Lyrik 1993-2

Willkommen im Lyrik-Archiv des Jahres 1993. Und zwar im zweiten Teil. In diesem Jahr habe ich so viel geschrieben, dass es zu viel ist für eine Seite. Hier ist die Übersicht aller Lyrischen Kurzprosa im Teil 2. Alle Texte sind hinter den jeweiligen Ausklappboxen abgelegt. Lasst gerne einen Kommentar da. Solange Hass und Häme draußen bleiben, sind sie mir willkommen. Traut Euch. Danke!

Immer wieder
trifft man Menschen
die anwesend sind
und gleichzeitig an
einem entfernten Ort
leben gehen reden
Von einer Sekunde
auf die andere
sind sie nicht mehr da
bekommen den
100-Kilometer-Blick
Ihr Ich wandelt
entlang einer
unsichtbaren Linie
zu einem Punkt
den nur sie kennen
Hören riechen sprechen
alles nicht mehr da
Vollkommene Leere
Nur noch Körper

Mai 1993
Kontext

Mit Sehnsucht
wirft man sein
bisschen Leben
einer anderen Person
vor die Füßen
hofft auf Gnade
eine Erwiderung
eine Zartheit
Etwas auf das
man bauen kann
Aber nichts
Augen wenden sich
ab ins Nirgendwo
Lippen werden schmal
Gedanken erkalten
auf dem Weg zu mir
Kein sanftes Gespräch
keine Erwiderung
kein Leben

Mai 1993
Kontext

Dunkelbraune
Eichenholzkneipe
Irgendeine Stadt
Männliche Überreste
an der Theke
Hände ums leere
Bierglas geschlossen
Aus der Ecke
purzeln Worte
Fußball
Lockenwickler
Titten in BILD
Wanduhr tickt
Zweibeinige Marionetten
kein Spieler
keine Fäden
Draußen wird es
dunkel und ich
warte

Mai 1993
Kontext

Wo sind die Helden
Die Chansonniers
Die Florence Nightingales
Leo Trotzki ist hinüber
Die stillen schreibenden
Helden ohne Wurzeln
Camus aalt sich im Schmerz
Wo sind die Helden
Die nicht nur für
uns kämpfen wollten
Burroughs und Ginsberg
Wir haben in ihnen
ein Licht gesehen.
Doch sie waren
genauso leer
wie alle
anderen

Mai 1993
Kontext

Warum soll ich nicht
von ihm erzählen
Von Cello
Keiner kennt sein Alter
aber die Tätowierungen
Fremdenlegion Indochina
Dien Bin Phu Folter
Einschusslöcher
Heute fast harmlos mit
Strohhut auf dem Kopf
ein Auge zugewachsen
Zähne sucht man vergeblich
Bier mit Strohhalm
Cello grüßt mit lautem Schrei
wenn er jemanden trifft
setzt sich zu uns
Dann Selbstgespräche
ausgiebig und lautstark
Wir bestellen er trinkt
Vor allem die Gläser
aller anderen leer
Etwas aber hat er
immer dabei
Sein Cello
Und er kann spielen
Hat ihm das Leben
gerettet sagt er
In Vietnam

Mai 1993
Kontext

Machen wir
uns nichts vor
Blut bleibt Blut
Worte sind Worte
Vor allem bei Lesungen
Die Armen fragen
direkt nach der
grausamen Welt
Je mehr Knete
desto geschwollener
denn Kultur
verpflichtet
Versteht sich
Klassifizierter Blutrausch
Die Masken fallen
wenn die mit Knete
in meiner Lyrik
schlecht wegkommen

Mai 1993
Kontext

Ich komme
nicht umhin
zuzugeben
dass mich
das Kribbeln
im Magen
auf einen bekannten
Zustand hinweist
Erfreulicherweise
bleibe ich dabei
völlig ruhig
Doch ich kenne mich
Das Brennen der Nerven
wird in absehbarer Zeit
meine Seele
im Dreieck
springen lassen
Ich bin verliebt
und genieße es
in vollen Zügen

Mai 1993
Kontext

Bei vielen
verschlossene Türen
oder leere Büchsen
bei ganz wenigen
eine zweite Welt
hinter dem was
wir anderen
sehen können
Verliebe ich mich
dann immer zuerst
in die Augen
Durch einen
Vorhang aus Wasser
hindurchschreiten
in die Höhle
die keine ist
Nichts bleibt
unentdeckt
Nichts lässt
sich verstecken
in den
Augen

