Lyrik 1991-2

Willkommen im Lyrik-Archiv des Jahres 1991. Und zwar im zweiten Teil. In diesem Jahr habe ich so viel geschrieben, dass es zu viel ist für eine Seite. Hier ist die Übersicht aller Lyrischen Kurzprosa im Teil 2. Alle Texte sind hinter den jeweiligen Ausklappboxen abgelegt. Lasst gerne einen Kommentar da. Solange Hass und Häme draußen bleiben, sind sie mir willkommen. Traut Euch. Danke!

Ich liebe
und staune
Ich liebe
und warte
Ich liebe
und trinke
Ich liebe
und rauche
Nichts passiert
Kribbeln steigt in den Kopf
fällt schlagartig wieder
in meine Füße
Tausend Mal hin und her
Ich denke an jemand
kann ihn nicht halten
Ich denke
und verliere
Ich rede
und verliere
Ich liebe
und verliere

September 1991
Kontext

Am Ende
meines Lebens
werde ich ein Buch
schreiben und
ratlos darin blättern
in den Spiegel sehen
und die Frage stellen
was ich da gerade
gelesen habe
Es muss sich
um Fiktion handeln
Wer waren die
ganzen Leute
Was wollten
die von mir
Und wer hat
diese Figuren
in mein Buch
gelassen

Oktober 1991
Kontext

Der Tag
geht zur Neige
Es wird dunkler
Dunkler als üblich
Pechschwarz
Bin nicht sicher
ob es noch mal
hell werden wird
Vielleicht haben wir
die Schwärze in den
Tag geatmet
Lieber werde ich
hier sitzen und
Kaffee trinken
Darauf warten dass
jemand das Licht
in der Kneipe
ausknipst
Und das Leben
der anderen

Oktober 1991
Kontext

Siebzig Jahre
auf diesem Planeten
sind im Nu vorbei
Deine und meine
Sechs Jahre davon
sind wir Kumpels
Eines Tages trennen
sich unsere Wege
verlieren wir unsere
Gemeinsamkeiten
Nicht schlimm
nicht schmerzfrei
aber nicht
schlimm
Wir kennen uns
praktisch nicht
meinen nur uns
zu kennen
flüchtig
wie alles

Oktober 1991
Kontext

Du
aschfahl im Sarg
Weißes Hemd
all die Jahre
Hass Liebe Nichts Warten
Musste das sein
Verloren ohne es
gekannt zu haben
Ich ein Stück
von Dir aber
Du keines von mir
Nebeneinander
so war unser Leben
Miteinander
kannten wir nicht
Füreinander
war ein Traum
Ohne den anderen
ist es nun

Oktober 1991
Kontext

Lebt
aneinander vorbei
Seht
aneinander vorbei
Hört
aneinander vorbei
Haltet fest
die unwichtigen Dinge
Geld
Fernbedienung
Autoschlüssel
Urlaub
Verdrängt
um nicht zu ertragen
Hasst
um nicht zu lieben
Lacht
um nicht zu weinen
Redet
um nicht zu schweigen

Versucht nicht
zu überleben

Oktober 1991
Kontext

Kann ich es
ungeschehen machen
Dich wiedererwecken
all die Dinge tun
die wir versäumten
Waren wir Vater und Sohn
Niemand hat uns
Zeit gelassen dafür
Jeden Tag
eine Rechnung
Wegezoll
Zinseszins
Wir haben bezahlt
und sind in
den Miesen

Oktober 1991
Kontext

Bring Leistung
Bring Schweiß
fordern sie
Früh
Spät
Nacht
Schicht
Bleib länger
wollen sie
Überstunden
Früh
Spät
Nacht
Schicht
Gib alles
Vergiss
das Leben
Der Nächste steht
vor der Tür und
er will uns sich
geben
Also gib mehr
von allem
Bring deine
Zukunft

Oktober 1991
Kontext

Schlimmer als der Tod
ist das Leben
das man führt nach
dem Zerfallen des Vaters
dem Versagen der Mutter
dem Verschwinden des Vertrauens
dem Verblassen der Zuversicht
der Wucht von Enttäuschung
dem Sprießen von Hass
dem Erkalten von Mitleid
Die Zeit ist um
für den Rest
des Lebens

Oktober 1991
Kontext

Oben im dritten Stock
Ein Kind lehnt
am Heizkörper
schaut herunter
Wenn ich hochgucke
versteckt es sich
Ich sehe wieder hoch
Es versteckt sich
kommt wieder hervor
Wir spielen das Spiel
Dann wird es geholt
Von einer Schwester
denn ich stehe
vor dem Krankenhaus
Ich hoffe
es wird leben
Das Fenster
bleibt leer

