuch aus dem Rucksack und decke ihn zu. Gwen setzt sich neben ihn. Sie gehören zusammen, man spürt es. Sie redet mit ihm, leise Worte über ein kleines Märchen. Ein Märchen, das von ihrer Welt Lichtjahre entfernt ist. Ich drehe mich weg, schaue aus dem Fenster auf den vom Flughafen erleuchteten Himmel. Eine Maschine startet. Schon wieder Tränen. Ich weiß nicht weiter. Ratlosigkeit in dieser Form ist mir fremd. Es gibt keine dummen Sprüche, die diese Situation retten können. Kein Boden mehr unter meinen Füßen. Nichts, auf was ich stehen kann. Mit dieser Realität habe ich keinerlei Erfahrung. Der kleine Quentin ist eingeschlafen, atmet leicht und unbeschwert. Gwen robbt an mich heran. Wir lehnen gemeinsam am kalten Heizkörper. Ich bezweifle, dass er überhaupt funktioniert.
»Das alles hier macht keinen Sinn«, sage ich, ohne es zu wollen.
»Was für einen Sinn sollte es haben?«
Gwens Frage entbehrt jeder Vision. Sie klingt überrascht.
»Einen Sinn eben. Ich habe ja auch noch keinen gefunden. Was für einen Sinn bewahrt das Leben sich für Quentin auf?«
Sie setzt sich mir gegenüber. »Hey, Henry. Was ist mit dir? Du hast ja Tränen in den Augen. Wo ist der starke Henry, der Gedichte vorliest und lachen kann und viel trinken?«
Ich lächle sie verzweifelt an. »Den gibt es gar nicht.«
Mir kommt ein beunruhigender Gedanke.
»Wer ist eigentlich der Vater von Quentin?«
Gwen schaute mich verdutzt an. »Ein Schwarzer nehme ich an.«
Ich lache unvermittelt los. »Ja, aber, ich meine, wer ist er? Wo ist er?«
Sie lehnte sich zurück und sinniert ein paar Sekunden. »Tja, ich weiß es nicht. Es gibt da wohl einige Möglichkeiten. Wenn ich es genau zurückdatiere … vielleicht die Nacht, von der ich überhaupt nichts mehr weiß. Am anderen Tag bin ich aufgewacht, war nackt, und hatte das Gefühl, jemand hätte mich recht hart rangenommen. Mir tat alles weh. Da unten meine ich …« Sie deutet zwischen ihre Beine. Ich nicke. »Es hat geblutet. Meine Tage hatte ich nicht. Ich kann mich an nichts erinnern. Ich war wohl zu betrunken. Vielleicht hat mich auch einer vergewaltigt. Auf jeden Fall habe ich schon seit vier Jahren keinen festen Freund mehr.«
»Warum nicht? Was ist mit Heirat?«
Im gleichen Augenblick verfluche ich mich für derart dämliche Fragen. Aber ich suche nach Gründen, nach irgendwas, mit dem ich mir das hier erklären kann. Gwen rückt an mich heran, legt ihren Kopf auf meinen Schoß. Das Feuer in ihren Augen brennt.

