Blau ist nicht der Himmel

Teile des Textes enthalten gewalttätige Szenen. Bitte überlegt, ob Ihr das lesen möchtet.
KURZGESCHICHTE

Tecumseh Longwater
Keine dreißig Fuß vor mir schluckt der Dschungelboden Menschen, Kisten, Säcke. Der Regen fällt so dicht und prasselnd, dass ich Mühe habe, Details zu erkennen. Es sind Schatten, die in loser Abfolge aus dem Erdreich steigen oder in ihm verschwinden. Ich robbe rückwärts, langsam, in derselben Spur, die ich im Schlamm zog, als ich bis zu diesem Punkt kroch. Zentimeter um Zentimeter. Unter meinem Körper fließen Rinnsale, bilden in Windeseile Pfützen. Zweige und Laub sind in Bewegung, mit dem Wasser auf dem Erdreich, das zunehmend rutschiger wird. Ein Rascheln rechts. Ich stoppe instinktiv und halte den Atem an. Zwischen kleinen Luftwurzeln kriecht ein Hundertfüßer hervor. Lang wie mein Unterarm, dunkelrot, bewegt er sich bis vor mein Gesicht. Hält an und hebt den vorderen Teil seines Körpers. Sein Fühlerpaar bewegt sich virtuos hin und her. Ich schiebe die rechte Hand vorsichtig zur Hüfte, taste nach dem Messergriff. Er senkt den Kopf und verschwindet aus meinem Gesichtsfeld. Ich atme aus. In der Dichte des Regens ist es unmöglich, dass die Gooks meine Bewegungen erkennen. Vorsichtig rutsche ich über die Erhebung hinter mir, gleite auf dem schlammigen Boden bis zur Senke. Das Wasser wird von meinen Spuren nichts übrig lassen.

Ted Barns
»Tecumseh kommt zurück, Ted«, murmelt Mitch.
»Du musst nicht flüstern. Bei diesem Regen hört dich in zehn Fuß Entfernung niemand mehr.«
»Wir hören aber ebenfalls nichts.«
Ich will ihm einen Blick zuwerfen, aber er ist schon wieder vor der Zeltplane. Tec kommt gebückt herein und setzt sich auf den Rest eines alten Baumstamms. Er fährt sich mit beiden Händen übers Gesicht und die schwarzen Haare. Wasser tropft von ihm herab. Seine Uniform ist völlig verschlammt.
»Was entdeckt?«, frage ich ihn. Er nickt. Die Hände immer noch auf dem Kopf, starrt er auf die Stiefel, die in der nassen Erde eingesunken sind.
»Mit hoher Wahrscheinlichkeit ein unterirdisches Lazarett. Gooks gehen ein und aus, bringen Verletzte rein, auch auf Bahren, die sie an Seilen senkrecht in die Erde ablassen. Dann wieder Kisten, Taschen und so Zeug. Ich nehme an, Proviant, Medizin, Verbandmaterial. Waffen habe ich keine gesehen.« Er legt die Hände auf die Knie und sieht mich an. »Ich könnte das Ding auseinandernehmen. Ein Lazarett weniger. Und Charlie hat einen Grund mehr, uns zu fürchten.«
Ich hebe die Feldlampe von der Karte und leuchte über Tec an die tropfende Zeltbahn. »Das ist nicht unsere Aufgabe, Tecumseh. Unser Auftrag lautet ‚Aufklärung und Erkundung des Bangfai-Flusses‘. Je weniger Lärm, desto besser.« Tec sieht mich weiterhin an. Seine Augen sind die besten in unserem Zug. Er hat die Sehschärfe eines Adlers. »Ruh dich aus. Zwei Stunden vor Sonnenaufgang brechen wir auf.«
Er nickt.

