Lyrik 2020 – 2022

Willkommen im Lyrik-Archiv der Jahre 2020 bis 2022. Hier ist die Übersicht aller Lyrischen Kurzprosa. Alle Texte sind hinter den jeweiligen Ausklappboxen abgelegt. Lasst gerne einen Kommentar da. Solange Hass und Häme draußen bleiben, sind sie mir willkommen. Traut Euch. Danke!

Montag
Dienstag
und all die anderen Tage
Perfekt geplant
Verbindlich
Leben nach Uhrzeit
hier drinnen
wie draußen
So muss es sein
Das muss es sein
Für alle die mitmachen
Für diejenigen
die nicht mitmachen
bleibt das Warten
das Zweifeln
das Zögern
das Dunkle

Januar 2020
Kontext

Wem kann ich sie erzählen
die Worte in mir
Wer möchte sie hören
Die Klienten-Software natürlich
Anamnese nach Plan
Es klopft an der Tür
Moment noch
keine Zeit
Wie meistens
Nicht gestellte Fragen
nicht geweinte Tränen
Da leben noch viel mehr Worte
sind noch viel tiefere Schichten
zerklüftete Abgründe
Es klopft wieder
Moment noch
keine Zeit
Wenn die Worte in mir
zu Bernstein werden
Sedimente zu Stein gepresst
ist die Anamnese
ohne Sinn

Januar 2020
Kontext

Das ist meine Nummer
Leicht zu merken
Postleitzahl von Elmshorn
und Karlsruhe
nach alter Zeitrechnung
als die Dunkelheit
in mir wütete nur
war ich jünger
ohne Erfahrung
Vielleicht hätte das schon immer
meine Nummer sein sollen
ein Leben lang
Vielleicht wäre ich besser
im Geburtskanal
verunglückt
ohne Nummer
im kleinen Kindergrab
in kühler Erde
Kleines Holzkreuz
mit meinem Namen
den ich nie gehört hätte

Januar 2020
Kontext

Die Menschen sitzen hier und rätseln
Manchmal lösen sie Rätsel
in einer Zeitschrift
meist aber rätseln sie
was bei ihnen
schiefgegangen ist
wer ihnen all das angetan hat
weswegen sie nun hier sitzen
und rätseln
über das Gestern
oder das Morgen
über das Grauen in ihren Träumen
die Tränen vom Tag
die Mutlosigkeit daheim
Rätsel um Rätsel
auf Papier und in der Seele
Manchmal ist die Lösung
ein wenig Zuhören
ein wenig Liebe
oder der Tod
Manchmal ist die Lösung
im nächsten Heft

Januar 2020
Kontext

Selten ist es geworden
das Lächeln auf der Straße
wenn Menschen sich begegnen
Ich bilde mir ein
es gab früher mehr davon
Hier drin aber ist es reichlich
Ein kurzes schmales Lächeln
Ein Lächeln das mir flüstert
es wisse wie es mir geht
Ich lächle zurück
Immer
Denn ich weiß wie es
dem anderen Lächeln geht
wie hoffnungslos oder hoffend
es sein kann
Und ist kein Lächeln mehr
lächle ich trotzdem

Januar 2020
Kontext

Ich gebe zu
dass ich Angst habe
vor all den Geschichten
die ich hören werde
von den Menschen um mich herum
Die leise Frage nach dem Namen
dem Wohlbefinden
oder dem Grund des Hierseins
öffnet meist die Schleusen
Die Menschen kommen oft kaum
zum Luft holen beim Erzählen
Szenen ihrer Dunkelheit
drängen mit Macht ans Licht
raus aus den gequälten Seelen
in meine Ohren
meinen Verstand
auf verbotenes Gelände
vermintes Gebiet
Nicken
Verstehen
Zuhören
Bloß nicht weich werden
nicht weinen
nicht versagen
Ich bin der Schreiber
der Dunkelheit