Mai 1993
Kontext

Die Pflanze
ist grüner und
hat viel mehr Blätter
bekommen
nachdem ich
jeden Tag mit
ihr rede
Natürlich
Zuspruch brauchen
wir alle ab und zu
Ich kann sie
wachsen sehen
Sauerstoff gegen
Worte wäre
zu einfach
Gedankenaustausch
das ist was zählt
Ich werde mit dem
Southern Comfort
reden und schauen
ob er meine Lage
verbessern kann

Mai 1993
Kontext

Man trifft wenige
Dafür überall
Ein Raum mit tausend Leuten
Alle unsichtbar
nur die Flamme nicht
Flammen sind Leuchttürme
zwischen ausgebrannten Alltagsleichen
Man kann Flammen nicht bändigen
Einmal leuchten sie in warmem Rot
ein andermal in kaltem Blau
Flammen spüren sobald
eine zweite im Raum ist
Sie sind zart verletzlich
stark ungebrochen
Schöpfen Kraft aus
tiefer Sehnsucht
nach Menschwerdung
des Menschen
Neulich habe ich
dich entdeckt
Du bist eine
solche Flamme

Mai 1993
Kontext

Abend
Die Stadt und alle
unterm dunklen Grau
schwarzen Wolken
In wenigen Lücken
das Abendrot
Farbe der letzten Wiederkehr
Vier Tore geöffnet
Vier Pferde auf ihrem Weg
unser jämmerliches Leben
in Glut zu verwandeln
Mich friert im
letzten Lichtstrahl
des letzten Abendrots
Heißer Atem
bläht die Nüstern
Ist das mein
Glück

Mai 1993
Kontext

Ich zittere
wie Espenlaub
Wie lange noch
Eine wunderliche Sache
dieses Zittern
Bei meiner Größe
sieht das lustig aus
Vermutlich Schicksal
Mein Schädel brummt
wie ein Strommast
bei Gewitter
Eine klitzekleine Träne
fällt in den Teller Suppe
der vor mir steht
Die Suppe ist ziemlich
das Wärmste
in der näheren Umgebung
vor allem das Einzige

Mai 1993
Kontext

Du musst nicht kommen
warum denn auch
Ich sitze ganz gut alleine
an diesem Tisch
Verschone mich
mit flachen Fragen
Verschone mich
mit kalter Fürsorge
Dir fällt es nicht einmal auf
Ich ziehe an Dir vorbei
wie ein Zug an der Bahnschranke
Du kannst mich nicht sehen

Mai 1993
Kontext

Heute krieche ich
wie ein waidwunder Löwe
durch den Tag
Nichts hat Bedeutung
Nichts hat Wert oder Gegenwert
Die alte schwärende Wunde
schmerzt nicht zieht nur
Heute ganz besonders
Nirgendwo ein Busch kein Baum
kein Schatten keine Erholung
Die Geier kreisen
trauen sich aber nicht
Noch bin ich nicht tot
Ich rieche eure Angst
Waidwunde Löwen sind gefährlich
Also warten sie ab
bis die Wunde
dein Fahrwasser abgräbt
Heute bin ich kurz davor
aber nur kurz

Mai 1993
Kontext

Kuttelausgabe
Ich hole Kisten
Nieren Pansen Lungen Lebern
Quer durch den Schlachthof
Ab in den ersten Stock
Dann zum Augendoktor
Große Kiste Rinderaugen
Universitätsware für
den Biologie-Kurs
Der Zampano jongliert
mit dreien davon
Wie im Zirkus
Hepp Hepp Hepp
Sogar einmal um
die Achse drehen klappt
Ich bin beeindruckt
Bin Augenspezialist
sagt er und zieht
die Export-Flasche
halbleer
legt ein Auge drauf
als Verschluss

Mai 1993
Kontext

Eine Karaffe
Southern-Comfort
auf dem Tisch
Deputatenlohn fürs
Gedichte vorlesen
Hab alle Worte
ausgegossen in die
Ohren der Menschen
Emotionen auf null gesetzt
Blaue Augen kommen
setzen sich still
sehen mich an
Verwirrend klar kühl
Ohne Schuld
Bist du allein
fragen sie
Nein sage ich
und meine Ja
Sie zögern und gehen
Einsamkeit im
Schlepptau
Das Blau ist allein
ganz wie ich