Tecumseh Longwater
Mitch weckt mich. Lester und Henry sind schon auf den Beinen. Es regnet Bindfäden. Ein dichter Vorhang aus Wasser. Nichts hält ihn auf. Nichts hält ihm stand. Ein neu entstandener Bach fließt mitten durch unseren Unterstand.
»Die Kekse sind feucht und das Kaffeepulver mit Regenwasser angesetzt«, entschuldigt sich Mitch und drückt mir etwas Labbriges in den Mund. Es ist süß, mehr nicht.
»Danke, Mitch.«
Schwerfällig komme ich hoch und trinke den Alubecher leer.
»Beeil dich, Tec. Wir wollen los.«
»Komme schon.«
Zügig falte ich die Zeltplane zusammen, stecke sie in den Rucksack und schultere die Waffe. Colt und Messer sitzen korrekt. Ein kurzer Blick. Nichts darf zurückbleiben. Den Rest erledigt der Regen. Neben dem Felsen stehen Henry und Lester. Mitch hält eine Plane und der Captain kniet darunter. Ich gehe hinüber und nehme Mitch eine Ecke der Plane ab. Der Captain sieht uns der Reihe nach an.
»Bei diesem Wetter werden wir frühestens heute Abend den Bangfai-Fluss erreichen und die Stellen ausfindig machen, die für Brücken geeignet sind oder einen Furtübergang ermöglichen. Wir vermuten, dass sich Charlie einen neuen Weg sucht, über den Ban-Karai-Pass, dann nach Laos eindringt und nach dem Flussübergang Richtung Süden abdreht. Unsere Aufgabe ist es, die vermuteten Stellen zu fotografieren, um sie mit den Luftaufnahmen abgleichen zu können.«
»Captain …«
»Lester?«
»Wo holen sie uns raus?«
Wir blicken uns an. Diese Frage ist verboten. Die Antwort muss ausbleiben. »Tec, du gehst voraus. Dann Mitch mit dem Funkgerät. Ich folge, dann Lester. Henry geht am Ende. Die Richtung ist Ost-Nord-Ost. Abmarsch!«

Ted Barns
Wir sind seit drei Stunden unterwegs. Das Gelände ist abschüssig. Vom Bolaven-Plateau ins Bangfai-Tal. Kein Geräusch, außer den aufschlagenden Tropfen. Ich sollte es nicht tun, denke ich. Tecumseh andauernd die Spitze überlassen. Aber er ist nun mal unsere beste Chance in diesem Dauerregen, diesem ewigen Dschungel. Nicht nur, um den besten Weg zu finden, auch sein inneres Frühwarnsystem ist eine scharfe Waffe, auf die wir uns verlassen können. Unter dieses fast lückenlose Blätterdach dringt so wenig Tageslicht, dass man kaum unterscheiden kann zwischen Männern und Bäumen oder Ästen und Schlangen. Tecumseh kann es. Der Monsun begann vor knapp vier Tagen. Den Jungs ist anzumerken, dass nicht Charlie an ihren Nerven zerrt, sondern das aus Eimern fallende Wasser. Alle unsere Sinne sind trainiert auf Charlie, Stimmen, Kampfgeräusche. Doch wir müssen uns das verdammte Wasser anhören, das alle anderen möglichen Gefahren schluckt. Tecumseh jedoch macht es offenbar nichts aus.

Mitch bleibt stehen, geht in die Knie, reißt mich aus den Gedanken. Ich tue es ihm sofort nach und hebe die Faust. Lester und Henry treten einen Schritt aus der Reihe, gehen in die Hocke und sichern nach hinten. Mitch gibt uns Zeichen, dass Tec etwas entdeckt hat. Waffen im Anschlag. Warten. Der Boden unter meinen Schuhen gibt nach, rutscht weg. Leise ziehe ich das Messer und stecke es neben meinem Schuh tief in den Schlamm. Das Abrutschen stockt. Nach einigen Minuten taucht Tec auf. Er nickt uns zu, gibt Klarzeichen. Es geht weiter. Messer abwischen und einstecken. Nichts zurücklassen. Tecumseh übernimmt wieder die Führung und verschwindet im Regen.

Tecumseh Longwater
Eine Stunde vor Sonnenuntergang erreichen wir den Bangfai-Fluss. Der Monsun hat ihn mächtig anschwellen lassen. Das Wasser rauscht mit einer solchen Lautstärke, dass ich unwillkürlich an ein startendes Flugzeug denke. Neben einem Agarbaum entdecken wir eine von Wurzelwerk gebildete Erdhöhle. Nicht tiefer als zwanzig Fuß in den Hang hinein und zehn Fuß über dem Flussufer. Der Captain winkt uns zusammen.
»Tecumseh sieht sich im Süden um. Mitch im Norden. Maximal eine halbe Meile. Bleibt in Deckung. Lasst euch nicht von der anderen Seite aus sehen. Jeder nimmt eine Karte mit. Lester und Henry richten die kleine Höhle ein, dann nach Westen absichern.«
Ich ziehe los. Gesicht und Hals mit Schlamm eingerieben, nur mit Messer und Colt bewaffnet. Gegen die Vorschriften. Aber der Captain weiß, dass es genügt und drückt ein Auge zu. Der Fluss ist keine 200 Fuß entfernt, der Bewuchs am Ufer besonders dicht. Überall liegen große, teils mannshohe Granitblöcke herum, von Feigenbaumwurzeln umklammert. Ich bewege mich in einem Halbdunkel aus Wasservorhang und schwindendem Tageslicht unter dunkelgrünen Blattdächern. Noch nicht einmal Insekten fliegen. Alles, was klein ist und nicht auf die Bäume kommt, wird ertrinken.