Januar 2020
Kontext

Die ewige Frage nach dem Ziel
So alt wie mein Leben
So alt wie die Menschheit
Was willst du mal werden
Was möchtest du erreichen
Wie willst du dich bewähren
Oder willst du nichts
Nichts kann alles sein
aber es ist schwer
das zu vermarkten
denn alle streben einem Ziel zu
oder werden zu einem Ziel gedrängt
Ein Mensch ohne Ziel
hat auf diesem Planeten
kaum Platz
wenig Atemluft
und schon verloren
Nichts gibt es nicht
für die anderen
Aber zu oft
verwechseln sie das Ziel
mit der Funktion
Funktioniere
Das ist das Ziel

Januar 2020
Kontext

Fast lautlos
nimmt der Wind
das Leben mit sich
auf seinen Weg
und bringt es irgendwo
ich weiß nicht wohin
Er holt es sich
aus meinem Herzen
aus meinen Erinnerungen
aus jeder Zelle
Er kommt nachts
und am Morgen
am Abend
wenn ich nur so
da sitze und nichts bin
Er weiß
dass er der Wind ist
und ich nur ein Mensch
Er weiß
dass ich es
schon immer weiß
Er weiß
dass ich es
schon immer
erwartet habe

Oktober 2020
Kontext

Ich träume das Zerteilen eines
Mettwurstbrötchens
in zwei Hälften
Eine Frau neben mir
presst es sanft über die
Kante eines Glases
Ich frage mich warum
sie das tut

Ich träume in einem Bus
zu sitzen ohne Fahrer
ohne Lenkrad geradeaus
auf eine Betonwand zu
breit wie das Universum
hoch wie der Olympus Mons
Ich frage mich wo
das Lenkrad ist

Ich träume sterbend in
einem Kinderbett zu liegen
zwischen unzähligen
neugeborenen Ärmchen
kleinen Füßchen
lächelnden Mündern
Durch eine Scheibe starrt
das Leben
winkt den Babys
Ich existiere

Oktober 2020
Kontext

Ein kleiner Junge
Ich
Die Abwesenheit der Menschen
ließ mich zittern
Ein großer Junge
Ich
Die Abwesenheit der Menschen
ließ mich weinen
Ein junger Mann
Ich
Die Abwesenheit der Menschen
ließ mich trinken
Ein Mann
Ich
Die Abwesenheit der Menschen
ließ mich kalt
Ein alter Mann
Ich
Die Abwesenheit der Menschen
ließ mich zufrieden sein
Ein sterbender Mann
Ich
Die Anwesenheit des Todes
ist mir genehm

Oktober 2020
Kontext

Und der Schmerz
fragt er
Lange nichts
Meine Augen
auf seinem Gesicht
Tut nicht weh
sage ich
Er denkt nach
Verstehe ich nicht
Schmerz ist Schmerz
und tut weh
Nein
Tut nicht weh
Macht mich nur satt
Hast du Hunger
fragt er
Immer
nicke ich

November 2021
Kontext

Vaters Geist
rumorte in der Flasche
Bommerlunder-Wut
eine fast tägliche Glut
Anders als des Fürsten Zorn
dessen kalte Hand ließ
hinter uns nur die Wand
Dagegen die Rage eines Chantré
fast warm und lieblich
wie ein Wintertee
Seine ganze Liebe jedoch
entfaltete sich
bei Wein und Bier
brachte uns das Tier
War der Geist dann leer
plagte ihn Einsamkeit
umso mehr
und wir wussten
dieser Tag wird schwer

Dezember 2021
Kontext

Sind hier drin
ausnahmsweise
die Guten
Ich bin es leid
das Bluten
Bin zwar erst acht
doch im Leben
endlos Nacht
ob draußen oder drin
nur ein Wicht
niemand trägt mein Licht
Zwischen Opas Krieg
und Omas Sirenen
Tantes Geschrei und
Onkels Stöhnen sieht Papa
mich durch die Flasche
kratzt das Geld
aus Mamas Tasche
Da ist kein Brot
sagt sie
ist fast wie Not
weint sie
Ich gehe
suche die Guten
denn lieber
will ich bluten