Mai 1993
Kontext

Sitze ihr
gegenüber
Sie
Ein wenig verrückt
Kühle Schale
Entwaffnende Offenheit
Verletzte Augen
Wunderbar intelligent
Aura einer Sonnenfinsternis
Schwarze Scheibe
umgebende Korona
Ein Kranz aus
Feuer

Mai 1993
Kontext

So wie alle Dinge
sich ändern ist
auch die Art
des Verliebtseins
jedes Mal eine andere
Ein seltsames Gefühl
Man wird unmerklich älter
spürt den Wandel erst
wenn man wieder
mittendrin steckt
Man sieht Feinheiten
wo es früher nur
Grobes gab
Bemerkt bisher
Unwichtiges
Vielleicht ist es
die Art wie
wir wachsen
die etwas von der
Weisheit der Dinge
offenbart
Das Altern
kittet keine Wunden
aber es bringt
neue Wunder

Juni 1993
Kontext

Sie entschuldigt sich
Kurz auf Toilette
Nicht mir nachschauen
ist die Bitte
Das tue ich nicht
Die Wiederkehr
Stoppelhaare rot
Wildes Umsehen
Flammenblick
Du siehst mich an
Was siehst du
Ich sehe bewachsene Hänge
üppiges Grün voller Leben
Dahinter schroffe Abgründe
tiefer Sturz in süßen Tod
Ich sehe Sonne im Gesicht
Magmakammer hinterm Herz
Leben Tod Glück Unsicherheit
ein Meer voller Zweifel
Ich weiß nicht
ob ich lieben kann
sagt sie
Ich erinnere mich
dass ich damit auch
Schwierigkeiten habe

Juni 1993
Kontext

Ich gehe durch die Stadt
Freund kommt mir entgegen
fragt wo mein Weg mich hinführt
Dorthin und deute die Nase lang
Ich sehe da nichts staunt er
Dorthin wiederhole ich
den Arm ausgestreckt
Er blickt dorthin findet nichts
fragt leicht genervt noch einmal
Ich lege den Kopf schräg
verdrehe die Augen
jetzt im Begriff zu gehen
als er fragt was ich dort machen werde
Na gut grinse ich und erkläre
dass ich dorthin gehen werde
um mit dem Feuer zu spielen
Dann gehe ich endlich

Juni 1993
Kontext

Ich fahre durch Altbekanntes
Orte meiner Erinnerung
Märchenhaftes Wetter unter
märchenhaftem Frühling
Geruchslandschaft vermischt
mit Landschaftsgeruch und
Geruch der Vergangenheit
Bevor alles passierte
lebte ich hier und sagte
es ist schlecht
doch heute weiß ich es war gut
Gut und schön inmitten der Stille
Diese Zeit war zart zu mir
Wie auch immer
Sie existiert nur noch
in meinem Kopf

Juni 1993
Kontext

Ich besuche dich
in verlassener Gegend
wir sitzen papageiengleich
auf der Couch
manchmal erlöst uns
Zartheit aus Verdammnis
Fernseher liefert schnöde Welt
Leise schluchzt dein Herz
flimmerndes Bildschirmlicht
in wenigen Tränen
Mein Kuss fängt sie auf
Was fügen wir uns zu
möchte ich flüstern
schweige lieber
Salz macht mich traurig
kann nichts tun
nur dich halten

Juni 1993
Kontext

Schwester Dunkelheit
am Horizont
Unangreifbar
im Gewand des Letzten
Pfähle aus Licht
Donnergrollen
Welch Schauspiel
Wir kennen uns seit
meinem ersten Schrei
unter dieser Sonne
Kannst sogar
Väter und Mütter
auflösen
Na los doch
gib es mir
tob dich aus
lang und kraftvoll
Hier ist mein Herz
nimm es

Juni 1993
Kontext

Spanischer Sekt
durch meine Kehle
Musik verletzt meine
Gedanken sehr gnädig
Am offenen Fenster
und schreiben
Die Platanen
folgen noch nicht
dem Frühling
Sie warten
lassen sich Zeit
Trabantenstadt
die fernen Hügel
Kirchen Häuser
Der Güterbahnhof
Das ist alles nichts
Kontaktfreie Zone
Sekt Füller Musik
Das kribbelt
schafft Sehnsucht
Ich bin voller
Kraft für mich
aber ohne Kraft
für das Leben
draußen