Rutschen, ausrutschen, zwischen dem Granit klettern, Feigenwurzeln ausweichen, das ist der Weg entlang des Bangfai. Wird das Rauschen der Fluten leiser, korrigiere ich die Richtung. Eine halbe Meile, sagte der Captain. Hier ist niemand. Nichts und niemand. Das Lazarett fällt mir ein. Wie schaffen es die Gooks nur, ihre unterirdischen Tunnel wasserfrei zu halten? Ein peitschendes Geräusch vor mir, halb rechts. Wie ein langer, dünner Ast, der gegen einen alten Stamm schlägt. Ich ducke mich hinter einen Fels. Neben meinem Schuh entdecke ich eine Riesenkrabbenspinne, kleine Sturzbäche treiben sie unter dem Stein hervor. Ich zertrete sie. Besser so, denke ich. Als ich den Kopf hebe, sehe ich den Leoparden. Der Regen verhindert, dass er meinen Geruch wahrnehmen kann. Ohne seine Sinne ist er hilflos. Er verschwindet im Dschungel und ich warte noch eine Minute. Dann setze ich meinen Weg fort.

Der Fluss macht einen deutlichen Knick. Innerhalb von ein paar Fuß bricht das Rauschen fast ab. Ich gehe die wenigen Schritte zurück, dann nach links. Nach etwa dreißig Fuß stoße ich auf eine tief ins Ufer reichende Ausbuchtung. Nur wenig Steine liegen hier, meist flache, abgeschliffene. Das Gelände ist eben wie ein Strand mitten im Dschungel, das Blätterdach geöffnet. Rechts sind deutlich steil aufragende Felsen zu sehen. Der übliche dunkelbraune und sehr glatte Granit. Und auf Augenhöhe ein blaues Leuchten.
Sofort lasse ich mich hinter eine Feigenbaumwurzel fallen und ziehe den Colt. Nichts passiert. Der Regen fällt. Mehr nicht. Das Leuchten hat sich nicht verändert. Weder in seiner Stärke noch seiner Position. Ich warte fünf Minuten. Den Blick auf die Felswand gerichtet, den Schalldämpfer auf das Gewinde geschraubt. Nichts geschieht. Vorsichtig robbe ich zurück und umgehe den offenen Bereich, bis ich an der Felswand angelangt bin. Dann nach links. Es muss ein Spalt im Fels sein, aus dem das Leuchten kommt. Kurz bevor ich an der vermuteten Position bin, sehe ich erstaunt die blauen Wassertropfen. Auf Höhe des austretenden Lichts fallen sie langsamer, werden bläulich, nur einen Augenblick, dann wieder fast transparent und erreichen ihre alte Fallgeschwindigkeit. Ich weiß nicht, was ich da sehe oder ob es real ist. Den Colt vor mich haltend, beuge ich mich auf die Seite. Im Spalt liegt eine Art Amulett. Ein blauer Elefant durch dessen Rücken eine Lederschnur führt. Er leuchtet intensiv. Aus sich heraus. Seine Oberfläche ist durchzogen mit feinsten rostroten und grünen Adern. Unwillkürlich greife ich nach dem Elefanten. Etwas trifft mich in der Brust.

Ted Barns
»Wo bleibt Tec?«
»Keine Ahnung, Cap«, murmelt Lester.
Ich atme tief durch. Die Feuchtigkeit in der Luft ist so hoch, dass sich meine Lunge anfühlt wie ein mit Wasser gefüllter Schlauch. »Lester und Mitch. Ihr legt die Claymores an die Zugangspunkte zum Lager. Wie viele Strippen haben wir noch?«
»Ausreichend«, erwidert Mitch.
»Lasst nach Süden offen.«
Henry öffnet den Spalt in der Plane. »Tec kommt zurück. Etwas an ihm leuchtet blau.«
Wir sehen uns an.
Keine Minute später steht er zwischen uns. Abwesend. Wie hypnotisiert. Mitch versetzt ihm eine Ohrfeige. Um seinen Hals hängt eine Art Amulett. Ein blauer Elefant, der aus sich heraus leuchtet, ohne dass einer von uns genau definieren könnte, wo in diesem kleinen Ding nun die Lichtquelle ist.
»Das ist ein Lapislazuli«, erklärt Henry. »Meine Tante hat einen Schmuckladen. Ein Haufen bunter Steine. Auch so blaue Dinger. Sie sagte: ‚Diese blauen Steine hier sind Lapislazuli‘. Genauso sieht er aus.«
»Und haben die Steine deiner Tante auch so geleuchtet?«, will Lester wissen.
»Nee«, schüttelt Henry den Kopf. »Aber es gibt ja Steine, die leuchten. Die sind dann phosphoreszierend. So nennt man das. Legt man tagsüber in die Sonne, nachts leuchten sie.«
»Es gibt aber keine Sonne. Schon eine ganze Woche nicht«, wirft Mitch ein.
»Scheiß drauf«, unterbricht Lester. »Tec hat was von einer alten Kultur gefunden. Wenn er wieder zuhause ist, kann er es verkaufen. Ist sicher viel wert.«
Wir sehen uns an. Tec sagt nichts, steht nur da und stiert auf etwas, das wir offenbar nicht sehen.
»Und warum redet er nicht mit uns?«, hakt Mitch nach.
»Keine Ahnung«, unterbreche ich die Diskussion. »Legt ihn auf seine Plane. Mitch, setz die Claymores südlich und übernimm die erste Wache. Dann Henry, Lester, ich. Tec lassen wir schlafen. Wir müssen uns ausruhen. Morgen früh suchen wir den Fluss ab. Eine Stunde vor Sonnenaufgang geht es los.«
»Ist gut, Captain«, bestätigt Mitch und geht aus der Höhle.
»Lester?«
»Ja, Cap?«
»Wickel dieses Amulett in ein Stück Stoff und versteck es unter Tecs Jacke. Wir wollen kein Licht.«
»Ist gut, Cap.«

