Lyrik 1992-1

Willkommen im Lyrik-Archiv des Jahres 1992. Und zwar im ersten Teil. In diesem Jahr habe ich so viel geschrieben, dass es zu viel ist für eine Seite. Hier ist die Übersicht aller Lyrischen Kurzprosa im Teil 1. Alle Texte sind hinter den jeweiligen Ausklappboxen abgelegt. Lasst gerne einen Kommentar da. Solange Hass und Häme draußen bleiben, sind sie mir willkommen. Traut Euch. Danke!

Die Tage verbracht
ohne zwei Jahre später
sagen zu können
daran erinnere ich mich
Du wirst sagen
die letzten zwei Jahre
Allerlei
Das Übliche
Du wirst sagen
die letzten 72 Jahre
Allerlei
Das Übliche
Was bitteschön
hättest du dir
merken sollen
Zeit bedeutet
Vergessen
Glück ist einen
Atemzug lang

Januar 1992
Kontext

Wie die Katze
über den First
Leise und verschmitzt
Zu allem bereit
So schleicht der Tod
durchs Fenster
schaut sich mürrisch um
Wir liegen und schlafen
Arbeit in den Knochen
Leben in der Seele
Jede Nacht sterben wir
ein Stückchen
zermürbt am Ende
Schatten unserer Geburt
Er braucht uns nur noch
wie Fallobst
von taufeuchter Wiese
auflesen

Januar 1992
Kontext

Kneipe
nachts halb drei
Musik knapp unterhalb
zum Hörsturz
Schwankender Ralfi
auf Barhocker
Gipsbein Ledermütze
gepflügtes Gesicht
Klamottenfetzen
hören sehen riechen
fühlen sprechen alles
weg bis auf Wodka
Gravitation will ihn
doch nichts geschieht
Ralfi besiegt
die Physik

Januar 1992
Kontext

Nun bist du
ein Jahr tot
Ich in Einsamkeit
Was fehlt wird
den Rest meines
Lebens fehlen
Auch wenn du
bisher ebenso
gefehlt hast in
meinem Leben
Du warst überall
aber kaum bei mir
Ich denke oft an Dich
Weinen Lachen
Dämliches Werden
und Vergehen
Der endgültige Schritt
zur Befreiung
Den Tod
tolerieren

Januar 1992
Kontext

Unsere Zukunft in
unseren Händen wie
Sand im Glas
Die Zeit zerrinnt
Umdrehen zwecklos
Der Boden vom
Gefäß ist kaputt
Wir rieseln durch
schauen zu
leben das Leben
machen weiter
noch etwas Krieg
plündern brennen
ICH
rufen die Egoisten
bevor sie mit dem
letzten Sand durch
die Enge rutschen
und wir aus diesem
Teil des Universums
verschwinden

Februar 1992
Kontext

Kneipe
Ecktisch
Füller und Kladde
Gedichte schreiben
Milchkaffee trinken
Am Nebentisch
Nadelstreifen in
meinem Alter
Devisengeschäfte
Dollartransaktion
Weizenhandel
DAX Stock Exchange
New York
Anlagegeschäfte und
nächste Woche Monaco
danach Acapulco
Wer rettet eigentlich
den verbliebenen Rest
der guten alten Erde
Niemand
Sie sitzen
Ich sitze

Februar 1992
Kontext

An was ich glaube
Ist die Frage
an der Theke
Ich glaube
mein Glas ist leer
Der Nebenmann lacht
und der Wirt versteht
Ich ahne ein
ernsthaftes Gespräch
Glaubst du an Gott
kommt logisch die
nächste Frage
Mach dich nicht lächerlich
rutscht mir raus
Ich glaube nur an mich
Und das ist schon
schwer genug
Frag mich morgen
wieder

