Lyrik 1992-2

Willkommen im Lyrik-Archiv des Jahres 1992. Im zweiten Teil. In diesem Jahr habe ich so viel geschrieben, dass es zu viel ist für eine Seite. Hier ist die Übersicht aller Lyrischen Kurzprosa im Teil 2. Alle Texte sind hinter den jeweiligen Ausklappboxen abgelegt. Lasst gerne einen Kommentar da. Solange Hass und Häme draußen bleiben, sind sie mir willkommen. Traut Euch. Danke!

Ich habe etwas verloren
dessen Bedeutung ich
weder wissen wollte
noch wissen konnte
Ich stand wie Robinson
auf meiner Insel
sah ein Schiff
vorbeiziehen
und habe nicht
gewunken
Aus Angst es könnte
mich nicht sehen
Vielleicht hat es
mich gesehen
aber ich habe ja
nicht gewunken
und sie dachten
Schau an
ein glücklicher
Mensch

Oktober 1992
Kontext

Unerwartet
haben sich meine
Gedanken geändert
die ich notiere
Schreiben war
mein Ventil
Ein Notruftelefon
Jedoch ist es nun
ein Begleiter geworden
Eine neue Öffnung
im Kopf
Ein Tor
durch das sogar
Licht hereinfällt
und nicht nur
Tod lauert
Wir werden sehen
wie lange

Oktober 1992
Kontext

Neulich sitze ich im Auto
Stau im Stadtverkehr
Abgase en masse
Nichts geht mehr
Mein Blick fällt
auf eine Werbetafel
Ein neues Auto darauf
bekannte Firma
Tolles Modell
Mit Reinluftfiltersystem
Das bedeutet
wir stehen weiterhin im Stau
aber atmen saubere Luft
Ein guter Grund
noch mehr Autos
zu besitzen
Natürlich hocke
ich ebenfalls in
so einer Karre
Wie alle

Oktober 1992
Kontext

Regen klopft aufs Autodach
versucht es zu durchlöchern
Wird er schwächer
holt er Kraft
für den nächsten Versuch
Sie neben mir
Die Welt endet
vor der Scheibe
wir sitzen
lesen denken reden
Der Regen
will uns holen
die Ruhe aus
uns herauswaschen
die Zeit zerstören
doch vergeblich
Bald wird er schwächer
und wir fühlen uns
zufriedener als sonst

Oktober 1992
Kontext

Regen klopft aufs Autodach
versucht es zu durchlöchern
Wird er schwächer
holt er Kraft
für den nächsten Versuch
Sie neben mir
Die Welt endet
vor der Scheibe
wir sitzen
lesen denken reden
Der Regen
will uns holen
die Ruhe aus
uns herauswaschen
die Zeit zerstören
doch vergeblich
Bald wird er schwächer
und wir fühlen uns
zufriedener als sonst

Oktober 1992
Kontext

Ich liebte
mit Fingern den Linien
deiner Brauen zu folgen
hinauf zur Stirn
Ohren Wangen
um Nasenflügel
zu vollen Lippen
Formen entdecken
Augen wie Spinnennetze
Lachen als ruhiger Strom
dem ich mich ergab
Wir waren
Nacht und Morgenrot
in einem

Oktober 1992
Kontext

Ich laufe
zwei Stunden
durchquere einen
großen Kiefernwald
Alle Nas lang hämmert
ein Specht sein Lied in die Rinde
Eichelhäher äugen
aber schweigen
fliegen auf und ab
um zu sehen
was sich wohl tut
Ein Reh äst am Waldrand
Die Ruhe ist so ruhig
wie ich es zulasse
Gedanken schweifen
Ich schalte von Sturm
auf leichte Brise
Von Schwermut
zu Melancholie
Die Tiere ahnen es
und lassen mich ziehen
Der Bussard äugt
nach der Maus
und sieht nur mich
Pilze recken sich der
Kühle entgegen

Oktober 1992
Kontext

Ich und eigene Kinder
Der Gedanke daran war
wie NATO und Warschauer Pakt
Ständiges Misstrauen
Niemals
Doch etwas hat sich geändert
Der Eiserne Vorhang
ist gefallen
überall
Nicht nur in mir
Warum
Aber könnte ich
ein Anker sein
in dieser Welt
des Versagens
inmitten eines
Ozeans aus Egos
der Verherrlichung
von Aktie und Index
unter den Füßen
der Anbeter von
Kapital und Krieg
Ich muss verrückt sein

Oktober 1992
Kontext

Er mit dem Traktor übers Feld
Zum einen Ende und dreht
wieder zurück
senkt den Pflug
die Schare ziehen in den Boden
In der umgeworfenen Scholle
tut sich allerhand
Samen, Würmer, Leben
In den Furchen
tummeln sich die Raben
und krächzen
fliegen wieder auf
kreisen um den Traktor
krächzen wieder
Manchmal nimmt der Bauer
seine Zigarre aus dem Mund
und spricht mit ihnen
Er lacht und fragt sie
wie es geht
Sie krächzen