Tecumseh Longwater
Der Captain weckt mich. »Tec? Alles okay?«
»Klar, Captain. Warum nicht?«
Er mustert mich einen Augenblick. »Gestern warst du irgendwie weggetreten, als du von deinem Ausflug zurückkamst.«
»Weggetreten?«
Er nickt mit dem Kopf und legt seine Hand auf meine Stirn. »Wie im Fieber.«
»Vielleicht der Dauerregen. Der macht jeden mürbe.«
»Ja, vielleicht …«
Mit dem Zeigefinger tippt er auf die Beule unter meiner Jacke. »Wo hast du das her?«, will er wissen.
Ich hole das Amulett hervor. Es leuchtet ebenso intensiv wie am Tag zuvor. »Nach etwa einer halben Meile ändert der Fluss seine Richtung. Siebzig oder achtzig Grad nach Osten, schätze ich. Dort gibt es die üblichen Ausbuchtungen. In einer Felsnische am Steilufer lag dieses Amulett.«
»Moment.« Aus seiner Brusttasche holt er die Karte und zeigt sie mir. »Wo ist die Stelle?«
Sie ist nicht schwer zu finden. Laut Karte wird der Bangfai nach dem Knick breiter und verläuft nicht ganz so geradlinig. »Etwa hier, Captain.« Ich zeige ihm den Punkt.
»Hm, breiter bedeutet weniger Fließgeschwindigkeit. Das Wasser spült an diesem Knick den Grund weg. Dort ist es tiefer. Das Sediment ist schwer. Er wird es vor der nächsten Biegung wieder ablagern.« Er sieht durch mich hindurch. »Gibt es dort mehr Felsen als hier?«
»Ja, mehr lose Felsen. Flacher, abgeschliffen«, erkläre ich ihm.
»Okay. Dort suchen wir nach Möglichkeiten zum Überqueren. Mach dich fertig. Abmarsch in fünfzehn Minuten.«

Ted Barns
»Was ist, Mitch?«
»Im Stolperdraht hat sich eine Ente oder so was verfangen, Captain.«
»Gottverdammt! Sind ansonsten alle Claymores abgebaut?«
»Alles verstaut, Cap«, bestätigt Lester.
»Okay. Wo ist das Vieh?«
Mitch führt uns an eine Stelle zwischen Granitblöcken, die jeder halbwegs Normale bei dem Wetter nähme, ginge er am Fluss entlang. Nur wenige Inch von der Mine entfernt hängt der Vogel im Draht. Seine Flügelwurzel ist auf eine nicht erkennbare Weise darum gewickelt.
»Ist das eine Ente?«, fragt Lester.
»Keine Ahnung«, erwidere ich. Ente oder nicht. »Viel mehr würde mich interessieren, wieso das Ding nicht ausgelöst hat?«
»Zu wenig Zugkraft, zu nah am Gehäuse«, wirft Mitch ein.
»Tec«, sage ich knapp. Tecumseh geht zu dem Vogel, der sich kaum noch bewegt und dreht ihm den Kopf ab. Mit einer schnellen Bewegung reißt er den Flügel heraus, ohne dass der Draht auch nur einen Millimeter seine Position verändert.
»Cheyenne«, meint Henry.
»Mitch, bau die Mine ab. Vergrab die Ente. Nichts zurücklassen.«
Nach wenigen Minuten sind wir bereit zum Aufbruch.
»Kann es sein, dass der Regen zugenommen hat?«, will Lester wissen.
Niemand antwortet ihm.
»Tec, du führst. Mitch, dann ich, Lester und Henry hinter uns. Vorwärts.«