Februar 1992
Kontext

Heute nur
eine leere Hülse
gewesen
Paar Fäden dran
Jemand ließ mich
nach links oder
nach rechts strampeln
Aufgestanden um
verarscht zu werden
Nach Hause gekommen
um belogen zu werden
Jetzt am Fenster
Abend im fünften Stock
Schwarze Nacht über
schwarzer Stadt
Nicht passiert
Jemand legt die Fäden weg
Geh schlafen
sagt er

Februar 1992
Kontext

Briefe Briefe Briefe
Hunderte Tausende
Verteilanlage kaputt
Jemand schreit und
es stinkt gewaltig
Der Russe hat gefurzt
sagt der Türke
Der Rumäne hat gefurzt
sagt der Russe
Der Rumäne zeigt
auf den Italiener
und der auf
den Portugiesen
Scheiße ist Scheiße
sagt Meier von
der Haustechnik
hantiert an der
Maschine und
lässt ordentlich
einen fahren
Europa lacht

Februar 1992
Kontext

Du sagst Arschloch
Pause
Großes Arschloch
Pause
Riesenarschloch
Du rülpst und die
Wände wackeln
Du leerst den Wodka
willst aus dem
Fenster segeln
Fünfter Stock
Die Sauerei lass
ich liegen sag ich
Du reißt mir die
Brusthaare raus
und hebst das Knie
Mir wird schlecht
Dann gehen wir in
die Badewanne und
raufen heftig
bis kaum noch
Wasser drin ist
Wir lachen frieren
und lieben uns
bis Weihnachten

März 1992
Kontext

Wir saßen da
dachten über etwas nach
Ich über dies
sie über jenes
Ab und zu suchten wir
die Augen des anderen
doch fanden nichts
Die Waschmaschine schleuderte
600 Umdrehungen
Als sie auf 800 erhöhte
hob sie ab und
verharrte Sekunden
in der Schwebe
zischte sodann durchs
geschlossene Fenster
Wir schauten hinterher
Wahnsinn sagte ich
Wir saßen weiter ‚rum
während die Waschmaschine
die Merkurbahn erreichte

April 1992
Kontext

Gestern Abend Kneipe
rumstehen nix sagen
Stundenlang
Sie schaut her
ab und zu jedenfalls
schüttelt den Kopf
Das Ab und Zu erwidern
dann meinen Blick
in die Runde werfen
Jede Menge Leute
alle sehr schick
reden über nichts
darüber aber sehr viel
Wieder ihre Augen
finster zukunftslos
Gläser leer
Tassen staubtrocken
Nachhauseweg
Stille

April 1992
Kontext

Eine Käseglockennacht
über der Stadt und mir
Kommt nicht langsam
ist plötzlich da
Autofahrer drehen durch
Jetzt schnell runter
zur Eckkneipe und
den Zigarettenautomaten
von der Wand reißen
Polizisten die Mützen
vom Kopf ziehen
Aufessen
Verdrossen auf dem
Bürgersteig sitzen
Hundekacke zählen
Auf Nacht folgt Tag
folgt Nacht
folgt Tag
folgt Tod

April 1992
Kontext

Ist es Nacht
verschwinden alle Häuser
paar Lichter bleiben übrig
tote Skelette mit leuchtenden Augen
Darin Mörder Ehepaare
Betrüger Gleichgültige
vor Fernsehern
füttern Katzen Hunde
schlagen Kinder oder sich selbst
Kommen vom Essen
Von der Arbeit
Gehen ins Theater
haben zuhause Theater
schlurfen in die Kneipe
hecheln zum Ehebruch
Jeder tut etwas Sinnloses
Was tue ich
Sitze hier und schreibe
Immerhin

Mai 1992
Kontext

Bürgersteig gegenüber
Mensch mit Hund
Hund mit Mensch
Frau mit Pudel
der gerne schnüffeln
pinkeln oder kacken will
Frau zieht ihn gnadenlos weiter
wie ein totes Holzbrett an der Schnur
Wird Verstopfung bekommen
Dann Mann mit Schäferhund
Mann hat Schlagseite
wischt Tränen weg
Zieht sich und Hund weiter
Herrchen pinkelt an Baum
Hund wartet
Offenbar kann sich
niemand retten
vor sich selbst

