Lyrik 1993-4

Willkommen im Lyrik-Archiv des Jahres 1993. Und zwar im vierten und letzten Teil. In diesem Jahr habe ich so viel geschrieben, dass es zu viel ist für eine Seite. Hier ist die Übersicht aller Lyrischen Kurzprosa im Teil 4. Alle Texte sind hinter den jeweiligen Ausklappboxen abgelegt. Lasst gerne einen Kommentar da. Solange Hass und Häme draußen bleiben, sind sie mir willkommen. Traut Euch. Danke!

Er war nur
mein Stiefopa
Er mochte mich
und ich ihn
Ich war Kind und
wir spazierten fast
jeden Tag im
Schwarzwald und
er erzählte vom Krieg
Russland Moskau
Archangelsk-Kirche
im Scherenfernrohr
Verlegt nach Italien
Monte Casino und
am Ende Bologna
Wir waren wie Tiere
es wird keine
Vergebung geben
sagte er und weinte
Arbeiten konnte er
nur noch wenige
Stunden dann begann
das Zittern
Ich mochte ihn
und er mich

Oktober 1993
Kontext

Abends sitzen
Warten
Auf irgendetwas
Zigarette rauchen
Achte Tasse Kaffee trinken
Eine Stunde später
Sitzen und warten
Auf irgendetwas
Zehnte Zigarette
Neue Kanne Kaffee
Warten
Das Telefon anstarren
Im Telefonbuch lesen
Keine interessante Nummer
Nur Namen
Deshalb warten
und rauchen

November 1993
Kontext

Am Montag öffnen sich
die Türen durch die wir
nie gehen wollten
Heilanstalten
Leichenhäuser
Vierzig Jahre
Büro Tankstelle
Am Montag werden
Leute verfrachtet
die das Wochenende
nicht überlebt haben
oder die Jahre davor
Meine Güte
Verzweiflung
Dafür sind wir
auf diese Welt
gekommen

November 1993
Kontext

Der Mann
der dich vernichtet
bist du selbst
Die Hände
deine eigenen
Die Füße
die ein Leben lang treten
gehören dir
Alles an dir
ist selbstverständlich
auch die Wut
Du kannst nur auf
zwei Arten enden
Als Nova
oder als
Flop

November 1993
Kontext

Etwas ist nicht in Ordnung
aus den Fugen geraten
Ich sehe unter den Tisch
Meine Füße brennen
Dass ich davon noch
nichts gemerkt habe
Also die 112
Ich brenne
Wo brennt es
Ich brenne
Sehen sie es nicht
Können sie es nicht hören
Wie es knistert
Ich brenne schon sehr lange
Wollen sie mich verarschen
fragt er und legt auf
Nein
Wie auch wenn
ich brenne

November 1993
Kontext

Jeden Tag
schmeißt man sich
mindestens einmal
in den Müll
oder verleugnet sich
Manchmal ist es so
dass man aufwacht
und der Kopf gerade eben
aus dem Morast ragt
Man schläft darin
liebt und siecht darin
bumst darin
im Mist der anderen
aber hauptsächlich
im eigenen Mist

November 1993
Kontext

Im Briefkasten
ein dicker Umschlag
Finanzamt
Draußen Dauerregen
Oben angekommen
fünfter Stock
direkt aufs Klo
Umschlag aufreißen
Feststellungsbescheid
Zwanzig Seiten
Zahlenkolonnen
Paragraphenangaben
Rechtsbelehrungen
Sie wollen Geld
Was sonst und
nicht zu knapp
Endlich löst sich
die Verstopfung
Danke Finanzamt
Brief und Bescheid
werfe ich auf
den Boden
Jetzt einen schönen
Southern Comfort

November 1993
Kontext

Sechs Jahre
in diesem Haus
Nebenan die
Heilige Maria
Beten und Singen
Junge Frau oben
schiebt mit ihrem
Freund nachts die Couch
durchs Wohnzimmer
Unten der Kerl
hat seine Frau vermöbelt
bis ich ihm gedroht habe
Das Pärchen daneben
streitet 24/7 in allen Tonlagen
Die Alte unten rennt nachts
zehn Mal aufs Klo
dann hört sie Heino
Der Opa ganz unten
hat seine Wohnung
angezündet
Ich fühle mich
wirklich
wohl hier