Dezember 2021
Kontext

Auf dünnem Grat wankend
mein Ich erodiert
Schatten im Abgrund
Links und rechts
kaltes Tal in Dunkelheit
Gipfel entfernter denn je
Weder Seil noch Klemmen
noch Mut oder Hoffnung
Nichts
Morgensonne steigt
lockt mit warmem Licht
singt mit heller Stimme
das Lied vom Lügen
vom Sinn der Geburt
Komm
flüstert die gelbe Scheibe
komm zum Gipfel
Hitze bricht Fels
vor meinen Schuhen
Warte
sagen die Schatten im Tal
Auf den Abend
Auf die Kälte

März 2022
Kontext

In Augenblicken
zwischen Tag und Nacht
wartend auf den Morgen
vergessend den Abend
erbrechend das Jetzt
frierend am Waschbecken
ist keine Zeit
für ein Lächeln
existiert kein Grund
zu vergeben
Ist die Leere
wie das Weiß der Wanne
und das Weiß
wie die Leere

August 2022
Kontext

Ist wieder Sonntag
Restliche Chips gegessen
Der Kuchen des Proletariats
Halbes Glas Cola drauf
das von gestern Abend
dann bisschen streiten
beleidigt sein jemanden anrufen
über Arschlöcher herziehen
Wir könnten alles besser
wenn wir nur wollten
und jemand uns fragen würde
Endlich Abendessen aber scheiße gekocht
Nudeln hart Sauce aus der Dose
Tagesschau nur Lügen
Bezahlte Arschlöcher und endlich Tatort
Wir kennen den Killer und sagen es allen
wenn uns nur jemand fragen würde
Endlich ins Bett bisschen hassen und
streiten beleidigt sein in die
Dunkelheit weinen wenn uns nur
jemand helfen würde

August 2022
Kontext

Uns selbst haben wir
vom ersten bis zum
letzten Atemzug
Natürlich aber
ob wir uns mögen vertrauen
ob wir uns auf das Ich
verlassen können ist
was dem Gesicht im
Spiegel Probleme bereitet
Die Tragik kommt
wenn wir unsere Probleme
in die Menschen um uns
pflanzen säen lenken
an ihrem Leid ergötzen
und sie dafür verfluchen
was wir ihnen ungefragt
angetan haben

August 2022
Kontext

Zu sagen
ich denke an Dich
Zu flüstern
ich sehe Dich
Zu raunen
ich kenne es
wenn SieErEs mit
Armen und Beinen
in der Schwärze hängt
macht das Hängen
nicht besser
Aus der Schwärze
kein Morgengrauen
Die brennende Kerze
ins Fenster stellen ist
zwecklos denn der
nächste Transmittersturm
pustet sie aus

September 2022
Kontext

Irgendein Samstag
vor Weihnachten
kurz vor sieben
Ein früher Morgen
noch dunkel
Im Radio reden sie
über Kindersterben dort
wo sie Kinder
retten sollen
Sterben also
Ja oder nein
Kann sein …
Vielleicht …
Wenn …
Dann

Dezember 2022
Kontext

Das ist irgendwas
außerhalb des Zugfensters
hinter dem ich sitze
und durch die
Dunkelheit rausche
in atemberaubender
Geschwindigkeit oder
zäher Langsamkeit
Weihnachtsstimmung
Das ist irgendwas
außerhalb des Zugfensters
das aussieht wie
ein Strohfeuer
eine abgebrannte Kerze
ein Lagerfeuer im Sturm
menschengemachter Sinn
für drei Tage
danach Zerfall
in miese Einzelteile

Dezember 2022
Kontext

Unterstützung durch Crowdfunding

Unterstütze Heiko Tessmann auf Tipeee

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