Mai 1992
Kontext

Ich bei ner Hochzeit
Pfarrer sagt
die deutsche Sprache ist arm
Nur ein Wort für Liebe
Andere Sprachen hätten
so viele Worte für Liebe
Spinner
Ein Wort oder mehrere
würde uns auch nicht helfen
sinnvoll damit umzugehen
Wir kriegen es ja nicht mal hin
ein Wort mit Leben zu füllen
Wie deprimierend muss es erst
mit vielen Worten werden
Wenn man aber auch
keine Ahnung hat
muss man die
Fresse halten

Mai 1992
Kontext

Fernseher läuft
Los Angeles Straßenaufstände
Fehlurteil im Gericht
Vier weiße Polizisten frei
Schwarzen Mann niedergestreckt
Mit 50 Stockhieben
Wegen Geschwindigkeitsübertretung
Auf Zunge zergehen lassen
Geschwindigkeitsübertretung
Stadtteil brennt
Polizei Nationalgarde
Schon wieder einen Platz
den die Hoffnung
verlassen hat
Wir leben auf
einem Flickenteppich

Mai 1992
Kontext

Was wir gewinnen
ist so gering gegenüber
dem was wir
verlieren
verdecken
verschweigen
vermeiden
Aufstehen Zubettgehen
Arbeit Streit Lachen
Zartheit Prügel
Messerworte
die tief schneiden
Pflasterworte
über den Narben
Der tägliche
kleine Tod
Uraltes Prinzip
Am Ende fallen
wir vom Baum wie
überreife Früchte

Mai 1992
Kontext

Ich habe den Eindruck
dass wir uns fremd sind
Ich habe den Eindruck
dass Du ausbrichst
Ich habe den Eindruck
das schon erlebt zu haben
Ich habe den Eindruck
wir verdrängen
Ich habe den Eindruck
Du bist verliebt
Ich habe den Eindruck
Du bist verwirrt
weil Du verliebt bist
Ich habe den festen Eindruck
ich habe schon verloren
Ich habe eigentlich
noch viel mehr Eindrücke

Juni 1992
Kontext

Träume platzen
wie Seifenblasen
Nur schneller
Sie schillern in
der Nacht und
treiben uns auf
Wolke sieben oder
Höllenkreis neun
So zart wie ein Traum
ist das Leben nicht
Aber angsterfüllt wie
ein Alptraum sind
die Tage allemal
Der Alp vergeht nicht
er läuft als Echo
vom Königssee
zwischen den
Häusern der Stadt
hin und her
Wieder und wieder
Fast wird man
süchtig danach

Juni 1992
Kontext

Was wir
uns antun
ist so banal
wie alltäglich
Der Tod
beendet Liebe
aber er vollendet
sie nicht
Was noch
kommen könnte
vermögen wir
nicht zu abzuwarten
Das Jetzt ist
ultimativ wichtig
Wir versäumen
Leben
Wir sind
arm dran

September 1992
Kontext

Wie kleine Flecken
tauchen jetzt ab und zu
im weiten Grün
ein paar Bäume auf
deren Blätter für
dieses Jahr sterben
Ein leichtes Rot
etwas Braun
und Gelb
Nur zart bis jetzt
Die meisten wehren sich noch
und kämpfen um
das letzte bisschen Sonne
Sie leuchten warm
wie das Licht im herbstlichen Abendrot
Warm und doch sterbend
Bald ist der September vorbei
die Leute bereiten sich
auf die Kälte vor
Eines Tages
wird dieser September
in die Geschichte eingehen
in Märchen
in neues Leben

