KURZGESCHICHTE | »Was kostet die Lampe?«
Walter, der Barmann, studiert sorgfältig die Bestellung. Er schafft es nicht, die Schrift seiner Kellnerin zu entziffern. Nach einigem Gemurmel wirft er ihn achtlos weg und sieht auf. Zu dem Kerl neben mir. Ihn habe ich hier im Grünen Krokodil noch nie gesehen, geschweige denn in den anderen Kneipen, in denen ich verkehre.
»Was kostet die Lampe!?«, fragt der Kerl erneut. Ich mustere ihn von der Seite. Schwarze Kunstlederjacke. Drunter ein hellblaues Hemd von Woolworth mit gestärktem Kragen, eine glatte, wunderschön blaue Jeans. Schlimm sind die Schuhe. Cowboystiefelimitate, dünnes, schwarzes Leder, vorne spitz. Furchtbar.
»Welche Lampe denn?«, will Walter wissen.
»Na, die hier über der Theke.«
Walter blickt nach oben, ich sehe nach oben. Der Kerl zeigt mit einem Wurstfinger auf die schmucklose Hängelampe, die diesen Teil der Theke beleuchtet. Sie ist länglich mit einem grün getönten, halbrunden Glasschirm über zwei bräunlichen Birnen. Walter kratzt sich die angegrauten Koteletten. »Keine Ahnung.« Er dreht sich zu Peter, dem Besitzer des Grünen Krokodils, der gerade – aufs Spülbecken gestützt – in den tiefen Ausschnitt einer nicht sehr hübschen, aber dafür umso großbrüstigeren Frau stiert.
»He! Peter! Was kostet die Lampe?!«
Peter schaut verwundert her. »Welche Lampe?«
Walter nimmt die rechte, flach ausgestreckte Hand – wobei er sie mehrmals ruckartig hin und her bewegt – und deutet auf die Lampe über der Theke. »Na, die hier! Die hier oben! Welche denn sonst?!«
»Äh, 250 Mark oder so …«
Der Kerl links von mir zählt 250 Mark aus seiner Brieftasche und legt sie auf die Theke. Dann greift er seine Bierflasche, trinkt aus und schlägt die hässliche, grüne Lampe entzwei. Die Scherben fliegen wild durch die Gegend. Ich hebe instinktiv den Arm vors Gesicht. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Walter in Deckung geht. Peter kommt wie ein geölter Blitz hinter der Theke hervorgeschossen.
»Arschloch!«, schreit er den Kerl an. »Arschloch!« Er reißt den Lampenzerstörer vom Barhocker. »Arschloch!« Peter hat Kraft. Der Kerl liegt auf dem Boden und Peter zieht ihn am Kragen seiner Kunstlederjacke raus auf die Straße. Ich stehe auf und schüttle mein knallrotes Leinensakko aus. Es ist voller Bierflecken. Dabei habe ich es erst seit zwei Wochen. In meinem Milchkaffee liegt eine große, grüne Scherbe. Walter kommt hinter seiner Deckung vor. Ich stelle ihm die Tasse vor die Nase. »Mach mir bitte einen neuen. Der ist voller Scherben.« Hinter mir geht fluchend Peter vorbei.
»So was hab ich ja noch nicht erlebt! Das blöde Arschloch! Das muss man sich mal vorstellen …«
Flora kommt mit einem Tablett leerer Gläser zur Theke. Sie ist Peters Dauerbedienung, neben den vielen Studentinnen, die ab und zu hier aushelfen. »Reg dich nicht auf, Peter«, sagt sie gelangweilt. »Die hässliche Lampe ist weg. Du hast 250 Mark. Was willste mehr?« Sie stellt Walter das Tablett vor die Nase und er starrt sie mit zusammengekniffenen Augen an.
