Lyrik 1994 -1996

Willkommen im Lyrik-Archiv der Jahre 1994 bis 1996. Hier ist die Übersicht aller Lyrischen Kurzprosa. Alle Texte sind hinter den jeweiligen Ausklappboxen abgelegt. Ihr seht, dass die Anzahl der Texte weniger wird. Dafür nehmen Kurzgeschichten zu. Das ist der eine Grund. Ein zweiter ist ein großer Umbruch in meinem Leben. Ich verlasse Pforzheim. Lasst gerne einen Kommentar da. Solange Hass und Häme draußen bleiben, sind sie mir willkommen. Traut Euch. Danke!

Was tue ich
Die Frage ist
notwendig und
deprimierend
Seltene Augen
in deinem Kopf
Selten schön
Selten finster
Selten kühl
Aber nicht tot
Nur einsam
Von Grund auf
Lass mich sie küssen
Ich verspreche
keine grüne Wiese
aber schwöre
Geduld und
Schweigsamkeit
Gib mir deinen
Schmerz
Ich gebe dir
mich

Januar 1994
Kontext

Den Mond anstarren
Meine Güte
Wie groß er ist
Da draußen
Oder schon
im Wohnzimmer
Ich weiß es nicht
Er will dass ich
mich entscheide
Komm zu mir
oder bleib im
Elend
Ich weiß
er lacht mich
nicht aus
Wartet nur
Er ist der Mond
und muss mir
nichts beweisen
Das Leben hat
einen Riss bekommen
Die Schwärze darin
kann er nicht
ausleuchten
Also komm
sagt er

Januar 1994
Kontext

Verlorener Abend
Ab zur Tanke
Tabak kaufen
Sieben Mark geschnorrt
Am Kabuff die BILD-Zeitung
Sechs Millionäre im Gletscher umgekommen
Ich stelle mir sechs Millionäre vor
in Schnee Eis Sturm keine Sicht
das ganze Geld auf der Bank
Der Gott des Mammon hat versagt
Sterben auf dem Gletscher
Ich sterbe jeden Tag
In 10.000 Jahren werden sie
sechs Menschen finden
sich Gedanken machen
Ich zahle und
gehe leben

Januar 1994
Kontext

Ein Sonntag
wie viele
Unbedeutend
Mit einer Ausnahme
Es schneit
Endlich wieder
Die Winter meiner
Kindheit sind weg
Wusste gar nicht mehr
wie Schnee aussieht
Wolken so
tief und dicht
alle Straßen ruhig
Die Stadt in eine
angenehme Starre
verfallen
Schnee wie sanfter
Flügelschlag auf allem
Paar neugierige
Kinder im Hinterhof
Wenn ich mir ein
Ende wünsche
dann ein stilles

Januar 1994
Kontext

Halleluja schreiend
marschiert er in
die Kirche
Letzten Sonntag
Seine Augen leuchten
wie das Christusfenster
vor der Morgensonne
Er nimmt die
Kanzel ins Visier
Steigt hinauf mit
erhobenen Armen
Mutige wollen
ihn ergreifen
Er entzündet eine Bibel
Ich bin der Weg
die Wahrheit
und das Licht
schreit er und springt
Nasenbein gebrochen
Nun ist er in Hirsau
Ich hoffe niemand
betet für ihn
Ist ja schon
schlimm genug

Januar 1994
Kontext

Ich habe nicht gesagt
dass Du an die Welt
glauben sollst
Ich habe nicht gesagt
dass Du an diesen
oder jenen Gott
glauben sollst
Ich habe weder gesagt
dass Du an den Pessimist
noch an den Optimist
glauben sollst
Ich habe nicht gesagt
dass Du an den Wechsel
der Jahreszeiten
glauben sollst
Ich habe nicht gesagt
dass Du an die Liebe
glauben sollst
Ich habe nur gesagt
dass Du an Dich
glauben musst