Langsam nähern wir uns der von Tec beschriebenen Stelle. Erst zwanzig Schritte vor der Ausbuchtung erkenne ich Details durch die vom Himmel stürzenden Wassermassen. Lester hat recht. Der Regen ist stärker geworden, dichter und deutlich kühler. Wir sammeln uns zwischen den Wurzeln eines Feigenbaumes. Tec deutet über die kleine Lichtung.
»Dort drüben ist die Felswand. Fast neunzig Grad steil, dreißig Fuß hoch, schätze ich, an manchen Stellen sicher vierzig. In einer Nische habe ich den blauen Elefanten gefunden.«
Niemand sagt etwas. Das Scheißwetter nimmt uns alle Worte. Ich tippe Tec auf die Schulter, nicke ihm zu und wir marschieren weiter. Das Gelände wird deutlich flacher. Der Fluss hat diesen Teil schon einmal vor langer Zeit bearbeitet. Der Abstand zwischen den Feigen wächst, das Blätterdach lichtet sich. Nach etwa sechshundert Fuß sehen wir vor uns eine Art Plateau. Baumlos, kaum kleinere Pflanzen darauf, ein wenig Moos. Es besteht aus Abschnitten gewölbten Granits mit breiten Furchen dazwischen. In Jahrtausenden vom Bangfai flach geschmirgelt, der breit und träge daran vorbeifließt. Erdbraune Wassermassen, die sich leicht wellig bewegen. Ich hebe die Hand und gebe Zeichen zum Sammeln. Wir knien zusammen unter einer Plane.
»Der Fluss hat deutliche Wellen, aber sie brechen nicht. Also flache Steine unter der Oberfläche. Bei den Wassermassen schätze ich sechs oder sieben Fuß Tiefe. In der Trockenzeit passierbar. Hohe Berge links und rechts. Als Pilot hat man nicht viel Zeit für den Zielanflug. Ich würde an dieser Stelle den Fluss überqueren, wäre ich Charlie.« Die Männer sehen mich an.
»Checken wir die Gegend«, schlägt Mitch vor.
Ich nicke.

Tecumseh Longwater
Mitch und ich bilden ein Team, Lester und Henry das zweite. Der Captain hat uns zur westlichen Seite des Plateaus geschickt, aber die Sichtweite hat sich im dichter werdenden Regen so weit vermindert, dass sich eine Erkundung kaum lohnt.
»Gehen wir wieder zurück«, fordert mich Mitch auf. Dann bleibt er wie angewurzelt stehen, die Waffe im Anschlag. Gleichzeitig gehen wir in die Hocke. Über seine Schulter hinweg bedeutet er mir, in die Richtung seines Waffenlaufs zu sehen. Ich krieche an seine Seite. Keine zwölf Fuß vor uns, zwischen zwei enormen Brettwurzeln eines Agarbaumes, steht ein Rollstuhl. Fast zur Hälfte im Schlamm versunken. Wir sehen uns an, schweigen, nicken. Ich gehe gebückt auf diesen absonderlichen Fund zu, Mitch sichert die Umgebung. Eine Sprengfalle, ist mein erster Gedanke. Aber ich verwerfe ihn sogleich, denn die Wahrscheinlichkeit, dass überhaupt irgendjemand an dieser Sprengfalle vorbeikäme, ist verschwindend gering. Völlig sinnlos, hier eine Falle zu installieren. Trotzdem suche ich den Rollstuhl nach Besonderheiten ab, als ich ihn erreiche. Nichts. Bis auf die Tatsache, dass es ein sehr betagtes Exemplar ist, fällt mir nichts auf. Ich gebe Mitch ein Okay.

»Das ist das Unglaublichste, was ich jemals in meinem Leben gesehen habe«, sagt er verwundert. »Ein Rollstuhl mitten im Niemandsland.«
Ich gehe näher heran. Auf der vorderen Querstange ist etwas eingraviert. »Da steht was drauf«, sage ich.
»Kannst du es lesen?«
»Fabriqué en France. Ein alter, französischer Rollstuhl.«
Mitch stößt einen Pfiff aus. »Okay, dann ist das Rätsel gelöst. Die Froschfresser sind geflüchtet und haben Opa hier gelassen.«
Ich weiß nicht viel über die Franzosen. »Waren die Franzosen auch in Laos?«, frage ich Mitch. Er kommt aus der Hocke hoch und umrundet den Rollstuhl.
»Laos, Kambodscha, Vietnam. Damals hieß es noch Indochina.«
»Ich dachte, sie waren nur in Vietnam.«
»Nee, nee, nachdem die Japse wieder weg waren, kamen sie zurück. Dann aber nur nach Vietnam. Bis sie bei Dien Bien Phu ordentlich auf den Sack bekamen und uns den Saustall überließen«, fuhr er fort.
»Und?« Ich schau ihn an. »Kriegen wir den Saustall sauber?«
Er legt den Kopf auf die Seite und dreht sich zum Dschungel. »Ehrlich gesagt …«
Mitch verschwindet. Taucht ab ins Erdreich. So schnell, dass ich nicht einmal reagieren kann. Mit Mühe unterdrücke ich einen Schrei, lege mich auf den Boden und krieche zu dem drei Fuß durchmessenden schwarzen Loch, das sich wie von Zauberhand unter ihm auftat. Hastig nehme ich die Feldlampe aus der Beintasche, leuchte hinein, rufe seinen Namen so laut wie ich es vertreten kann, ohne irgendwelche Gooks in der Nähe zu alarmieren. Nichts. Das Licht der Lampe wird von der Schwärze geschluckt. Ich renne zurück.