Oktober 1992
Kontext

In fast leeren Kneipen
kann ich gut schreiben
Schöne Momente
simpel ohne Bedeutung
Klangteppich aus
Milch schäumen
Tür zum Klo quietscht
Musik
Alles reduziert und
restliches Leben ist
vor der Tür
Einen Kaffeeschluck
mit Eingebung
Friedlich sterben
Jetzt Ruhig Weitab
So soll der Abgang
beschaffen sein
Lasst uns gehen
und sterben

Oktober 1992
Kontext

Was sind das für Tage
an denen man sich begegnet
und doch nicht trifft
Flüchtige Begegnung
niemals mehr intensiv
Lippen sprechen
Augen und Ohren
schweifen in die Ferne
Finger wie tot am Körper
Gedanken verenden
in der Wüste der Einsamkeit
Fremder unter Fremden

Oktober 1992
Kontext

Die Wohnung ist leer
Das Bett ist leer
und Klopapier
ist auch alle
Besser wird es nicht
Sogar mein Kopf
ist zur Gänze leer
War ich in der Kneipe
und wer hat mein
Geld vertrunken
Ich liebe sagte ich
zu einer Person
vermutlich eine Frau
oder Bedienung
oder war es nur
mein leeres Glas
dessen Inhalt ich
nachtrauerte
Das sind nur
Vermutungen
Nur eines ist real
Um mich herum ist
alles leer

November 1992
Kontext

Wir wollen
sehen
hören
fühlen
riechen
spüren
weinen
kämpfen
streiten
lachen
trotzen
lieben
sterben

November 1992
Kontext

Rot Gelb Grün Blau Weiß
Eckig Oval Rund
Eine Handvoll Pillen
Dazu einen 1986er Barolo
Ich habe die
Antigravitation erfunden
schwebe liegend oder
liege schwebend aus
dem Zimmer und
treffe lächelnde
Monster zwischen
steilen Felswänden
die Fingerspitzen blutig
kleiderlos
geschlechtslos
Ich im Land des
Sachlichen
Jemand stopft mir
Espresso-Pulver in
den Mund oder doch
woandershin
Wer weiß

November 1992
Kontext

Der 29ste Herbst
Nur ein Wimpernschlag
an dem ich mich so fühlte
als ob ich den Rest
überleben könnte
Schmerz muss mein
Bruder sein in jeder Faser
jeder Zelle im Hirn
allgegenwärtig
hat mir die
Tränen geklaut in
Stein verwandelt
Zum Teufel
wie viel habe ich
verpasst

November 1992
Kontext

Liebe
weiß und unbefleckt
keine Angst vor dem Alter
genießt jedes Fältchen
auf unserer Haut
genießt die kalte Hand
wenn der Oktober
des Lebens erreicht ist
und der Glanz deiner Augen
vom Leben abgetragen
Fürchtet die Kälte im Herzen
Wut in den Worten
Doch du kehrst
nie wieder zurück
denn deine Flamme
ist erloschen

November 1992
Kontext

Die Tränen
meiner Augen
tropfen ins Meer
sinken auf den Grund
und erzählen Geschichten
in der Hoffnung
die Strömung
nimmt sie mit
in stille
kalte
und endlose
Tiefen

November 1992
Kontext

Deckung suchen
Fußvolk beachten
entscheidende Momente
im düsteren Morgengrau
Feldtelefone kaputt
Aufgerieben
Flanken versagen
Durcheinander
Stellung halten
Angriff ins Herz
Stille
Wer ist der Gegner
Ich
Perplex
Blutleerer Körper
Der Tod kommt

November 1992
Kontext

Ein Weiler
zehn Häuser eine Kneipe
das Meer im Rücken
Neben mir ein Kater
Robert
Kopf wie ein Bulle
Muskeln wie Hannibal
Schaut auf mein Baguette
leckt sich den Bart
langt hoch
krallt es sich
frisst es mit Kruste
wälzt sich auf den Tisch
schiebt mich weg
saugt meinen Kaffee ein
Robert
Nur ein Kater
Aber was für einer

November 1992
Kontext

Kieselsteinstrand
Angelehnt am Kalkblock
Einen Liter Rosé am Mund
Das Tor zur inneren Welt
Berge und Meer
alles rückt zusammen
drängelt sich im Kopf
Tausend Dinge denken
nichts festhalten
alles falsch
Kurze Erinnerung an
eine andere Realität
jenseits der Gestade
Die Sirenen singen
alles leuchtet
Ich komme