Juni 1993
Kontext

Melancholischer Tag
Diesiger Himmel küsst
Stadthäuser und Menschen darin
Melancholie ist traurige Ruhe
Man entzieht sich ihr nicht
genießt die Wirkung
die Trance fließender Zeit
Lege den Füller weg
zünde eine Zigarette
da fällt mir siedend heiß ein
dass ich ja noch
die Miete bezahlen muss
Nur von was
Nix im Kühlschrank
Gasuhr ausgebaut
Konto gesperrt

Juni 1993
Kontext

Heute das
Verliebtsein
gestanden
Und jetzt
im Wasser
Kochend
Eisig
Kochend
Ist in etwa
als würde man
täglich vor dem
Blumenladen stehen
die prachtvolle Orchidee
bestaunen
Schweigend
Regen Frühling
Hagel Sommer
Völlig egal
Da steht sie
hinter der Scheibe
Und ich davor

Juni 1993
Kontext

Für alle die eine
momentane oder
dauernde und tiefe
Unzufriedenheit spüren
Euch mit festem Griff
unter Wasser drückt
die ihr Heil
durch steten Wechsel
vertrauter Dinge
sichern wollen
sei gesagt
Es ist vergeblich
Ihr seid verloren
Vom ersten
Atemzug an
Das Glück winkt euch
aus der Ferne zu
zeigt euch den Finger
Den großen Moment
werdet ihr mit dem
letzten Atemzug
erleben

Juni 1993
Kontext

Eigentlich sitze ich hier
um zu schreiben
Doch irgendetwas
bremst mich aus
Die Musik
zwei Billardspieler
oder Schüler
die über Familientherapie reden
und schrill lachen
Das Gesülze
ödet mich an
Ich tröste mich damit
dass auch sie noch vom
Grauen gepackt werden
Eigentlich bin ich
gar nicht leer
Nur der Draht
ist heute unauffindbar
Was soll’s

Juni 1993
Kontext

Die Götter leben unter uns
Der von heute Nacht
gegen halb zwei an
der Bushaltestelle
Ein Amboss von Kerl
beide Hände in den Hüften
keine Hosen an steht und pinkelt
gegen die Sitzbank der Verkehrsbetriebe
Liest den Fahrplan unter sterilem Neonlicht
Ich hupe er dreht sich um
gelber Strahl beschreibt einen Halbkreis
Zweifelsfrei ein Unsterblicher
wartet auf die Silberkugel die ihn
aus gottloser Sinnlosigkeit reißt
hinüber ins Wohlgefallen des Todes
Junge muss ich lachen
fahre glatt bei Rot
über die Ampel

Juni 1993
Kontext

Eine alte Freundin
Jahre nicht gesehen
Wir gehen Kaffee trinken
erzählen und lachen
ersticken beinahe daran
Ihr Leben fast ruiniert
auf der Suche nach
Wärme und Zartheit
Nichts kann kommen
Nicht von mir nicht von ihr
Schnell wie der Wind
dreht sie das Gesicht weg
verbirgt das Weinen
Ich reiche die Sonnenbrille
Seltsam laufen die Tränen
unter der Brille hervor
über die Nasenflügel
aus einer anderen Welt
Ich zünde eine Zigarette an
und stecke sie ihr in den Mund
Es gibt einfach
keine Rettung

Juni 1993
Kontext

Ich denke schreibe trinke
Fünfter Stock offenes Fenster
alle zehn Minuten erschlägt mich
Panik mit vehementer Kraft
bis endlich um Mitternacht
ein weißer VW-Bus unten
vor der Plakatwand hält
Zwei Jungs kleben neue Plakate
Auf einem steht dass die Bank
den Weg frei macht
Natürlich nur den Weg
den die Bank für richtig hält
Die beiden reden und kleben
Ich schaue denke schreibe trinke
Sicherlich hat die Bank heute
den freien Weg für einige von uns
ins Gegenteil verwandelt

Juni 1993
Kontext

Die Nacht wird
zum Tag und der
zu unserer Finsternis
unter einer Sonne die
uns verbrennt
Ausglühen lässt in
winddurchtoster Wüste
im Sand so fein
dass er des Menschen
Inneres füllt sättigt
konserviert austrocknet
Straßenschluchten
ebnet und nichts
bleibt als die Dächer
unserer Zuhause
Aber nehmt es
nicht für ernst
denn es war nur
ein Traum
Oder eine Hoffnung
Ich weiß es
noch nicht

Juni 1993
Kontext

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