Es weihnachtet …

Heinrich und Andi, zwei desillusionierte, mehr als mittelalte, in ferner Vergangenheit Steckengebliebene, verbringen ein paar Stunden zusammen in Andis Wohnung. Weihnachten ist um die Ecke. Eine Geschichte aus irgendeiner Wohnung in irgendeiner Straße in irgendeinem Stadtviertel Kölns. Was ist das Leben noch wert, wenn da nichts mehr ist? Ich lade Euch zum Lesen ein. Holt Euch Kaffee oder Tee. Macht eine Kerze an.

Der Baum

Ich klopfe kurz an die schäbige Holztür und trete ein.
»Sag mal, kannst du nicht abwarten, bis ich ‚Herein‘ sage oder so?«
Andi liegt auf der Couch. Auf seiner Brust ein Penthouse. Dem Cover nach eines aus den 70ern.
»Hast du immer noch diese alten Wichsvorlagen von damals?«, frage ich ihn und lasse mich in den Sessel vor dem kleinen, schäbigen Wohnzimmertisch fallen.
»Stapelweise. Diese Mädels von damals hatten einfach Klasse. Nicht so rasiertes Zeug wie heute. Damals gab es noch Buschlandschaft. Alle Größen, alle Formen, alle Farben.«
Wir blicken uns an und schweigen. Jeder wartet auf den nächsten Satz. Andi gibt auf.
»Ich hätte ja auch hier liegen und mir einen runterholen können. Ein wenig Anstand beim Eintreten käme mir gelegen.«

»Du bist doch nach wie vor Linkshänder, oder?«
»Ja, schon«, antwortet er und nimmt seine linke Hand in Augenschein.
»Und die ist seit zwei Wochen im Streckverband. Sehe ich das richtig?«
»Ja … okay, aber ich könnte ja auch mit der rechten Hand …«
»Erzähl mir nix«, unterbreche ich ihn, »sich umgewöhnen, in unserem Alter, da muss man trainieren, ansonsten reißt man sich die Vorhaut ab.«
Andi presst die Lippen aufeinander und schmeißt die 70er-Wichsvorlage hinter sich auf den Boden.
»Aber gute Artikel drin, nach wie vor. Toll geschrieben.«
»Andi, die sind 40 Jahre alt.«
»Na und? Ist wie mit den Rasierten und den Büschen. Früher war eben alles besser. Auch die Artikel.«
Er stemmt sich hoch, die lädierte Hand weit von sich gestreckt.
»Jetzt weiß ich immer noch nicht, wie du hereingekommen bist?«
»Du hast mich ja auch noch nicht gefragt. Hast mal wieder den Schlüssel von außen stecken lassen.«
Andi runzelt die Stirn und zieht die linke Augenbraue hoch.
»Ach! Tatsächlich? Schon wieder?«
Er seufzt und schaut mich mit Dackelblick an.
»Liegt das am Alter, Heinrich? Sind wir schon so alt? Wann geht denn das los mit der Demenz?«
»Ich geh erst mal zwei Kölsch holen.«
Sein Gesichtsausdruck hellt sich auf.
»Bring mir auch zwei mit. Danke.«

Mein Weg in die Küche führt mich am Esszimmer vorbei. Dort auf dem Boden vor dem breiten Fenster liegt ein Tannenbaum. Vollständig geschmückt. LED-Lichter blinken in unterschiedlichen Farben. Kurz wundere ich mich über das, was ich da sehe. Wofür soll der sein? Andi lebt alleine. Ebenso wie ich. Ich werde ihn fragen müssen.
In der Küche muss ich nicht lange nach dem Bier suchen. Andis Kühlschrank ist mannsgroß und bis ins oberste Fach mit Reissdorf-Kölsch gefüllt. Neben diesem Monster steht ein kleiner Eisschrank, normale Küchenhöhe, brummt ob seines Alters sehr laut vor sich hin und in ihm befindet sich alles Essbare; in der Hauptsache Tiefkühlzeug. Ich nehme sechs Flaschen aus dem Großen und gehe zurück ins Wohnzimmer.
Andi hat sich zurückgelehnt, die Augen geschlossen und das Gesicht so entspannt, als befände er sich gerade in Tonga-Tonga zwischen einer Unmenge Mädchen und Hektoliter Caipirinha. Das Abstellen der Flaschen auf dem Tisch bringt ihn zurück ins Jetzt. Ich öffne zwei und wir lassen es klacken. Der erste Schluck ist immer der schönste. Kühl und leicht prickelnd. Wir schaffen es, die Hälfte unserer Flaschen leer zu trinken, setzen ab und bringen ein ‚Ah‘ raus. Für einen Wimpernschlag sind Andi und ich irgendwie glücklich. Dann fällt mir der Baum ein.