November 1992
Kontext

Marseille
Richtung
Place de l’Obelisque
Genervt
Spurwechsel und im
Radio Gimme Shelter
Alles was rollen kann
schiebt sich in
den Kreisverkehr
Wer Platz macht
ist ein Verlierer
Standardmittelfinger
Cretin Idiote
Sonne hinterm Smog
wirft mit Hitze nach uns
Ein Flic sitzt auf
der Beeteinfassung
Gitanes im Mundwinkel
Mick Jagger schweigt
Ich muss hupen
sonst werde ich
wahnsinnig
wie diese Stadt

November 1992
Kontext

Kleines Auto
parkt am Hafen
Jogging-Anzug-Frau steigt aus
samt Mini-Hund
Sie setzt ihn ab
geht zurück zum Auto
und ruft ihn
Er zwischen Müllcontainern
ein Dutzend Katzen
oben drauf die
Fischköpfe abnagen
Der Hund ist starr
Frau wieder hin
versetzt ihn um fünf Meter
Sie wieder zum Auto
nichts passiert
Katzen schauen interessiert zu
Frau wird wütend
kickt ihn ins Auto
Kavalierstart und weg
Die Katzen
sehen sich an

November 1992
Kontext

In uns schauen
Kopf träumen lassen
unter hellem Mond
hinter goldenen Klippen
Denken durchs Herz
malträtiert filetiert frittiert
Gedanken fliehen aus
unseren Augen über
die goldenen Klippen
verblassen im Angesicht
kühler Nacht
dunkler Hadeswelten
Nichts zum Festhalten
kurzer Schmerz
Wahn regiert

November 1992
Kontext

Kann mich nicht genau
an dein Gesicht erinnern
Formen Kanten Haare
Geruch deiner Haut
Klang deiner Worte
Kleine Narben auf den Wangen
Aus Sehnsucht geformte Lippen
hinter einer Nebelwand
Undeutlich und weit entfernt
Nichts Greifbares mehr
Nur deine Augen
glühen im Nebel
wie zwei Sonnen
im dunklen Meer
Sie sind es
die mich verfolgen
und in die ich immer noch
fallen möchte

November 1992
Kontext

Beim Sitzen
Betrachten der Landschaft
Beim Trinken Reden
Rauchen Weinen
merkt man wie
Erinnerungen sterben
sich verlieren in leeren
Herzkammern
den Körper verlassen
durch alle Poren
Zurück bleibt
eine leere Wüste
einstmals voller Wunder
und Traurigkeit
Selbst die wird sich
in Nichts auflösen

November 1992
Kontext

Cassis
Die Abendsonne brennt
Mann und Frau im Boot
Ausparkprobleme
Vorwärts rückwärts
Fluchen Schreie
Zwei Männer ziehen
nen Tintenfisch aussem Wasser
Lassen die Tinte ab
Plötzlich Hektik
Männer Netze Boote
fahren aus der Bucht
aufs offene Meer
Wo das Wasser golden glänzt
Im Gegenlicht
nur noch Silhouetten
Ich weine

November 1992
Kontext

Fischmarkt Marseille
Hitze Gestank
Schreiende Frauen
Drei Doraden für mich
Abend in Morgiou
Messer am Stein wetzen
Fische glänzen silbrig
in untergehender Sonne
Vom Bauch zu den Kiemen
einmal ganz herum
Innereien für die Möwen
Krah sagen sie
So was wie Danke
schätze ich und
lege die drei aufs Feuer
Jemand kommt
mustert mich lange
und geht
Sonne versinkt
Ich weine

November 1992
Kontext

Im Nachhinein
Dinge glorifizieren
Böses wird gut
Tragisches himmlisch
Seltsames versinken
in glückliche Erinnerung
Damals
verzweifeltes Lachen
wahnsinniges Trinken
Streit Wut Liebe
Versöhnung
Nichts
Kein Ausweg
Überleben und
geduldiges Warten
auf bessere Tage
So einfach ist das

November 1992
Kontext

Hauptbahnhof Marseille
Dosenbier in der Hand
Frau von rechts
Hosenbeine oben
Narben Wunden
viele Hemden eine Jacke
Altes Gerippe von links
zerstörtes Gesicht
Fetzenmantel
pinkelt während es läuft
Dann Oma Knautsch
zieht Hund wie nen
Backstein hinter sich her
Hund kackt im Ziehen
Bremsspur auf den Boden
Flic kommt im Gardeschritt
rutscht auf Kacke aus
Marseille lacht Tränen
Dosenbier ist alle
Nicht lustig

November 1992
Kontext

An verschiedenen
Orten zu sitzen
bedeutet
dieselben
Gedanken zu denken
dieselben
Tragödien zu erleben
Trotzdem hinterlässt
jeder Ort
seine Spuren im Kopf
einen besonderen Duft
ein eigenes Licht
Nur wenige
bereichern die Seele
erhellen den Verstand
oder sind friedlich
Nur wenige

November 1992
Kontext

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