»Ich war mal verheiratet, eigentlich bin ich’s noch. Ist aber schon paar Jahre her. Ich weiß nicht, wo der Idiot sich herumtreibt, keine Ahnung.«
»Warst du glücklich mit deinem Mann?«
Sie lacht glucksend. »Jesus, nein, Mann. Am Anfang, na, da war ich verliebt. War fertig mit der Schule und so. Hab bei Sears-Robuck abends Kleider auf die Stange gehängt. Der Abteilungsleiter wollte mir dauernd an meinen kleinen schwarzen Arsch. Ich habe gekündigt und geheiratet. Nach ein paar Wochen war’s dann auch schon vorbei mit dem Verliebtsein. Er war noch nicht mal halb so intelligent wie der Abteilungsleiter bei Sears und meistens einfach nur brutal. Ficken, trinken, mit den Kumpels rumziehen. Dann saß er ein halbes Jahr im Knast. Und als er raus kam, war er nur noch kalt.« Sie schweigt. Mir ist nicht aufgefallen, dass ich ihr durch die Haare streichle. Wärme. Das ist es, was die Menschen am nötigsten haben. Doch wer hat schon genug von dieser Wärme. Bei den meisten reicht es ja noch nicht mal für den Eigenbedarf. Ich sehe, wie sich Gwens linker Arm nach oben streckt. Ihre Hand fasst meinen Nacken. Sie ist kräftig, zieht mit gleichmäßiger Kraft meinen Kopf nach unten. Ihre Lippen öffnen sich leicht, ich spüre den Atem vor der Nase. Dann stoppt die Talfahrt. Es ist eine erotische Distanz. Nur Millimeter zwischen unseren Lippen. Kribbeln ohne Berührung. »Du bist ein Weißer mit schwarzer Seele. Du gefällst mir, Henry.«

Ich weiß nicht was antworten und traue mich nicht näher an ihre Lippen heran, habe Angst vor dem, was kommt. Bin auf einmal erregt und schäme mich dafür. Sie zieht mich endgültig nach unten. Keine Gegenwehr. Ihr Geruch ist würzig, hängt wie Chloroform in meiner Nase und betäubt Bilder und Gedanken, die mir durch den Kopf geistern. Zaghaft öffne ich den Mund, will nicht zu weit gehen. Sie tut es dafür. Ihre kreisende Zunge sucht meine Zunge, findet sie. Etwas fällt von mir ab. Meine Hände manövrieren sich an ihren Kopf, umschließen ihn, die Daumen fahren sanfte Kreise auf ihren Schläfen. Gwen krallt sich in meinen Nacken, zieht und sucht nach Halt. Ein ewiger Kuss. Dann trennen sich unsere Lippen wie zwei frisch verklebte Plastikteile. Ich höre nicht auf, ihren Kopf zu massieren. Die Lust in mir kämpft mit meiner Vernunft, mit meinem Gewissen.
Sie setzt sich aufrecht, zieht den weißen Pullover aus, mein T-Shirt. Langsam folgt ihre Hose, meine Hose, dann sitzen wir uns gegenüber, im Schneidersitz, nackt. Sie schwarz wie die Nacht, ich weiß wie schmutziger Schnee. Ihr Körper samten glänzend unter dem fahlen Licht des Flughafens. So sitzen wir einige Zeit und betrachten uns. Ihr entgeht nicht mein wachsendes Begehren. Sie rutscht heran, zieht mich von der Heizung weg und drückt mich auf den Rücken, legt sich auf mich. Die Wärme ihres Körpers ist immens, ein Ofen, Gwens Brüste massieren meinen Oberkörper, ihre Brustwarzen sind auf meinen. Meine Finger treffen sich, wo die Pobacken sich berühren, fahren dieses Tal nach unten, nach oben, dann den Rücken hinauf, über ihre Lenden, zurück zum Hals, lösen sich von ihrer Haut, schweben berührungslos den Rücken hinab. Sie zuckt, gibt leise Töne von sich, erschauert.
