Warum „… die Reste vom Krieg“?

Fragen zum Buch

Über Facebook erreichte mich von zwei unterschiedlichen Menschen die identische Frage: „Warum hat der Roman diesen Titel?“ Eigentlich schnell beantwortet. Ich erinnere mich an die vielen Male, die ich mit meiner Mutter oder meiner Oma mit dem Oberleitungsbus (O-Bus) der Linie 9 in die Stadt fuhr. In der in Pforzheim so benannten ‚KF‘, der Kaiser-Friedrich-Straße, gab es zwischen dem einen oder anderen Haus Lücken. In diesen Lücken standen Mauerreste, ein Schornstein, Bewuchs zwischen den Mauern. Ich fragte, was dieses kaputte Haus sei. Und die Antwort war: „Das sind die Reste vom Krieg.“ Da drunter konnte ich mir erst mal nichts vorstellen. Ich musste mir das Wissen aus Puzzleteilen zusammensetzen. Bei der Neuauflage des Buches hat Caroline Dabrunz einieg Illustrationen beigesteuert, die – wie ich finde – sehr gut zum Text passen und die Sichtweise des kleinen Heinrich gut abbilden. Danke dafür.

Zu diesen kleinen Puzzleteilen gehörten die Reaktionen der Erwachsenen auf für mich harmlose Situationen. Dazu zähle ich die monatliche Sirenenübung (Fliegeralarm, ABC-Alarm, Entwarnung). Als ich realisierte, dass meine Oma bei Beginn des Heultons unter dem Küchentisch verschwand – oder manchmal unter die Eckbank – meiner Mutter sich die Haare stellten, war ich natürlich neugierig, und auch hier kam die Antwort, die so ähnlich ausfiel: „Die Reste vom Krieg.“ Wenn propellergetriebene Flugzeuge über die Stadt flogen, begegnete ich den Reflexen, im Graben Schutz suchen zu wollen bei meiner Oma. Noch intensiver war dies alles aber bei meinem Opa (der mein Stiefopa war, den ich aber sehr gerne hatte). „Sein Krieg“ war noch so lebendig, dass ein Teil von ihm noch „dort drin gefangen“ war. Er war bei der Panzertruppe in Russland (ab dem 22. Juni 1941, Barbarossa). Als seine Einheit 1943 aufgerieben wurde und man die Division neu aufstellte, kam er nach Italien, denn die Amerikaner waren dort gelandet. In den letzten Wochen wurde er dort nördlich von Bologna in einem Granattrichter verschüttet. Bis man ihn ausgrub, war er ohne Sauerstoff, was neurologische Schädigungen nach sich zog. Er konnte nicht mehr dauerhaft als Goldschmied arbeiten, Konzentrationsabbruch, nächtliches Schlafwandeln, Flashbacks, wie man heute so schön sagt. Also eine Kombination von Sauerstoffentzug mit PTBS. Er war ein sehr humorvoller Mensch, der Schalk saß ihm im Nacken. Doch wenn die Bilder aus seinem Inneren aufstiegen, gab es kein Halten.

Zu den Lebensumständen meines Opas gehörte es, dass er auch daheim arbeiten konnte. Er war ein sehr guter Goldschmied und die Firma brachte ihm Aufträge ins Haus. Wenn er sich nicht mehr konzentrieren konnte, schnappte er sich seinen Enkel und wir gingen zusammen immer denselben Weg, den sogenannten „Wasserleitungsweg“ in den Schwarzwald hinein. Oft stundenlang. Bis hinter Neuenbürg. Er konnte viel erzählen über die Tiere, die Pflanzen, seine Heimat (Nürnberg). Wurde er stiller, kamen die Bilder hervor. Dann setzten wir uns irgendwo hin und er fing an zu erzählen. Geschichten aus Russland. In diesen Geschichten kam alles vor, was vom Russlandfeldzug bekannt ist. Trommelfeuer der Artillerie, Stalinorgeln, Siege, Beinahetode, Schrappnelle in seinem Körper, Partisanen und Partisanenermordung, das Sterben von Kameraden, Rotarmisten und Bevölkerung. Und da war noch etwas, was er nicht mit dem Wort benannte, aber durch Weinen bekundete: Er fühlte sich schuldig. Schuldig, Taten begangen zu haben, die „eines Soldaten nicht würdig waren.“ Als Kind wusste ich nichts über das, was eines Soldaten würdig war. Aber ich bemerkte im Laufe der Jahre deutlich, wie sich „sein Krieg“ in meinem Kopf festsetzte. Und so gab es in mir plötzlich auch „… die Reste vom Krieg.“

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