November 1993
Kontext

Gestern Abend in der Kneipe
Hab ihm paar Weizen gezahlt
ein Bild abgekauft
Auf jedes meiner
aufmunternden Worte
hatte er eine schlechte Erfahrung parat
Dann hat er versucht
mit meinem Füller ein Bild zu malen
Zwei Minuten später war
meine Feder im Eimer
Der Alkohol setzte seinem
Redefluss stark zu
Er stank
Doch wir redeten
bis früh in die Nacht
Es war weder gut für ihn
noch für mich
So trennten wir uns irgendwann
und ich dachte draußen
dass ihn wohl bald
die Hand der Hölle greifen wird
Und keinem wird es auffallen

Dezember 1993
Kontext

Schon wieder
Weihnachten
Draußen überall
Weihnachtsdepression
Kaufhaus Supermarkt
Adventsmarkt Stammkneipe
Baum besorgen
aber keine Krücke
wie letztes Jahr
Und was schenken
Porzellan Badetücher Goldkette
Hausschuhe Pullover Socken
Einfach nur Geld
Die Ideen nutzen sich ab
wie die Gefühle
Nur die Obdachlosen
sitzen am Straßenrand
und sind dankbar
wenn vom großen
Kuchen etwas abfällt
Am 25ten Schlag 8 Uhr
ist die Kälte
wieder da

Dezember 1993
Kontext

Heute Nacht
betrunken am Computer
Gedichte in
Tastatur dreschen
Danzig hören
Polizei ruft an gegen drei
Die Schachtel unten
hat sich beschwert
Heute Morgen
Toccata und Fuge
im Schädel
Keine Erinnerung
Kaffee und Kippen
frühstücken und
das Geschriebene
entziffern unlesbar
Kyrillisch oder Farsi
Sinnloses Zeug
aus einer anderen Welt
War noch jemand
in der Wohnung
Ich überlege
suche Spuren
Nur eine Flasche
nur ein Glas

Dezember 1993
Kontext

Ein hoffnungsloser Fall
in jeder Hinsicht
Entziehungskur
Strafversetzt
Nicht der Hellste
Aber ehrlich treu lieb
Die Lebensbahn kippt
ins Bodenlose
Postschaffner und
immer betrunken
Wodka und Gin
seine Freundinnen
Wir mochten ihn
im Nachtdienst
und fanden ihn
auf dem Boden
an einem Freitag
Hose Unterhose aus
zwischen Unrat
und gelben Fliesen

Dezember 1993
Kontext

Das Motto der
Paketzusteller
während der
Sommerflut der
Winterkataloge in
Lastwagen Waggons
den gelben Autos
Die ganz Harten
nehmen es mit
einem Lachen
Tag um Tag
Stunde um Stunde
Hochglanzpapier
Konsumiert
Ihr Idioten
Briefkästen müssen
dran glauben
Und gestandene Kollegen
auf dem Trittbrett
Drei Monate Plexiglas
Ich bin der
Neue

Dezember 1993
Kontext

Mitten in der Nacht
grübeln über nichts
schreiben weinen
trinken und rauchen
Draußen Jahreswechsel
beleuchtete Fenster
Videos flimmern
Geschrei Wut
Stumme Lügen
Sekt Erdnüsse
der Wunsch auf ein
anderes Leben
Die meisten liegen
im Bett allein zu zweit
Böses Erwachen
Nichts ist neu
nichts ist anders
kein ewiges Leben
ohne dich

Dezember 1993
Kontext

Was ist passiert mit dem
den ich von damals kannte
Den ich im Spiegel sah
Wo stecken heute seine Augen
Wo Träume geblieben
Denn es gab nur Träume
Es waren tatsächlich
alles nur Träume
Hirngespinste
übersteigerte Lebenssucht
ausufernde Gemeinheiten
Sätze voller Kälte
Es gab nie eine Basis
und es ist schwierig
ein einigermaßen
festes Fundament zu bauen
Das Bild im Spiegel
erscheint älter
doch meine Augen
sind dieselben

Dezember 1993
Kontext

Tage sind zähes Fleisch
Menschen auf Deponien
Leben suchend im Müll
Gift in den Adern
Seelen wie grünes Gelee
über einem als Strohfeuer
erscheinenden Todesbrand
Lippen unbeweglich
kalte Worte hauchend
Ameisenhaufenstädte
Zugbrücken hoch
Die Zeremonienmeister
kommen und lassen
uns alltägliches Glück
beten hoffen verlieren
Dort im Fernsehen
bleibt unser Herz warm
unser Hirn klein
unsere Zukunft
sinnlos

Dezember 1993
Kontext

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