September 1992
Kontext

Da laufen sie
abends auf den Straßen
und haben kleine bunte
Schälchen um den Hals
Der Winter kommt
Wangen werden rosa
bald rot
Sie denken an Weihnachten
an keine Zukunft
an keine Vergangenheit
Sie denken an
den ersten Schnee
Schlitten Schneebälle
Sie schreien, lachen
weinen und sind still
Sie respektieren
nichts oder viel
Der Tag ist Spiel
die Nacht unheimlich
Und der Herbst
befreit ihre kleinen Gemüter
von der Last des Sommers
Sie haben manchmal niemand
aber doch alles
Sie glauben an wenige Dinge
besitzen kein Wissen
und doch die Macht

Oktober 1992
Kontext

Was nicht alles
so passiert ist
und mich ein Stück
Leben gekostet hat
Mein verkrustetes
Herz erinnert mich
an die Felder um Ypern
Schützengräben
Irgendwann das erste Glas
und verflucht
mit dem Letzten
begann es von vorne
Dem Leben misstrauen
und es verachten
ist nicht schwer
Aber ich
bereue nichts

Oktober 1992
Kontext

Ich stellte mich abseits
und wollte doch
bei ihnen sein
Ich blickte weg
und zwinkerte doch
in ihre Richtung
Ich sagte
ich ginge dorthin
und wollte doch bleiben.
Ich sagte
ich liebe
und hasste nur mich selbst
Ich lachte und erzählte
aber weinte innerlich
Ich ignorierte
und versuchte zu halten
Ich verabscheute
und wollte doch nur helfen
Ich sah sehr schnell
die Mauern anderer
als ich auf meinen
eigenen stand
Und doch war Liebe
in meinem Gefängnis

Oktober 1992
Kontext

Ich erinnere mich
Vor Jahren
Dort in der Stadt
Die Wände weiß
Ohne Dreck
Wohnung leer
Eine Matratze
Karton mit Gedichten
Tagebücher Zettel
mit wirren Notizen
Wir suchten und fanden
was früher einmal lachte
Unterarme gepunktet
Entzündet
Blaue Flecken
Brennende Kerze
Löffel
Leerer Blick
wie nasses Papier
Der Tod klopft
Wir gehen

Oktober 1992
Kontext

Wir alle
stehen sitzen warten
Ich die 86
70 wird bearbeitet
Und erst halb zehn
Wir starren auf Füße
schweigen und sind nichts
Lederkoffer Krawatte Träne
Übrig vom letzten Job
Abgewetzte Jahre des Wartens
wie tiefe Furchen in mancher Stirn
Illusionslos und voller Scham
72 weint still
70 kommt raus
kein aufrechter Gang
Wir sehen ihm nach
Arbeitsamt
16 Leblose vor mir
Unmengen hinter mir

Oktober 1992
Kontext

Ich spürte
sie verfolgen mich
drehte mich um
Da waren sie schon
hielten mich fest
links und rechts
und am Hals
zogen mir die Jacke aus
peitschten mich damit
Der Reißverschluss
tat weh
Ich weinte
vor unbändiger Wut
Der Inhalt
meines Schulranzens
landete in einer Pfütze
Sie stampften alles
in dieses dreckige Wasser
Dreckiger Fensterputzer
lachten sie
und ließen von mir ab
als es langweilig wurde
Ich ging zu dem Haus
dass man mir
als Heimat verkaufte
und schämte mich

Oktober 1992
Kontext

Mutter weint
Ich starre auf
ihren Rücken
im kleinen Raum
der unsere ganze
Wohnung ist
EssenSchlafenWeinenLieben
Mutter zittert
hört mich nicht
Mama will
ich sagen und
denke es nur
Nur Stille
kommt aus mir
Und Schluchzen
aus Mutters Kehle
Also gehe ich
wieder ins Bett
und suche
nach einem
Griff in der
Dunkelheit

Oktober 1992
Kontext

Nähnadeln in
die Armbeuge
drei oder vier Stück
Tief hinein
Hallo Schmerz
Leben ist
endlich erträglich
Zigaretten ausdrücken
auf nacktem Bein
betäuben mit
Southern Comfort
Nieren heiß wie
Herdplatten und
eingewickelt in
Stacheldraht
Aber mir
kann ich nicht
entfliehen

Oktober 1992
Kontext

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