Ted Barns
Wir stehen um das Loch. Tec hat sich bis auf die Unterhose ausgezogen und legt sich einen Mastwurf um beide Knöchel.
»Bist du sicher, dass wir dich in dieses Loch hinablassen sollen?«, fragt Lester.
»Mitch ist da unten irgendwo«, erwidere ich und lege mich auf den Boden. »Ich werde ihn auf keinen Fall zurücklassen.«
»Wir wissen doch gar nicht, wie tief das Ding ist«, wirft Henry ein. »Vielleicht ist das ganze Plateau unterspült oder es ist der Eingang irgendeiner Grotte …«
»Wir werden es einmal versuchen«, beende ich das Gespräch. »Das sind wir Mitch schuldig. Wir lassen dich bis 75 Fuß ab, wenn dort nichts ist …«
»Ihr müsst mich kopfüber in das Loch lassen, damit ich gleich meine Hände zur Verfügung habe. Falls es zu eng ist, um mich zu bewegen«, erklärt Tec.
»Okay, das macht Sinn«, gebe ich ihm recht. »Lester, Henry, legt das Seil einmal um diese Wurzel. Die ist stark genug für zwei Leute.«
Tec verschwindet mit dem Oberkörper im Loch. Wir sind bereit und ziehen am Seil. Er rutscht hinein und reißt eine Menge Erde mit sich hinunter. Ich knie vor dem Loch, kann ihn aber schon nicht mehr sehen. Lester und Henry geben abwechselnd Seil. Fuß um Fuß. Fünfundsiebzig. Mehr werde ich nicht zulassen. ‚Nichts!‘, kommt von unten. Nach weiteren zehn Fuß wieder ein ‚Nichts!‘ Bald ist die Grenze erreicht. Es ist still. Kein Laut dringt an die Oberfläche. Ich fühle mich von der Schwärze angezogen, als wäre ich ein Stück Eisen und dort in der Tiefe ein Magnet.
»Was sollen wir tun, Cap?«, fragt Lester. Er holt mich aus meinen Gedanken. Ich muss mich entscheiden. Das Seil hat Spannung, zittert ein wenig. Tec bewegt sich. Ruft sicher nach Mitch. Dort unten ist alles, nur kein Boden. Ich springe zu den beiden und packe ein freies Stück Seil.
»Hochziehen!«

Wir sind zurück im Unterstand, am Rand des Dschungels, mit Blick auf das Granitplateau. Zwei Planen zwischen Bäumen aufgehängt. Tecumseh ist wieder in dieselbe Starre gefallen wie gestern und liegt neben mir auf dem Boden.
»Captain …«, Lester setzt sich neben mich, »das ist doch nicht normal. Gestern dieses blaue Dings, Tec ist abwesend bis heute Morgen. Nun fällt Mitch in ein Loch, das nicht enden will, neben einem Rollstuhl aus den zwanziger Jahren …«, er schweigt plötzlich und starrt in den Vorhang aus Regentropfen. »… und dann noch dieser endlose Regen.«
Ich spüre seine Hand auf meinem Arm. Vorsichtig lege ich das Funkgerät auf die Seite. Ich werde es Henry geben. Er hat ebenfalls eine Funkerausbildung.
»Cap, wir müssen hier weg!« Lester betont jedes Wort. »Überleg mal, was Tec gesagt hat. ‚Dort unten wird es immer dunkler‘. Wie soll das gehen? Es IST doch schon dunkel in so nem Loch. Wie kann es da noch dunkler werden? Und keine Spur von Mitch. Noch nicht mal Spuren vom Sturz an den Lochrändern. Denk doch mal nach! Er ist mit Waffe, Stiefeln und Rucksack da runter!« Warum ist Regen nur so laut? Ich könnte jetzt mein Herz klopfen hören. Lester hat recht. Ich schließe die Augen. Aber … »Und noch eins, Cap … du hast es auch gesehen, als er wieder aus dem Loch kam. Oder?«
»Was hab ich gesehen?«
Lester fixiert mich mit eindringlichem Blick. »Die Wunde auf Tecs Brust! Das große, vernarbte Loch. Nie und nimmer hatte er dieses Loch vor unserem Einsatz. Wir sind seit drei Jahren ein Team! Dieses Loch hat er erst seit gestern. Und es ist auf Herzhöhe. Das überlebt man nicht!«
»Gottverdammt«, sage ich und schaue auf den erstarrten Tec. Was ist nur mit ihm los? Und was werde ich meinen Vorgesetzten erzählen? Auftrag nicht ausgeführt wegen seltsamer Vorfälle? »Lester«, ich schau ihn an, »wir sind dafür ausgebildet. Für diesen Mist hier. Jeder von uns kann von Würmern leben und lautlos Menschen killen. Und wir haben einen Auftrag. Wir ziehen das durch. Okay?«
Lester schweigt. Ich sehe ihm an, dass er nicht einverstanden ist.
»Sind alle Claymores platziert?«, lenke ich ihn ab.
»Klar, sicher. Da kommt nicht mal eine Maus durch …« Er stutzt und grinst. »Höchstens eine Ente.« Er steht auf und geht zu Henry, der seine Waffe reinigt. Es ist der Regen, denke ich. Seit Tagen nur grauer Himmel, tiefhängende Wolken, kaum Licht unter dunkelgrünen, fast schwarzen Blattwüsten. Nichts als Schlamm, kein trockener Platz weit und breit. Es kann nur der Regen sein.