»Der magische Henry.«
Ich sehe sie an und küsse ihre Lippen, ihren Hals. So viel Anmut in einem so winzigen Moment. Dann rutscht sie plötzlich nach unten. Ihre Lippen küssen meine Brustwarzen, meinen Nabel, dann haucht sie meinen Namen auf mein Begehren und umschließt es mit dem Mund. Meine Hand landet auf dem Teppich, sucht nach Halt. Findet Halt. Ich lange in einen getrockneten Ketchupfleck oder was immer es ist. Plötzlich fällt mein Blick auf den kleinen Quentin. Er schläft mit unschuldiger Miene auf meinem Badetuch und ich weiß, es ist falsch, was ich tue. Der Zauber verfliegt. Ruckartig richte ich mich auf und ziehe Gwen weg, hebe sie an den Schultern hoch vor mein Gesicht. Sie schaut mich verdutzt an.
»Habe ich was falsch gemacht?«
»Nein. Alles war wunderbar, aber … ich kann nicht. Es geht einfach nicht.«
Sie sieht mich für eine halbe Minute an, schweigend, in ihre Augen tritt ein wissender Blick. »Es ist eine Frau zwischen uns, hab ich recht?«
»Nein«, erwidere ich.
»Was ist es dann?« Ihr Kopf sinkt nach unten, wie ein nasser Sack, und die Tränen gleich hinterher. »Es ist, weil ich schwarz bin, oder?« Ich ziehe sie an mich.
»Nein. So ein Denken ist mir fremd.«
Gwen wischt sich die Augen halbwegs tränenfrei. »Schon gut. Ich weiß, dass es nicht so ist. Entschuldigung.«
»Ich weiß nicht, ob ich es erklären kann. Ich bin traurig. Ich … ich verkrafte das nicht wirklich gut hier, deine Realität. Ich habe das Gefühl, dich auszunutzen, denn morgen bin ich weg in einer völlig anderen Welt und ihr beide seid immer noch hier in diesem … diesem …«
»Aber gerade dann ist ein bisschen Liebe doch wichtig«, wirft sie fast flehend ein. Ich lehne mich wieder an die kalte Heizung. Gwen dreht sich. Ihr samtener Rücken lehnt an meine Brust, der Kopf an meiner linken Schulter. Es ist schwer zu beschreiben, was in mir passiert. So beginne ich, ihren Kopf zu massieren, die Schläfen, das ganze Gesicht. Mit den Fingern über Augenbrauen, Wangen, den Hals. Gwen genießt die Berührungen. Ich genieße meine Berührungen. Es beruhigt mich. Ein kleines Stück Geborgenheit inmitten dieser verbrannten Erde. Sie nimmt meine Hand und legt sie vor ihren Schoß, vor die heftige, feuchte Hitze. Mein Finger tastet danach, taucht hinein, langsam, von oben nach unten, zögerlich. Dann öffnete sie sich und ich berühre den Punkt, der sie leicht zittern lässt. Ich zeichne geometrische Figuren auf die pulsierende Sehnsucht. Langsam schneller, schnell langsamer werdend, höre auf, bevor sie atmen kann, beginne erneut. Die Hitze verbrennt fast meine Hand, Gwens Rücken spannt sich mehr und mehr. Ihre Hände greifen nach oben, umklammern meinen Hals, aus ihrem Mund kommt ein leichtes Stöhnen, abgehackte Töne. Dann vergeht sie in einem sanften Feuer gequälter Stimmen und zuckender Muskeln. Ich halte sie fest und fange meine Tränen mit der Zunge auf.