»Da liegt ein Tannenbaum in deinem Esszimmer auf dem Boden. Sieht wie ein missglückter Weihnachtsbaum-Versuch aus.«
»Genau das ist es. Ein missglückter Weihnachtsbaum-Versuch.«
Ich trinke die Flasche leer und stelle sie auf dem Tisch ab. Ein gepflegter Rülpser folgt.
»Den letzten Weihnachtsbaum habe ich hier 1998 gesehen, kurz bevor Klara und die Kinder dich verlassen haben.«
»1998? Bist du dir sicher?«
Andi trinkt aus und öffnet zwei weitere Flaschen. Ich überlege, ob 1998 sein kann. Das war sechs Jahre, bevor meine Frau auf und davon ist. Da war sie hochschwanger mit Fritzi, meinem Sohn. Und der kam 2004 auf die Welt; das ist sicher.
»Völlig sicher. 1998«, bestätige ich.
»Und jetzt haben wir …«
»2020.«
»Scheiße«, sagt Andi und trinkt die zweite Flasche zur Hälfte aus. Er rülpst in seinen geschlossenen Mund, aber der Innendruck ist höher als die Kraft seiner Kiefermuskeln. Es hört sich an wie ein angestochener Fahrradreifen.

»Der Baum, Andi. Warum?«
Er sieht mich an. Dann trinkt er die Flasche leer. Ich warte und bin still, denn ich sehe, dass es in ihm arbeitet, an ihm nagt. Andi findet nicht gleich die richtigen Worte, wenn es kompliziert wird. Er holt tief Luft.
»Paula ist Mama geworden«, platzt es aus ihm heraus.
»Paula? Deine Tochter?«
»Genau die. Mama! Stell dir mal vor. Paula ist Mama … ich bin Opa!«
Er stellt die Flasche auf den Tisch und öffnet die dritte, setzt sie an und lässt es laufen. Ich tue es ihm nach und trinke leer. Paula ist Mama, geht es mir durch den Kopf. Die kleine Paula. Die müsste ja schon knapp dreißig Jahre alt sein. Ich sehe, wie Andis Augen feucht werden. Er starrt auf seine linke Hand. Die Verletzung hat er sich zugezogen, als wir vor zwei Wochen das Monster in die Wohnung gewuchtet haben.
Urplötzlich haut Andi mit der linken Hand auf den Tisch. Er schreit vor Schmerz. Eine Flasche fällt um und rollt über die Kante. Ich stehe reflexartig auf, beuge mich über den Wohnzimmertisch und versetze ihm eine Ohrfeige. So wie ich es schon seit unserer gemeinsamen Schulzeit immer getan habe in solchen Momenten. Andis Mutter bat mich eines Tages dies zu tun, wenn Andi mit der Faust oder etwas anderem auf irgendwas haute, was in der Nähe stand. Was zuerst befremdlich auf mich wirkte und mir die Schamesröte ins Gesicht trieb, erwies sich als überaus wirksam, um meinen besten Freund wieder auf den Boden der Tatsachen zu stellen. Andi war mir deswegen nie böse. Andere Menschen schon, aber mit denen war ich nicht befreundet.

Andi schnieft und kramt ein zerknülltes Taschentuch aus der Hose, schnäuzt hinein und stellt die Flasche wieder auf den Tisch. Er nickt mir zu und ich öffne meine dritte Flasche.
»Der Baum?«, wiederhole ich meine Frage.
»Paula rief mich vor ein paar Tagen an und erzählte, sie sei Mama geworden. Du kannst dir vorstellen, wie baff ich war …«
»Ich kann es mir vorstellen«, nicke ich.
»… aber dann legte sie einfach wieder auf. Und ich wollte noch so viel sagen. Verstehst du? Und da kam ich auf die Idee, wir könnten ein einziges Mal zusammen Weihnachten feiern. Nur ein einziges Mal. Also rief ich sie wieder an, und … sie sagte zu, sie hat ‚Ja‘ gesagt. Weil der Kleine auf der Welt sei und ich ja der Opa …«
Er stockt und starrt auf das Reissdorf-Etikett.
»Wir brauchen mehr Bier. Holst du noch?«
»Kein Problem«, sage ich und packe die Flaschen zusammen. Auf dem Weg in die Küche sehe ich nach dem Weihnachtsbaum. Er blinkt. Allerdings – das fällt mir erst jetzt auf – hat Andi ihn nachträglich dekoriert. Auf der Unterseite ist überhaupt keine Deko zu sehen. Ich muss ihn fragen.
Aus dem Monster nehme ich von oben wieder sechs Flaschen, räume vom mittleren Fach sechs nach oben, vom unteren sechs in die Mitte und fülle aus dem Kasten unten wieder auf. Die Logistik beim Bier trinken ist besonders wichtig. Im Hängeschrank über der Arbeitsplatte finde ich Chips, Salzstangen, Erdnüsse und noch eine Menge mehr salziges Zeug, das dafür sorgen wird, dass Andi und Heinrich nicht wirklich alt werden.