Tecumseh Longwater
Da ist es wieder. Ein metallisches Geräusch, aber nicht im Unterstand. Einen Atemzug später ein zweites Mal. Neben mir kann ich den Captain riechen. Sein spezieller Duft. Ein drittes Mal, dem Klopfen einer Patronenhülse auf Stein ähnlich. Oder ein Verschluss? Aber wie kann ich überhaupt etwas hören? Der Regen tötet doch alle anderen Geräusche. Vorsichtig stehe ich auf, nehme das Messer aus der Scheide und gehe hinter dem ersten Baum vor dem Plateau in Deckung. Neben meinen Füßen schnarcht Lester. Also hat Henry Wache. Er ist vielleicht in Gefahr. Warum haben die Claymores nicht gezündet? Gebückt mache ich mich an der Dschungelgrenze auf den Weg zum Fluss, drehe mich zum Plateau und starre in die Dunkelheit. Erneut ein Klopfen, lauter. Halblinks vor mir. Vielleicht fünfzehn Fuß. Möglicherweise ein Späher der Nordvietnamesen mit derselben Aufgabe wie wir sie haben. Sein Umriss taucht auf. Zwischen zwei größeren Steinen. Noch wenige Schritte. Wieso sollte ein Späher Lärm machen? Aber diese Frage löst sich einfach auf. Ich greife seinen Kopf, drehe ihn zur Seite und ramme ihm das Messer in die Kehle. Kein Gurgeln. Nichts. Dann schleppe ich ihn zum Fluss und werfe den toten Körper hinein, tauche das Messer ins Wasser. Wenn es einen Gook gibt, dann möglicherweise mehrere. Sie können ja nur übers Wasser gekommen sein, sonst hätten die Minen gezündet. Ich ducke mich und lausche Richtung Plateau.

Ein oder zwei Minuten später schält sich ein weiterer Umriss aus dem Dunkel. Für ihn bin ich ein Stein, denke ich. Als eine Armlänge genügt, schnelle ich hoch und stoße die Klinge in seinen Hals. Ein kurzes Pfeifen. Er atmet durch die offene Kehle aus. Ich ziehe uns auf den Boden. Seine Hand greift nach meiner Hose, dann höre ich nur noch den Regen. Es bleibt ruhig. Zwei Späher. Mehr nicht. Langsam bewege ich mich wieder auf den Unterstand zu. Der Captain schläft. Lester ist verschwunden, aber es ist mir egal. Ich denke an das blaue Leuchten, greife nach dem Amulett und wickle es aus dem Stoff. Das blaue Licht beruhigt mich und das Prasseln der Regentropfen trägt mich hinüber in einen traumlosen Schlaf.