Januar 1994
Kontext

Ich kann dir nicht helfen
Du weißt es
Weder Worte Gedichte
Verständnis Wut
Zartheit Kopfschütteln
noch Hoffnung oder beten
nichts kann dich retten
Sind alles nur
schöne Momente
Bald Erinnerung
Eines kann ich dir geben
was letztendlich nichts ist
in das du dich aber bedenkenlos
fallen lassen kannst
meine Liebe
wird dich begleiten
solange du dich nicht
verleugnest

Januar 1994
Kontext

Stammkneipe
Nur Milchkaffee
Buch Zigarette
Ein Freund kommt
trägt zitternd sein Glas
Bei mir angekommen
ist es schon halbleer
trinkt es in einem Zug aus
übt Schattenboxen
mit der Wand
Ich bestelle Southern
Wir reden schweigen
Dann zieht er sich aus
bis auf die Unterhose
Schalke 04-Unterhose
Der Vormittag wird lang
schätze ich
Mich überfällt
die Sehnsucht
nach jemand
Aber da ist
niemand

Februar 1994
Kontext

In der Kneipe
Er wollte über
den Jordan
sagt der Kumpel
Garage abgedichtet
Autoabgase und so
Garagenfenster vergessen
Nach ’ner Stunde
immer noch nicht tot
nur kotzübel
reihert was geht
Tragisch sage ich
Weswegen denn
gleich der Jordan
will ich wissen
Weißt ja wie das is
sagt er mystisch
Klar weiß ich das
bestelle Whiskey
Auf die Tragik

Mai 1994
Kontext

Finanzamt
Vollstreckungsstelle
Bezirk 40141
Vollstrecker wie tot
Zufällig kenne ich ihn
Hängt freitags
in der Kneipe
säuft bis zur
Besinnungslosigkeit
Das Elend seines Berufs
Menschlich
Nach einer Stunde
bin ich lebend raus
durch buckeln
und jajaleckmichtschüss
Erst mal Kneipe
Milchkaffee mit Schuss
Und ein unsterbliches
Liebesgedicht
schreiben

Mai 1994
Kontext

Heute
viele Menschen
weinen sehen
Tränen vor der Kaufhalle
in der Kneipe oder
im Bus oder
an der Ampel
in Autos Taxen
Viel mehr als sonst
Im Stehen Sitzen Gehen
Hände auf der Suche
nach Taschentüchern
oder Halt und Trost
Warum
Was ist ihnen passiert
Habe ich etwas
nicht mitbekommen
Einen habe ich gefragt
meine Hand auf
seiner Schulter
Er konnte es mir
nicht sagen denn
er war einfach leer

Mai 1994
Kontext

Er sagt
Der Symbolismus
der zwanziger Jahre
verknüpft sich mit den
neoklassizistischen Formen
des zeitgenössischen Wandels
zu einer Art modernem Bauhaus
Mir fällt das Wurstbrötchen runter
Ein Zwiebelring klebt
auf meinem linken Stiefel
Warum muss ich jetzt rülpsen
Ausgerechnet
Aber alle sind vertieft
in grafisch-skulpturale Studien
Ich habe nicht zu geringe Lust
ihnen was aufs Maul zu hauen
Real praktizierter
Symbolismus

Juni 1994
Kontext

Ex-Freundin ist da
schaut sich um
sieht neue Kaffeemaschine
Du musst ja Geld haben
Nein habe ich nicht
Dann im Wohnzimmer
Ich auf der Couch
sie auf Opas Erbsessel
Und er hat dir nichts vererbt
Zwei Strohsessel
Zwei Gewürzdosen
Tja sagt sie
Tja sage ich
Bohrst du noch in der Nase
Abends im Bett gestehe ich
Sie geht und wird denken
was in diesen vielen Jahren
wohl schiefgegangen ist
Ich habe keine Antwort