Zurück im Wohnzimmer finde ich Andi dieses Mal am Fenster stehend vor. Ein halbes Jahr zuvor riet ich ihm, die alten Ado-Gardinen mal reinigen zu lassen, denn schon damals waren sie grauer als der PVC-Boden in seiner Küche. Aber Gardinen sind eben nur Gardinen. Unwichtig wie ein Kropf. Ich öffne zwei Flaschen und reiche Andi eine. Wir trinken einiges von dieser köstlichen gelben Brühe, setzen ab und starren durch das Muster der Gardinen auf die Stammstraße hinunter.
»Hier ist es viel ruhiger als drüben bei dir in der Venloer Straße.«
»Das stimmt. Ist aber auch nicht allzu schwer. Ist halt keine Einkaufsstraße hier.«
Andi dreht seinen Kopf zu mir.
»Ist nicht mehr wie früher hier, oder?«
»Du kennst die Antwort.«
Er ignoriert, was ich sage, trinkt einen Schluck und schaut hinaus.
»Das war mal die Wohnung meiner Eltern. Und ich habe sie gekauft, als es mir …«, er nickt beiläufig, »… uns noch gut ging. Damals habe ich mir nicht verziehen, Mutter in ein Heim gesteckt zu haben. Aber es gab halt keinen Platz hier für uns alle. Verstehst du? Heute denke ich …«
Ich lege ihm meine Hand auf die Schulter und drücke sanft zu.
»Andi … du musst mir nichts von alldem erzählen. Ich weiß alles. Du hast Entscheidungen getroffen. Ich habe Entscheidungen getroffen. Offenbar waren einige davon falsch.«
»Ganz offensichtlich.«
»Möchtest du Chips?«
Er sieht mich überrascht an.
»Wo hast du die Chips her?«
»Aus deinem Hängeschrank. Sind das noch die von letztem Silvester, oder wie?«
»Möglich.«

»Egal«, sage ich, trinke meine Flasche leer und reiße Chips, Erdnüsse und Salzstangen auf. Wir setzen uns, schieben uns das Knabberzeug mit vollen Händen in den Mund und spülen ordentlich nach. Wie früher, denke ich und kurz erscheint ein Bild aus Andis Kinderzimmer in meinem Kopf, er und ich mit Erdnüssen, Reissdorf und stierem Blick auf seinen Mini-Fernseher. Die Anspannung hoch, denn der FC versuchte den HSV zu demontieren. Muss 1978 gewesen sein. Das Bild verblasst. Die Chips schmecken in der Tat wie alte Pappe.
»Andi?«
»Hm?«
»Warum ist der Baum nur auf einer Seite geschmückt?«
Er hört für einen Moment auf, die Erdnüsse zu zermahlen. Andi sucht die richtigen Worte. Mir fällt in dieser plötzlichen Stille auf, wie sehr ich ihn mag.
»Paula hat wieder angerufen. Einen Tag später. Sie hat abgesagt. Irgendwas von Corona gefaselt. Ich sagte, dass ich nie rausginge, mir alles bringen lasse. Und soviel ich weiß, werden junge Mütter doch getestet und … Gott, was hab ich gejammert. Sie hört sich mein Geschwafel an und sagt dann: ‚Mama will nicht, dass wir kommen. Wie jedes Jahr. Du weißt doch, Papa.‘«
Er kaut einige Male und es macht den Anschein, als habe er vergessen, dass ich ihm gegenüber sitze. Ich warte und trinke leer, öffne eine weitere Flasche.
»Ich habe sie und ihren Bruder in all diesen Jahren zehn Mal oder so gesehen.«
Er sackt sichtlich in sich zusammen, schiebt eine Ladung Chips in den Mund, von der die Hälfte links und rechts auf Couch und Boden fällt.