Ted Barns
Tec schläft noch. Das Amulett in seiner Hand. Von Lester und Henry keine Spur. Die Waffe im Anschlag krieche ich zur Dschungelseite aus dem Unterstand bis zum Fluss. Dann weiter auf das offene Plateau. Zwischen den gewölbten Steinen, parallel zum Bangfai. Bei jedem Schritt quillt Wasser aus dem Sand. Nach kurzer Zeit entdecke ich eine Lache aus Blut und hinter einem kleinen Block liegt Lester mit durchstoßener Kehle. Gottverdammt! Er hat seine HK neben sich liegen. Welcher halbwegs gescheite Gook würde eine gute Waffe hier liegen lassen? Ich reiße seine Hundemarke ab und lehne mich an den Stein. Nur noch Tecumseh und ich. Zwecklos, das hier nun fortzusetzen. Keine der Minen hat gezündet. Kamen sie durch den Fluss? Nein, kein noch so trainierter Schwimmer käme lebend über diesen Strom. Ich würde gerne ein Feuer machen, denke ich, mich wärmen, die Klamotten trocknen. Duschen. Ein dickes Steak essen …

Mir ist egal, ob ich entdeckt werde und stehe auf. Wie weit kann man hier auch schon sehen. Die üblichen zwanzig Fuß bei diesem Regen. Langsam gehe ich zurück zum Unterstand. Tec sitzt auf einem Stück Treibholz und stopft wässrige Kekse in sich hinein. Er sieht mich und nickt.
»Captain. Wo sind Lester und Henry?« Da sind dunkle Flecken auf seiner Hose. An seinem Ellenbogen. Verkrustetes Blut am Unterarm. Ich richte die Waffe auf ihn und entsichere.
»Tec, mach deinen Oberkörper frei.«
Er legt die Kekse auf die Seite und schaut verdutzt. »Captain? Was ist denn los?«
Mein Finger wandert zum Abzug.
»Okay, okay …«
Er zieht die Jacke aus, das olivgrüne Shirt, das Unterhemd. Langsam. Die Augen auf mich gerichtet. »Und jetzt, Captain?«
Ich deute mit der Waffe auf das vernarbte Loch in seiner Brust. »Woher hast du diese Narbe?»
Tec sieht an sich runter, streicht mit den Händen über das verwucherte Gewebe und schaut mich fragend an.
»Keine Ahnung, Captain … wirklich … das müssen Sie mir glauben!«
»Mit so einer Wunde ist man tot, Tec. Stimmst du mir zu?« Er nickt. Zum ersten Mal in all unserer gemeinsamen Zeit sehe ich Angst in Tecs Augen. »Tut mir leid, Tec.«
Er versteht es nicht. Ich drücke ab. Die Kugel durchschlägt ihn knapp neben dieser Wunde. Tecumseh ist auf der Stelle tot. Vorsichtig nehme ich Hundemarke und Amulett ab, stecke beides ein. Etwas Hartes trifft mich in der Brust.

Ich habe keinen von beiden begraben. Es ist Morgen und der Regen hat fast alles Blut fortgespült. Den Rest erledigen die Tiere. Wohin Henry verschwunden ist, weiß ich nicht. Der Dschungel hat ihn geholt – oder der Regen. Das Funkgerät schmeiße ich ins schlammige Wasser des Bangfai, ebenso die Waffen der anderen. Nur die beiden Hundemarken nehme ich mit. Sie sollen meine Zeugen sein für den Tod. Was soll ich jetzt tun? Mein Herz klopft heftig, als ich eine Dose Bohnen öffne. Das Amulett fällt mir ein. Ich ziehe es aus der Hosentasche und betrachte fasziniert das blaue Leuchten. Dieses Blau ist nicht der Himmel. Vielleicht wird dieser Himmel nie mehr blau. Er wird grau bleiben und wir haben nur nicht gemerkt, wann das passierte, wann wir alle gestorben sind. Was also soll ich jetzt tun? Das Prasseln des Regens auf die Granitplatten des Plateaus hört sich ein bisschen an wie Gewehrfeuer. Ich weiß, was ich noch tun muss. Ich werde zurückgehen, und dieses verdammte Gook-Lazarett ausräuchern.

Diese Geschichte

Entstanden im Jahr 2021 und eine von vier Kurzgeschichten zum Thema Vietnam-Krieg. Warum Vietnam-Krieg? Ein angeheirateter Onkel, Soldat in Deutschland in den 50ern, hat meine Tante geheiratet. Sie ist mit ihm in die USA, wo er 1963 als Berater nach Vietnam kam. Spezialeinheit zur Ausbildung der Montagnards, der Völker in den Grenzgebieten zu Laos und Kambodscha. 1977 habe ich ihn besucht in den Sommerferien. Fünf Wochen Geschichten aus Vietnam anhören beim abendlichen Barbeque. Daraus entstanden vier Kurzgeschichten, die sich den vier Hauptfarben des Landes nähern, von denen er deutliche Erinnerungen hatte. Die erste ist das Blau. Der Inhalt bezieht sich auf eine von ihm geschilderte Unternehmung, bekommt aber durch das Einbinden des Lapislazuli und dem blauen Leuchten einen magischen Realismus. Eine Interpretation des langsamen Verrücktwerdens. Namen sind verfremdet und keiner toten oder lebenden Person ähnlich.

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