Juni 1994
Kontext

Heute im Zoo
Ist auch nicht
besser als draußen
Der Herbst hat
alles im Griff
Nebel überall
sogar im Elefantenhaus
Die Dickhäuter
trampeln von einem
Fuß auf den anderen
Deprimierend
Der Löwe schläft auf
einem Brocken Fleisch
Der Leopard trottet
im Kreis wie Dagobert
um seinen Glückstaler
Pinguine als Salzsäule
und der Eisbär ramponiert
das Eisengitter mit dem Kopf
Was bleibt ist
Glühwein bis zum
Abwinken

Oktober 1994
Kontext

Zufällig liege ich wach
Irgendwann im Oktober
nachts um zwei
Aufstehen aus dem
Fenster schauen
Die Pappel im Wind
Da geht es wieder los
Ein Schrei ein Schlag
Noch einer Sie kreischt
Die Kinder schreien mit
Ich ziehe mich an
Stockwerk tiefer klingeln
Nichts
Stille
Wieder klingeln
Er öffnet
Anderthalb Kopf kleiner
Noch einmal und es
passiert was sage ich
Er sieht mich nur an
Dann rufe ich so oft
die Polizei und das
Jugendamt bis sie
alleine sind
Verstanden
Er macht die Tür zu
Es bleibt ruhig

Oktober 1994
Kontext

Durch die Stadt
und wundern
Wieder Weihnachten
Kerzen Weihnachtsmänner
Ist November kalt unfreundlich
Wind treibt Menschen
durch die Gassen
hasten von Erwartung zu
Anspruch Sehnsucht Sucht
Suche nach Glück
Schaufenster
Einkaufslisten
Ich im Drogeriemarkt
Rasierklingen Zahnpasta
zahle fühle mich gut
besser noch
Bin reich

November 1994
Kontext

Eine längere Zeit
schweigen wir
Ich suche
ihre Augen
Sie die meinen
Ich kann dir
vieles geben
doch das Allerletzte
wird meins bleiben
Sie hört
Versteht
Weint
Stille
Nickt und geht
Ich zahle für uns
und das war’s

Dezember 1994
Kontext

Heiligabend
Nein
Heilige Nacht
3 Uhr in einer Bar
Hiphop in den
Ohren
Southern im Glas
Mitmenschen
allesamt freundlich
Exzessives Trinken
Über die eigenen
Füße fallen auf dem
Weg zum Klo
Um 4 Uhr
Techno aus
gequälten Boxen
Santa kommt rein
Job erledigt
sagt er
Jetzt einen
Scotch

Dezember 1994
Kontext

Tage sind wie Menschen
begrenzt in ihrer Existenz
allein unter vielen und
schnell vergessen abgerissen
im Küchenrezeptabreißkalender
Morgenröte bringt zartes Leben
Tau verschönt Jugend
Regen macht gleich
Sonne gibt Kraft
Nachmittag ein Aufatmen
Abend ist Aufbegehren
Dann sterben Tage und Menschen
umgeben von Schlafes
letztem Schmerz
Tod ist Geburt neuer
Tage und Menschen
ewig an das Konzept
gebunden

Februar 1996
Kontext

Wohnung leer
gehe mit mir essen
unter abendlicher
Winterdämmerung
Lokal fast leer
zwei kleine Familien
bald kommen kleine Kinder
an meinen Tisch
Wir malen Tiere
Horden von Tieren
Hannibals Heerzug
über die Alpen
so sehen sie aus
Nicht perfekt
Schnecken Ameisen Würmer
Vögel Sonnen Elefanten
Gladiatoren
Wir malen den Wind
Nicht perfekt
Doch der Abend
ist es
Perfekt

Februar 1996
Kontext

Dieses Haus
wartet auf eine
Abrissbirne
Der Tod
hat es gekauft
In der Wohnung
der alten Frau
Es riecht nach
Jahrhundert
Sie zittert
Die Welt
hat sie vergessen
Ihre Erinnerungen
interessieren nicht
Jesus über dem Bett
Papst an der Wand
draußen die
belebte Straße
Wir alle sind
einsam

Oktober 1996
Kontext

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