»Du hast dich nie um das Besuchsrecht gekümmert, Andi. Das habe ich nie verstanden. Wie oft habe ich dir dazu geraten? Kann man wohl nicht mehr zählen. Warum nicht?«
»Es hat mir genügt, dass ich für Unterhalt und Schulfahrten und all das aufgekommen bin. Ich habe mich dabei gut gefühlt. Fast wie ein Papa …«, er trinkt einen kräftigen Schluck, leert die Flasche und blickt hinein. Ich öffne ihm eine neue.
Weil er schweigt, ab und zu etwas trinkt und die Wand hinter mir anstarrt, versuche ich mir den Rest zu denken.
»Paula hat dich angerufen. Du bist losgestürzt und hast einen Baum gekauft, Lametta und den Kram. In knapp dreißig Jahren nie einen Weihnachtsbaum aufgebaut, es völlig vermasselt, ihn liegen lassen und dann ne LED-Kette drüber gehängt und das Lametta drauf geworfen. So war es, oder?«
»So war es«, bestätigt er.
»Und einen Tag später ruft dich Paula an und sagt ab. Und jetzt bleibt der Weihnachtsbaum dort liegen und leuchtet, bis sie dich mit den Füßen voraus aus der Wohnung tragen.«
Er sieht mich an und lächelt plötzlich, zuckt mit den Schultern. Wir stoßen an, trinken leer, rülpsen beide zugleich schlechte Bierluft an die Decke und lachen einfach über nichts.
»Ich bin ein Verlierer«, sagt er plötzlich.
Ich höre auf zu lachen und stehe auf.
»Komm, hoch mit dir, wir gehen jetzt zu diesem Baum.«
»Warum?«
»Wir stellen das Teil richtig hin. Und zwar hier ins Wohnzimmer.«
Andi zögert kurz. Dann steht er auf und folgt mir ins Esszimmer.

Nach einer Stunde bierloser Plackerei steht der Baum in voller Pracht mitten im Wohnzimmer. Er reicht fast bis an die Decke. Wir haben silbernes Lametta bis zur Geschmacklosigkeit auf die grünen Äste geworfen und mit Draht ein paar leere Konservendosen statt der nicht gekauften Baumkugeln angehängt. Andis Weihnachtsbaum blinkt grün, weiß, blau, rot und violett. Wir stehen vor ihm, zwei weitere Reissdorf geköpft und trinken ein paar kräftige Schlucke. Andi setzt ab und sieht mich an.
»Das ist der hässlichste Weihnachtsbaum, den ich jemals gesehen habe. Sowohl im echten Leben als auch im Fernsehen«, meint er.
»Stimmt. Schlimmer geht es nicht. Allerdings das mit den Konservendosen finde ich schon ziemlich kunstvoll.«
»Du hast nie Weihnachten gefeiert, Heinrich, nicht wahr? Ich kann mich jedenfalls nicht erinnern …«, er überlegt kurz, »… außer in der Zeit, als wir Kinder waren.«
»Ich war anwesend. Aber ich habe es nie mitgemacht. Auch nicht als Kind.«
Andi nickt.
»Dafür habe ich dich geliebt«, sagt er leise.
»Für was?«
»Dafür, dass du anders warst als alle drumherum …«
Andi schluckt vernehmlich und räuspert sich.
»… aber immer in meiner Nähe. Immer …«
»Weißt du was«, unterbreche ich ihn.
»Was?«
»Wir werden Weihnachten zusammen feiern. Du und ich. Wir kochen ein Essen. Und wir schenken uns was. Scheiß auf die anderen.«
Andi schaut verdutzt. Aber schnell beginnt er zu lächeln. Ich lege meinen Arm um seine Schulter.
»He, weißt du noch? So standen wir früher den Thönnes-Brüdern gegenüber. Arm um die Schulter. Wie eine Mauer.«
»Weiß ich noch«, antworte ich, »aber wir haben auf die Fresse bekommen. Ordentlich.«
»Egal«, sagt Andi.
»Egal«, bestätige ich und stecke meine Hand in die Hosentasche, weil da was Schweres drin ist. Ich ziehe Andis Schlüssel heraus.
»Hier. Vergiss bloß nicht mehr, ihn abzuziehen. Sonst klaut womöglich noch jemand diesen wundervollen Weihnachtsbaum.«
Wir lachen, wegen nichts.

Danke fürs Lesen! Denkt an andere Menschen. Egal wann.

Alle Rechte liegen bei Heiko Tessmann, geschrieben 2020 und abgedruckt in einem Kurzgeschichtenband.

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