»Schreib du lieber mal richtige Zettel!«, blafft er, »Wer soll denn das lesen? Ich schmeiß sie alle weg, die Zettel! Du kriegst die Bestellung erst, wenn du richtig schreiben kannst!«
»Scheiß dir in die Hose! Du kannst es nur nicht lesen, weil deine Pupillen vom vielen Koksen so klein sind.«
Peter stemmt die Fäuste in die Hüften und stößt Luft aus. »Hopp, Walter, Flora, macht die Scherben weg! In einer Stunde geht’s los. Dann muss es hier ordentlich sein. Und du, Flora, gib dir mal Mühe beim Schreiben. Ich kann‘s auch nicht lesen. Ich geh jetzt mal aufs Klo, über mich nachdenken.« Walter bruddelt, murmelt Unverständliches, nimmt meinen Milchkaffee und Flora schreibt ihre Bestellungen in Druckbuchstaben auf einen neuen Zettel. Als sie mit dem vollen Tablett abzieht, stellt sich Walter mir gegenüber. »Die dämliche Kuh«, zischt er. »Ich hätte sie schon längst rausgeschmissen.«
»Warum?«, frage ich ihn. »Sie ist eine gute Bedienung, hat alles im Griff, egal wie stressig es ist. Gute Bedienungen wachsen ja nicht auf den Bäumen.«
»Ach!« Er winkt ab. Das Thema ist für ihn erledigt. Peter kommt zurück. Glückseligkeit strahlt in seinem Gesicht. Es ist die Frage, wer hier kokst. Ich schaue auf die Uhr. Noch eine Stunde bis zur Lesung.
Langsam füllt sich das Grüne Krokodil. Ich sitze immer noch an der Theke und bin zu Southern Comfort mit Cola und Zitronensaft übergegangen. Wir nennen das Dröhnung, obwohl es nicht dröhnt. Es ist gut verträglich und man leidet am nächsten Tag nicht unter Kopfschmerzen. Vor allem aber ist es ein gutes Stimmenöl. Die darf schließlich nicht versagen. Der Alptraum eines jeden vortragenden Dichters. Um acht Uhr soll es beginnen. Aber die akademische Viertelstunde kann man getrost einplanen. Jetzt ist es kurz vor acht. Ich nehme Zettel, Glas und gehe ins Eck zum Tisch, den Peter für mich auserkoren hat. Eine weiße Decke ist ausgebreitet, dazu ein Mikrofon, eine Vase mit zwei verwelkten Rosen und eine Karaffe mit Dröhnung. Wichtig ist, dass die Decke vor dem Tisch bis auf den Boden reicht. So kann ich mir während der Lesung bedenkenlos das Gemächt kneten, wenn mir danach ist.
Ich setze mich und schaue aufs vorhandene Publikum. Welche Kleidung tragen sie, Wein oder Bier, alleine oder zu zweit. Hocken sie still oder unruhig, drehen sich dauernd um, bewegen ständig irgendwelche Gliedmaßen, ignorieren Blickkontakt, wenden den Kopf ab, wenn ich sie anstarre, schauen von unten nach oben. Nach all diesen Kriterien sortiere ich sie in Schubladen. Dementsprechend suche ich die Gedichte raus. Ich selbst bin nicht nervös, dafür habe ich schon zu oft vorgelesen. An den Beginn packe ich zwei, drei gröbere Texte, dann kommt Sanfteres, schicke alle auf die Frühlingswiese und packe am Ende das Fegefeuer aus.
Hinten sind zwei, die ich schon öfter bei Lesungen gesehen habe und abgesehen von ein paar Bekannten, die aus reiner Trinkfreude kommen, kenne ich niemand. Unbekanntes Volk. Das ist immer am Interessantesten. Man weiß nie, ob nicht irgendwelche Spinner dabei sind, die nur darauf warten, pöbelnd auf mich loszugehen, selbst schreiben und dazu noch Germanistik studiert haben.
Kontrollblick auf die Uhr. Zehn nach acht. Ich gebe Peter ein Zeichen, woraufhin er die Musik ausschaltet, sich vor den Tisch stellt und seine Ansprache hält. Ich räuspere mich lautstark und er kommt zum Ende. Meinem Ritual entsprechend, lasse ich sie ein bisschen warten. Dann nehme ich einen tiefen Schluck, stelle das Glas ab und sage:
»Nabend, allerseits! Ich lese heute paar Gedichte und hoffe, dass …«
»Was trinkst du da?«, ruft einer von hinten.