Stunden oder nur Minuten schweben vorbei, ohne uns auch nur zu berühren. Zeit ist uns abhanden gekommen.
»Du bist sicher, dass du nicht auch Zärtlichkeit brauchst, Henry?«
»Wir werden jetzt schlafen. Ist besser so.«
Sie steht auf und zieht sich den Pullover über. Ich lege mich vor die Heizung, starre an die Decke und zünde eine Zigarette an. Gwen legt sich neben mich, beugt sich über mein Gesicht und gibt mir einen Kuss.
»Ich könnte dich lieben, Henry.«
»Ich dich auch, Gwen.«
»Gute Nacht.«
»Gute Nacht.«
Sie dreht sich um. Ihre Hände faltet sie unter dem Kopf zusammen. Wie der kleine Quentin. Als ich mit der Kippe fertig bin, schmeiße ich sie aus dem Fenster.

Der Schlaf weicht sehr langsam aus meinem Hirn. Die Realität drängt sich mit unerbittlicher Brutalität in mein Erwachen. Ich sehe den Teppich, rieche den Moder, der in jeder Ecke dieser Wohnung nistet. Auf dem Kleiderberg entdecke ich Quentin. Grinsend sitzt er da wie ein König. Ich lächle gequält zurück.
»Hi, Quentin. Bist du okay?«
Er nickt. Als ich stehe, strecke ich mich ausgiebig und gehe auf die Tür am Ende des Flurs zu. Mein Bedürfnis nach einer Dusche ist enorm. Aber Dusche und Klo sind nur undeutlich als solche zu erkennen. Nicht mehr als ein Haufen Dreck. Ich kann unmöglich auf dieses Klo und in diese Dusche. Also durchsuche ich in der Küche die Schränke nach einem Reinigungsmittel, finde etwas mit Phosphorsäure und Rorax. Als Reinigungstuch verwende ich eines meiner Handtücher. So bewaffnet, beginne ich sauber zu machen.
Ich verbrauche den ganzen Reiniger. Erstaunlich, wie viel Dreck ich damit entfernen kann. Das Klo ist schwieriger. Ich kippe die ganze Flasche Rorax hinein. Es zischt und schäumt. Immer wenn die Verstopfung ein wenig nachgibt, lasse ich Wasser nachlaufen, um den Druck hoch zu halten. Dann blubbert es unheimlich, und was auch immer es war, es rutscht durch. Unwillkürlich schüttelt es mich. Einigermaßen zufrieden steige ich in die Dusche. Gerade als ich den meisten Schaum in meinen Haaren und auf meinem weißen Körper habe, tritt Quentin ins Bad. Er schaut mich erstaunt an.
»Daddy?«
Ich stellt mich unter den Wasserstrahl, die Seife läuft über mein Gesicht. »Ich bin nicht dein Daddy. Schau mich an.« Ich zeige auf mich. »Ich bin weiß, du bist schwarz. Ich kann gar nicht dein Daddy sein.«
»Daddy?«
Es ist zwecklos. »Was gibt es?«
»Hunger, Daddy.«
»Okay, Quentin. Weck deine Mama. Wenn ich hier fertig bin, gehen wir frühstücken.«
Er grinst. Ich beeile mich und gönne mir noch eine Rasur. Gwen kommt ins Bad, stellt sich neben mich und schaut ebenfalls in den Spiegel. Meine Rasur interessiert sie. Plötzlich packt sie meine linke Brustwarze und dreht sie sanft. Ich knicke ein und schneide mich unterm Kinn. »Scheiße! Nicht da drehen. Dann werde ich schwach.«
Gwen lacht. »Hätte ich das heute Nacht gewusst, wärst Du mir nicht entkommen.«
»Zieh lieber deinen Sohn an. Wir gehen jetzt frühstücken.«
Sie schlurft aus dem Bad und ich betrachte den Schnitt, ziehe die Klamotten an und packe den Rucksack.