Oktober 1991
Kontext

Ich weiß
was ich bin
Herbstwind
Man sieht ihn
wenn er Äste bewegt
Haare zerzaust
Jacken flattern lässt
Blätter umhertreibt
Er kann auch
Dächer abdecken
oder still sein
Er kühlt und sorgt
für klare Gedanken
Greifen kann man
ihn nicht
Ruhelos
streift er
übers Land
auf der Suche
nach Heimat

Oktober 1991
Kontext

Sobald wir
eine Prüfung
schaffen
kommt die nächste
Ohne Prüfung
kein Abonnement
für die Zukunft
An den meisten
Prüfungen sind wir
selbst schuld
Als fast komplette
Idioten scheitern wir
irgendwann an uns
Machen uns gerne
das Leben schwer
Die Prüfungen
werden härter
wie auch wir
blöder werden
Wir hoffen auf
einen anderen Planeten
Dabei schaffen
wir es nicht mal
unser Haus zu löschen
Niemand wird uns
gnädig sein

Oktober 1991
Kontext

unsere
Hände nehmen
Augen sehen
Zungen spüren
Lass uns
ehrlich sein
leben
lachen
und weinen
Lass uns
wachsen
streiten
uns versöhnen
Lass uns
uns selbst lieben
lass uns Liebe spielen
für ernst nehmen
Lass uns gehen

Oktober 1991
Kontext

Sehen sie
sagt die Frau
habe bis drei Uhr
Licht in der Küche
Hinterhof
Aber die Asylanten
Aussiedler
Das Gesocks
alle wohnen in
Eigentumswohnungen
Aber hier bei uns
das Haus total verkommen
Hausbesitzer ist
bestimmt ein Jude
sagt sie
Muss mich schämen
Deutsche zu sein
Würde ihnen gut tun
sich zu schämen
sage ich und stopfe
Briefe in die Schlitze
… zczsynski steht auf ihrem
Klingt ziemlich
deutsch

November 1991
Kontext

Welch Anblick
güldner Stern
am Firmament
Dein Lachen
Ströme von Glück
Schöner als Scheherezade
Errette mich aus
dem Dunkel enger Welt
Begnadige mich
erhebe mich
Lass mich Anteil haben
an deinem Licht
Holdes Mädchen
flehe ich
Red‘ keinen Scheiß
schnauzt sie mich an
Putz dir die Füße ab
und spül das Geschirr

November 1991
Kontext

Eine Duftnacht
Schlafender Riese
unter Mondlicht
Sonne ist irgendwo
jedenfalls nicht hier
und nicht jetzt
Vögel sind erstarrt
Der Menschen
Augenglanz erloschen
Monsterkatzen aus
der Tiefe streifen
umher und töten
Jedes zarte Beben
kann den Riesen
erwecken und
im kalten Mondlicht
ohne Barmherzigkeit
seine Einsamkeit
in Wut wandeln
Gnade uns
die wir alles
belächeln

November 1991
Kontext

Am offenen Fenster
Musik von irgendwo
die mich berührt
nachts um halb drei
Die Dunkelheit ist
erholsamer Freund
oder grausamer Feind
Kühler Wind von West
streift mein Gesicht
nimmt den Rauch
der Zigarette mit
Dort unten eine Gestalt
bläst eisigen Hauch
ins warme Leben
Kapuzenmantel und
leuchtend blaue Augen
Sense auf dem Rücken
Komm
ruft er

November 1991
Kontext

Mutter mit Selbstliebe
voller Hass auf
liebende Mütter
zieht Söhne über
den Platz zum Brunnen
der für Liebende ist
fordert Raum für
Selbstliebesöhne die
mit Hass einen anderen
schubsen treten
dessen liebende Mutter
schreit und die
selbstliebende Mutter
voller Hass attackiert
deren Söhne weinend
der selbstliebenden
Mutter helfen bis
ein liebender Vater
kommt und sich
eine einfängt aus
Hass oder Liebe
Bin mir nicht sicher

November 1991
Kontext

Der Schatten
ist endlich da
samtweich
sinkt herab
bringt Frost
Kristalllungen
Gefühlserosion
Angstsäulen
im Pantheon
der Einsamkeit
nimmt er
alle Kraft
Wir sehen
der Schatten
ist das Leben

November 1991
Kontext

Nacht
Drei Uhr
Vollkommene Schwärze
Der Mond ist
gestorben verblasst
Irrlichter dampfen aus
dem Boden formen
wirre Geister
feuertanzend auf
schwarzen Gleisen
frische Nachtluft
inhalierend
ans verkorkste Dasein
erinnernd
ausspeiend
was übrig ist
vom kalten Leben
Niemand tanzt
alles schläft
Nur ich nicht

Dezember 1991
Kontext

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