»Southern Comfort mit Cola und Zitronensaft. Gut für die Stimme.«
»Janis Joplin ist dran verreckt«, meint ein anderer.
»Die hat den Zitronensaft vergessen«, erwidere ich. Es fängt schon gut an.
»Mal sehen, ob du so gut bist wie Janis!«, blökt der erste Zwischenrufer.
»Ich sehe schon, ich brauche noch nen Schluck.«
Einige lachen und ich lege los. Die meisten Gedichte habe ich so oft vorgelesen, dass ich manche Textpassage auswendig kenne. Mit dem Blick zum Publikum zitiere ich und beobachte die Reaktionen. Wichtig für mich, denn so passe ich Stimme, Geschwindigkeit und Betonung an. Und natürlich sieht man sofort, ob sie das Gesicht verziehen oder ich noch einen draufsetzen kann. Es ist die Ein-Mann-Unterhaltungsshow. Sie wollen unterhalten werden und ich habe für diesen Abend alle Getränke frei.
Nach zwei Drittel der Zeit ziehe ich die Schraube fester. Bisher sind alle brav sitzen geblieben. Ich kündige die folgenden Texte mit der Bemerkung an, dass nun dunkle Lebensphasen kämen. So kann nachher niemand sagen, ich hätte sie nicht gewarnt. Nach dem ersten Text steht eine Frau auf, bezahlt an der Theke und geht wortlos raus.
»Die kenne ich, die mag nur Blumen und Frühling«, sagt jemand. Lacher im Volk. Ich trinke leer und schenke nach. Es folgen sechs Stück ohne Unterbrechung. Und gleich noch ein weiteres Glas, so langsam geht auch der Inhalt der Karaffe zur Neige. Ich hebe sie hoch und winke Peter.
»Haben die Leute schon genug bestellt? Kann ich mir noch eine leisten?«
Flora huscht vorbei, packt die Karaffe. Ich mache weiter. Nur noch zwei Blätter bis zum Ende. Die intensivsten Gedichte. Ich schmettere sie ihnen förmlich entgegen. Und doch sind es nur Worte. Sie müssen gar nicht verstehen oder verstehen wollen. Aber ganz im Inneren hoffe ich jedes Mal, dass ich ihnen etwas von diesem Moment der Entstehung vermitteln kann. Dass es ihr Leben erleichtert oder schwer macht. Ob es je gelungen ist, bleibt immer ein Geheimnis.
Ich bekomme Getränkenachschub und bringe es zu Ende. Letzte Worte, vielen Dank, bleibt noch ein bisschen, dann trinken wir einen zusammen. Aber die meisten gehen. Im Normalfall bleiben die vereinsamten Herzen sitzen, blicken scheu, warten auf einen Satz von mir, der sie von allen Problemen befreit. Aber ich bin nun mal kein Magier. Mich befreit auch keiner von meinen Problemen, also nehme ich Karaffe und Blätter, wanke zur Theke. Walter bereitet ein paar Baguettes zu. »Gut war‘s«, sagt er knapp.
»Danke.«
Peter kommt und wir stoßen auf den Abend an. »Dreißig Leute«, meint er, »das ist doch gar nicht so schlecht. Beim nächsten Mal nehmen wir Eintritt und ich spendier Freibier. Da ruf ich vorher die Brauerei an und sag denen, wir haben Kultur und sie sollen mal 300 Liter spenden. Das machen die bestimmt. Haben wir jedenfalls was davon.«
Peter ist Geschäftsmann. Wenn auch nur ein mäßiger, so doch einer mit Ideen und Vorstellungen. »Ja, das machen wir. Die Pressetante war natürlich nicht da.«
»Ja, stimmt, aber in der Zeitung stand es gestern.«
Er schnappt sich sein Glas. »Komm«, sagt er und nickt mir zu. »Wir gehen mal hinten eine rauchen.« Ich folge ihm. Vor den Toiletten liegt rechts noch ein Raum, in dem er Stühle, Tische und allerlei Kleinkram aufbewahrt. Auch eine kleine Sitzecke steht drin. Wir fläzen uns auf die Couch und er baut einen ordentlichen Joint, entzündet das Ding, hustet etwas und zieht ein paar Mal tief durch. »Oh, Mann, das ist ein Fehlkauf gewesen«, meint er und reicht die Tüte weiter. Ich tue ein paar Züge, finde es aber gar nicht mal so schlecht. Manche halten Peter für etwas verrückt, spleenig, mit einem sonderbaren Geschmack. Seitdem er in Amsterdam beim Stoffkauf ins Hafenbecken gefallen ist und im Schlick steckenblieb, vermuten einige bei ihm einen Dachschaden. Aber er ist eben einfach nur der Peter.
»Was machen die Frauen?«, fragt er überraschend, eine Wolke Rauch aushustend.
»Ach, die Frauen. Besuchen mich oft, erzählen mir ihre Sorgen und gehen dann wieder. Übrig sind nur die leeren Flaschen und Gläser. Und ich, natürlich.«
Er lacht. »Immerhin bleibt so der Ärger aus.« Er starrt einen Moment auf die Finger seiner rechten Hand. Wie immer ist der Nagel am kleinen Finger recht lang. Damit kratzt er sich das Ohr. Dieses Mal tut er es nicht, sondern fährt wie von der Tarantel gebissen hoch. »Stell dir vor, was Anita letzte Nacht gebracht hat!?« Ich ziehe die Augenbrauen hoch und inhaliere. Er beugte sich verschwörerisch umschauend nach vorne. »Kennst du die Stefanie noch, die mal bei uns bedient hat?«
»Ja, kann mich dunkel erinnern, die mit der Scharte in der Oberlippe.«
»Genau. Meine Frau, durchgeknallt wie sie ist, hat gedacht, ich hätte was mit der.«
»Hattest du?«
»Ja, gut, ein bisschen Techtelmechtel, nix Ernstes, aber Anita mit ihrer Eifersucht ist ja wie rasend. Jedenfalls hat sie heute Nacht gedacht, ich würde bei der Lippe übernachten. Sie fährt also hin, sieht Licht brennen, klingelt wie verrückt, und weil keiner aufmacht, nimmt sie den Pajero und fährt deren Karre zu Schrott! Stell Dir das mal vor!«
Ich gebe ihm die Tüte und er zieht sie fast zum Ende ohne abzusetzen. »Kann mal passieren«, erwidere ich.
»Kann mal passieren … kann mal passieren … völlig durchgedreht ist sie! Hat Anlauf genommen mit dem Jeep, volle Pulle drauf. Dann zurück, wieder Anlauf, volle Pulle drauf. So lange, bis die Polizei kam. Die Lippe hat einen Fiat Panda – oder besser: hatte einen Fiat Panda. Er ist nur noch einen Meter breit!«
Bei dem Gedanken an einen stetig Anlauf nehmenden Jeep und dem schmaler werdenden Panda kommen mir die Tränen. Das Gras tut das Übrige. Ich lache meine Lungen leer und huste wie verrückt.
»Du Depp!«, schreit Peter. »Weißt du, wie mein Pajero aussieht?«
»Und wie sieht der Panda aus?«, halte ich japsend dagegen.
Er lehnt sich zurück und kichert. »Naja, wie soll er wohl aussehen …«
Die Tür geht auf. Walter steht im Türrahmen und starrt uns an. »Was ist denn hier los? Seid Ihr noch ganz sauber? Wenn man den Scheiß nicht verträgt, soll man ihn nicht rauchen.« Ich lache weiter. Geschichten die das Leben schrieb. »Auf, Peter, vorne ist die Hölle los. Du wirst gebraucht.« Er steht auf, wirft den Joint auf den Dielenboden und tritt ihn aus.
Ich mache keine Anstalten, aufzustehen. »Geh du nur, ich lach noch fertig und komme dann nach.« Peter schließt die Tür hinter sich. Wieder mal ist eine Lesung vorbei. Ich lege die Stiefel auf den Tisch und bin unschlüssig, ob ich die Menschen erreicht habe. Ob ich sie je erreichen werde. Ob sie überhaupt erreicht werden wollen. Da habe ich starke Zweifel. Warum hören sich Menschen Gedichte an? Würde ich mir Gedichte anhören? Nein! Ich habe es ein paar Mal versucht, aber das waren alles Wischiwaschi-Schreiberlinge. Ein tiefer Schluck Dröhnung lässt mich diese Gedanken vergessen. Es klopft. Wer klopft denn hier an? Da sucht wohl jemand die Toilette. Langsam geht die Tür auf und ein blonder, kurzhaariger Frauenkopf schiebt sich durch.
»Hallo?«
»Hallo«, erwidere ich und nehme die Füße vom Tisch.
»Darf ich reinkommen?« Immer noch schaut nur der Kopf durch den Spalt.
»Ja, warum nicht?«
Sie öffnet und blickt sich um. Vorsichtig kommt sie herein, macht die Tür mit Bedacht zu, als hätte sie Angst, jemanden aufzuwecken. Dann steht sie vor der Couch und setzt sich neben mich. Ich schätze sie in meinem Alter. Eine sehr seltene Schönheit in meinen Augen. Kein Modeltyp, nichts von der Stange, sondern sehr individuell. An die einsachtzig. Spitze Nase, das Gesicht übersät mit Sommersprossen. Die Augen tiefblau und der Mund schmal, aber voll. Über ihrem rechten Augenlid beginnt alle paar Sekunden ein Zucken und läuft wie ein Wurm die Wange hinab. Vielleicht ein Tic. Da sitzt sie, mit geschlossenen Beinen, beide Hände im Schoß gefaltet. Die langen, sehnigen Finger beeindrucken mich. Andere Leute mögen Hintern, ich mag Hände.
»Ich bin die Paula. Du kennst mich nicht, oder?«
»Nein, leider nicht.«
Sie schmunzelt. »Ich bin die Freundin von Dagmar, die Frau von Thomas.«
»Thomas … ach so, der Thomas. Okay. Was kann ich für dich tun?«
»Die Dagmar hat erzählt, dass du Gedichte schreibst, und da bin ich heute Abend mal gekommen, um sie mir anzuhören.« Sie hätte die Texte vorlesen sollen. Was für eine angenehme Stimme. Ein Fluss aus Milch und Honig, der sich durch eine grüne Auenlandschaft schlängelt. Ich schnappe nach Luft. »Störe ich dich etwa?« Sie beobachtet genau.
»Nein, keineswegs. Ich bin ein bisschen müde, aber das kann auch von dem Getränk hier kommen.« Tatsächlich setzt mir der Southern Comfort langsam zu. Das macht mich leichtsinnig und löst die Zunge. Ich muss aufpassen.
»Trinkst du immer so viel?«, fragt sie.
»Das ist gar nicht viel.«
»Mir würde es reichen.« Sie legt den Kopf nach links und schaut mich an. »Hast du das alles gefühlt, was du da geschrieben hast?«
Ich nicke leicht mit dem Kopf. »Ja, so wie es da steht.« Jetzt geht ihr Kopf nach rechts. Er sitzt auf einem langen, schlanken Hals, der gezeichnet ist von welligen Muskeln und Sehnen. Ich muss mich anlehnen und sinke nach hinten.
»Ist dir nicht gut?«
»Im Gegenteil.« Ich starre auf die Lampe oben an der Decke. Sie ist mindestens genau so hässlich wie die vorne an der Theke, die der Unbekannte glücklicherweise eliminiert hat. Auch wenn mir seine Gründe nicht bekannt sind, hat er doch zur Hebung des guten Geschmacks beigetragen. Was tue ich hier? Da sitzt eine wunderschöne Frau, und ich denke Mist?
»Schreibst du auch?«, rutscht mir raus. Sie wird rot und senkt den Kopf.
»Nee, also … manchmal schreibe ich Gedichte. Aber nicht so wie du. Ich würde gerne reimen. Aber das klappt nicht so gut.«
»Da kann ich nicht viel zu sagen. Schreiben ist Handwerk. Man muss es lernen, wie ein Schwert schmieden. Und bis man ein gutes Schwert schmieden kann, vergehen Jahre.«
Sie sagt nichts. Vermutlich denkt sie jetzt, ich wäre ein Germanistikstudent oder so was. Ich konzentriere mich auf den Duft, den sie verströmt. Sie ist eine schöne Schüchternheit, eine schüchterne Schönheit. Alles an ihr passt zusammen und doch fehlt ein Stück. Bevor ich mit meinen Überlegungen zu einem Ergebnis kommen kann, fliegt die Tür auf und Peter schaut rein. Er sieht uns und grinst breit.
»Hallihallo, bin schon wieder weg. Ich mach das Licht aus. Kissen und Decke liegen oben auf dem Schrank.« Er knipst das Licht aus und die Tür geht wieder zu.
»Idiot«, sage ich.
»Warum?«
Im Schein der Straßenlaternen ist kaum noch was von ihrem Gesicht zu sehen. Dafür ist ihr Profil wie mit dem Skalpell gezogen. Sie schaut durch das Fenster zum gegenüberliegenden Haus. »Er meinte sicherlich, wir zwei hätten was und bräuchten Material, um uns ein Nest zu bauen.« Paula kichert und lehnt sich zurück. Die Couch hat eine recht flache Lehne. Man liegt mehr, als aufrecht zu sitzen. Um sie zu sehen, muss ich den Kopf weit nach links drehen. In diesem Moment wendet sie sich mir zu. Ihr Blick fängt meinen. Ich erkenne, was fehlt. Ein gespanntes Seil ohne Boden, ohne Netz. Grundlose Tiefe. Ich schlucke und will mich gerne fallen lassen. Wie gelähmt, die Zeit biegt in einen Tunnel, angefüllt mit zäher Masse. Ich kann die Augen nicht von ihr lösen.
»Wie lange schreibst du schon?«, steht plötzlich ihre Frage zwischen uns. Mir kommt der Gedanke, dass noch jemand im Zimmer sein könnte, der diese Frage stellt, so fremdartig ist der Klang ihrer Stimme. Aber da ist niemand. Nur sie, ich, und das fahle Licht. In diesem Moment möchte ich weinen, wünsche ihre Finger auf meinem Gesicht, dass ihre Hände meinen Kopf halten. »Willst du nicht darüber reden?« Ich tauchte aus diesem Sog auf. Gerade noch rechtzeitig.
»Doch, doch. Ich war nur gerade in Gedanken woanders. Also schreiben, ja, mit dreizehn habe ich angefangen …«
»Gedichte?«
»Äh, nee, Science-Fiction. Also Romane und so Zeug.«
»Wirklich? Science-Fiction? Das ist doch total kompliziert, oder? Da muss man sich doch immer was ausdenken?«
»Ich meine jetzt nicht klassische SF. Keine Raumschlachten zwischen planetengroßen Raumschiffen. Mehr so gesellschaftliche Probleme in der Zukunft.«
»Meinst du, da wird es viele Probleme geben? Werden wir nicht schlauer?«
»Wir und schlauer? Da habe ich wenig Hoffnung. Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmer mehr.«
»Sind wir nicht immer noch Hänschen?«
Ich schweige eine Zeitlang. Was für eine kluge Antwort.
»Du weißt ja gar nicht, ob wir schon Hans sind«, fährt sie fort. »Genau genommen, ist jede Generation einmal Hänschen und wird zum Hans, bis die neuen Hänschen da sind.« Sie schweigt kurz und ich genieße ihre Stimme. »Weißt du, die Welt deiner Gedichte, ist eine hoffnungslose. Man kann sagen, dass du dir mit deinen Gedichten selbst die Hoffnung genommen hast. Eine Art Sehnsucht nach dem Untergang. In dieser Welt ist kein Platz für Hänschen oder Hans. Das Urteil ist schon gefällt.«
Ich setze mich aufrecht, fahre mit der Hand über die Augen und nehme einen kräftigen Schluck Dröhnung, leere das Glas auf einen Zug. Ich muss weinen und versuche erst gar nicht, es zu vermeiden. Ganz sanft spüre ich ihre Hand auf meinem Rücken. Ich will sie abschütteln, aber kann es nicht, will im Honig ertrinken, an Frühlingsluft ersticken.
»Du bist nicht zufällig so was wie ein Engel?«, frage ich leise, die Karaffe in meiner rechten Hand. Langsam gieße ich das Glas voll.
»Nein, ich bin kein Engel. Beinahe wäre ich mal einer geworden.«
Die Finger auf meinem Rücken strecken und beugen sich, kraulen zur linken Schulter, wandern zur rechten. Wenn ich mich jetzt zurücklehne, ist es um mich geschehen. Was hat sie gesagt? »Wie meinst du das?«
Jetzt ist sie es, die eine kleine Ewigkeit schweigt, ohne dass die Hand mit dem Wandern aufhört. Den Nacken hinauf, sanft wie warmer Sommerregen. »Vielleicht erzähle ich es dir ein anderes Mal.«
»Ja, vielleicht«, erwidere ich tonlos und trinke leer.
»Warum hast du Angst?«
Ich senke den Kopf und drücke mit Daumen und Zeigefinger die Augenlider zu, atme tief durch und bin versucht, mich an sie zu lehnen und allem einen Sinn zu geben, einen trügerischen Sinn. Doch es gibt ihn nicht, den Sinn. Entweder ich erschaffe ihn selbst, oder das war’s. Und ja, ich habe Angst. Jemand, der mich so unvermittelt in den Sturm ziehen kann, ist furchteinflößend. Die Karaffe ist leer.
»Du weißt, was ich jetzt tun werde, Paula?«
»Du hast Angst vor dir, mir, einem möglichen uns, wirst aufstehen und gehen.«
»Ja.«
Ihre Hand löst sich von meinem Rücken. Wie der Schnitt durch die Nabelschnur, der Rücksturz in eine Welt voll gleißenden Lichts, ohne Geborgenheit, aus dem Nest geworfen wie ein schmutziger Haufen Kehricht. Ich stehe auf. Sie schaut hoch und ich sehe feuchte Augen. Sachte lege ich die linke Hand auf ihre Wange, berühre, was mich berührt hat. Dann schnappe ich Karaffe und Glas.
Mit dem Öffnen der Tür ist der Schnitt komplett und ich wieder ein anderer; oder derselbe in der zweiten Haut. Ohne ein Wort zu sagen, stelle ich Walter die Karaffe auf die Theke und deute mit dem Finger an, er solle sie wieder voll machen. Dann nehme ich wieder den Dichterplatz ein am Ecktisch, sitze und starre ein Loch in die Luft. Flora stellt die gefüllte Karaffe hin und schenkt ein. Nach einer Weile kommt Paula aus dem Zimmer. Ihr Blick gleicht einer sterbenden Sonne. Plötzlich weiß ich, was sie mit dem Engel-Satz meinte. Aus der Innentasche des Sakkos ziehe ich den Füller und schreibe für den Rest des Abends ein Gedicht nach dem anderen.
Für Otto, Werner und Petra
Diese Geschichte
Geschrieben im Jahr 2001. Der Abend der Lesung ist im Jahr 1992. Der Dichter ist zu dieser Zeit nicht wirklich gesellschaftsfähig. Einige Personen sind fiktiv, andere leben nicht mehr. Ihnen ist dieser Text gewidmet. Es war mir eine Freude, euch gekannt zu haben.