Es ist heiß. Der Effekt des Duschens verflüchtigt sich nach zehn Minuten Herumlaufens auf den Straßen. Mein Rucksack ist immer noch schwer, die Fototasche baumelt mir vor dem Hals, und zu allem Überfluss sitzt Quentin in meinem Nacken. Zu faul zum Laufen. So erreichen wir eine ziemlich breite Straße. Direkt am Eck ist ein klimatisiertes Frühstückslokal. Sehr groß und so gut wie leer. Wie erfreulich. Wir setzen uns auf die Barhocker am Eck vor den Toiletten. Ohne lange zu überlegen, bestelle ich drei Teller mit Rührei, Schinken und Toast. Große Portionen. Der kleine Quentin sitzt zwischen Gwen und mir. Ich ordere einen Orangensaft für ihn, den er auch prompt über die Theke kippt. Ich lasse noch einen bringen und einen Lappen. Als ich den Boden aufwische, fällt ein großes Stück Rührei vor meine Nase. Ich will es gerade aufheben, als Gwen nach unten kommt, und es sich in den Mund steckt. Ich sage nichts und setze mich wieder. Der Wirt kommt und schenkt Kaffee nach. Wieder fällt ein Stück Rührei auf den Boden. Gwen bückt sich und isst es auf.
»He, Gwen. Wenn du noch einen Teller möchtest, dann bestell noch einen. Aber lass um Himmels Willen das Rührei auf dem Boden liegen. Wer weiß, wie viele Hunde da schon hingepinkelt haben.« Sie schaut mich verlegen an.
»Freust du dich auf Deutschland?«
»Ja, sicher. Ich bin froh, wenn ich wieder daheim bin. Ich kann mit eurem Land wenig anfangen. Vielleicht habe ich auch nicht die richtigen Dinge gesehen.«
Doch ihr Interesse ist nicht der Grund ihrer Frage. Ich spüre die Traurigkeit und komme mir wie ein Idiot vor. Hier bleiben? In Denver? Bei Gwen und dem kleinen Quentin? Der Gedanke ist mir gekommen und auch sehr verlockend. Gwen, ein sanftes, schönes Wesen und der Kleine ein pragmatisches, süßes Kerlchen. Wie Säure frisst sich das schlechte Gewissen in mich hinein. Ich merke, dass ich nicht zu einem weißen Ritter tauge, der, das Schwert schwingend, für Gerechtigkeit sorgen kann. Ich kann ja nicht mal für mich sorgen. Gwen bemerkt meine Zerrissenheit. Ich fische den Geldbeutel raus, rechne kurz zusammen, plus Trinkgeld, und bezahle. Der Wirt sieht das Geld, zählt nach und ist zufrieden.

Ich schultere das Gepäck, dann steuern wir auf den Ausgang zu. Draußen brennt die Sonne nach wie vor unbarmherzig auf die baumlose Straße. Der Asphalt reflektiert die enorme Hitze. Ich setze den Rucksack ab und nehme Quentin auf den Arm. Er klammert sich plötzlich an mich, die kleinen Arme um meinen Hals und drückt seine Wange an meine, dass es fast schon weh tut. Ich streichle den Lockenkopf, und gebe ihm einen dicken Schmatz. Er wohnt bereits in meinem Herzen. Ebenso wie Gwen. Es ist zum Verrücktwerden. Ich sehe Gwen über seine Schultern hinweg weinen.
»Quentin, halt deine Mama fest.«
Sie nimmt ihn mir ab. Wir küssen uns. Ich drücke alle beide fest an mich und muss gehen. Losreißen ist die einzige Möglichkeit, wegzukommen.
»Henry. Danke für alles.«
»Ich danke dir, Gwen.«
»Vergiss uns nicht.«
»Nein, das werde ich nicht.«
Sie dreht sich um und verschwindet schnell um die Ecke. Ohne sich noch einmal umzudrehen. Ich suche ein Bushäuschen. Die Linie 146 fährt direkt zum Flughafen.

Auf dem Flug von Denver nach Baltimore fällt mir ein, dass ich nach ihrer Adresse hätte fragen können, ich Idiot. Ich verfluche mich. Care-Pakete aus Deutschland, Briefe oder vielleicht eine Einladung. Geld hätte ich ihr schicken können. Spielzeug für den kleinen Quentin. Ich beschließe, nicht zu vergessen und alles aufzuschreiben.

Diese Geschichte

Geschrieben im Jahr 1995. Die Geschichte ist aus dem Jahr 1991. Und es ist einer meiner wichtigsten Texte. Gemäß dem letzten Satz: Nicht vergessen und aufschreiben. Eine wahre Geschichte, da muss ich Euch nichts vormachen. Die beiden Menschen, Gwen und Quentin, haben seit diesen Tagen einen Platz in meinem Herzen; für immer.

Unterstützung durch Crowdfunding

Unterstütze Heiko Tessmann auf Tipeee

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert