Lyrik 1991-1

Willkommen im Lyrik-Archiv des Jahres 1991. Und zwar im ersten Teil. In diesem Jahr habe ich so viel geschrieben, dass es zu viel ist für eine Seite. Hier ist die Übersicht aller Lyrischen Kurzprosa im Teil 1. Alle Texte sind hinter den jeweiligen Ausklappboxen abgelegt. Lasst gerne einen Kommentar da. Solange Hass und Häme draußen bleiben, sind sie mir willkommen. Traut Euch. Danke!

Ich hörte
Weine nicht
sei ein Mann
Klage nicht
sei kein Weib
Ignoriere Schmerz
sei wie Eisen
Also
ignorierte ich
jammerte nicht
weinte nicht
steckte Prügel ein
verschloss mich
warf den Schlüssel fort
Junge
Das war scheiße
Jetzt ging es erst
richtig los

Januar 1991
Kontext

Am Ende der
Unterarme hängen
fünf Glieder
Meistens
Greifen nach Nasen
Spielzeug Lippen
Brot Felsen Brüste
Glied und Waffen
Autoschlüssel Geld
Macht und Leben
Greifen nach
dem Tod
Vergessen
streicheln
und Zartheit
Vergessen sich selbst
Deuten auf
das Ende
Egal wie wir
sie drehen

Januar 1991
Kontext

Lärm
im Kopf
Kreischen
Bohren
Sägen
Fräsen
Ein Instrument
wird getestet
In mir
von links nach rechts
hoch runter
Ich bin ein
ewiges Echo
Nackt im Permafrost
Notruf
SOS
Nein
Bleibt weg
Kommt nicht
Ich weiß nicht
wo ich bin

Januar 1991
Kontext

Sitze in der Kneipe
trommle mit Fingern
auf den Tisch
dann mit Füßen im Takt
Minuten später
Aschenbecher auf
Marmorplatte zertrümmern
Musik in meinen Ohren
Wirt kommt
Stuhl auf seinem
Rücken zerbrechen
Nächster Stuhl
Richtung Gäste
Die Brut flüchtet
Polizei kommt
Alles in allem
ein gelungener Abend

Februar 1991
Kontext

Muss mich
zusammenreißen
um nicht alles
einzureißen
Mich unter
Kontrolle bringen
Kontrolle verlieren
ist verboten
gehört nicht zum guten Ton
Verletztheit Zweifel
sind das Allerletzte
Mundwinkel nach
oben biegen
Das Grauen
Wen interessiert schon
das Grauen
Darf man was sagen
Nein
Es muss genug sein
mit dieser
Belästigung unseres
schönen Lebens

Februar 1991
Kontext

Liebe
Eine brotlose Kunst
Dachte ich
Wie schlechter Wein
getrunken in
schlechten Zeiten
Voller Ängste
und Neurosen
Was blieb übrig
Erwartungen
Ansprüche
Enttäuschungen
Leerlauf
Bullenscheiße
Nix gelernt
Götter lernen nicht
sagen andere
Noch mal
Bullenscheiße
Deswegen gibt
es sie nicht mehr
Nix gelernt
So ist das mit
der Liebe
Man muss
lernen

März 1991
Kontext

Gedanken wie
japanische Tiefflieger
Tora Tora Tora
Ideentorpedo
einen nach dem
anderen und rasant
Bilderblitze und
Blitzbilder grell
keine Stimmen
aber Donnergrollen
in Wolkenbänken
aus Neuronen unter
vibrierender Kopfhaut
mit elektrischen Fingern
die zwischen die
Menschen greifen
um Halt zu finden
wo es keinen
Halt geben kann
Mein Kopf
ist Strom

April 1991
Kontext

Ich war
schon mal hier
Für Stunden
Oder Jahre
Erinnerungen wie
abgebrochene Äste
im Herbststurm
Mein bisheriges Dasein
mein bisheriges Sein
wiederentdecken
an diesen Orten
nicht viel mehr als
ein fehlerhaftes Puzzle
Ich denke an
diesen oder jene
Damals bedeutend
und vertraut
heute sich auflösender
Nebel in der
Mittagssonne und
Stille überm Land
Weiterfahren
ist das Beste

Juli 1991
Kontext

In Wyoming
fühlt sich die Seele
auch nicht anders an
Ruhe ist nicht vorhanden
Kommt in seltenen
Augenblicken
Manchmal
Man ist nicht mehr
der eigene Herr
Alles stürzt
ins Weite
ins Leere
Mühsam errichtete
Liebe und Abhängigkeiten
brechen anstandslos ineinander
Ich finde den Grund nicht
Es muss ein Ende haben
Sonst endet es kläglich

August 1991
Kontext

Ein See
Am Horizont
schneebedeckte Gipfel
Wälder Himmelsblau
Rocky Mountains
soweit das Auge reicht
Brummen und Summen
Fische springen
schnappen Fliegen
Käfer torkeln über
Stock und Stein
Ich hingegen
bin wie Krebs
im Garten Eden
Alles Grün stirbt
um mich herum
Ein Streifenhörnchen
blickt her
und vergisst mich
sogleich

August 1991
Kontext

Ist es der letzte Kuss
den wir wechseln
wenn ich wieder da bin
Der Kuss
der alles besiegelt
der Kuss
der das Schloss
zu unserem Sarg ist
Ein Wiedersehen
und danach
Abschied auf ewig
Kann es sein
dass wir uns
in die Augen sehen
und denken
es war einmal schön
Jetzt kann es nur noch
bitter werden
für uns zwei

August 1991
Kontext

Nimm ein Blatt Papier
und zerreiße es
der Länge nach
So erwache ich
jeden Tag
Die eine Hälfte
steht auf
die andere klebt an
der Matratze
Die eine Hälfte
mag mich
die andere
dreht sich wieder um
Die eine Hälfte
liebt dich
die andere möchte
dich vergessen
Hat man schon
mal gehört dass
ein Baum ohne
Wurzeln grün
wird

August 1991
Kontext

Wir in der Illusion
ab dem ersten
Öffnen der Augen
Im Gespinst von
Glauben und Hoffnung
Ignoranz und Arroganz
Von 8 bis 16.30 Uhr
Von Morgenrot
bis Abenddämmerung
Von Frühstück
zum Fernsehbier
Bis Blut fließt oder
Flüsse austrocknen
Bis Kinder sterben oder
wir auf den Straßen
leiden verblassen
Staub werden
Glaube Illusion
die besten Lügen
die es zu erfinden galt
um zu überleben

August 1991
Kontext

Ist das Liebe
Oder kann das weg
Der Berg Unrat
zwischen Herz und Leber
Deponie der Erwartungen
Resterampe für
Glückssekunden
Eine Halde voll
leerer Worthülsen
Wie kann es sein
dass so viel Nutzloses
in den Leib passt
aber kaum eine
Flasche Whisky
Emotionen wiegen nichts
und sind doch schwer
wie der ganze Planet
Ich muss mal
wieder entrümpeln
sonst schaffe ich
den Weg vor mir
auf keinen Fall

August 1991
Kontext

Wir beide im Auto
Stunde um Stunde
Nichts da draußen
Weder Schilder
noch Städte Dörfer
oder andere Autos
Keine Menschenseele
Es wird Nacht und Tag
und wieder Nacht
Der Horizont in
unnahbarer Entfernung
Alles normal
sagen wir uns
Weder Hunger
noch Durst
Kein Regen nur
die pralle Sonne
Ewige Dürre
Alles normal
sagen wir uns
und fahren
Lächelnd

September 1991
Kontext

Schönes Lagerfeuer und
unsere Witze unterm
Himmel von Wyoming
Dann ein Raumschiff
Landet einfach neben uns
Unmengen Menschen
steigen aus laufen
in alle Richtungen
Nackt
Keine Sorge denkt
eine Stimme in
unseren Köpfen
ein Schwung Verurteilter
Lebenslänglich
Hysterisches Lachen
im Kopf
Das Lagerfeuer erlischt
nur noch Rauch
das Schiff startet
Die Nackten sind
verschwunden

September 1991
Kontext

Das Land der Freiheit
spricht mit gespaltener Zunge
Man sieht den Dreck
unter den Fingernägeln
an jeder Ecke
Aus dem Flugzeug erscheint alles
wie Gottes letzte Tat
Im Auto sitzend
bestaunt man die unbeschreibliche Größe
und Vielfalt der Natur
Doch so groß wie die Natur
so klein ist die Seele
der meisten Einwohner
Nirgendwo sind die Fassaden
so dünn und brüchig wie hier
Unter einem dünnen Boden
aus Hamburgern
Marines
Air Force
Wall Street
Popcorn
und staatlichen Monumenten
verbirgt sich eine
stetig wachsende Deponie
von zerstörten Existenzen
Mehr als erwartet
sieht man hier
Menschen ohne jegliche Chance
ohne Stolz
Der amerikanische Weg zu leben
mag groß und einzigartig sein
Der amerikanische Weg zu sterben
ist noch viel einzigartiger

September 1991
Kontext

Der Tod
klebt im Teppich
an der Wand
Rot und krustig
Ich sitze angelehnt
am kaputten Putz
in leerer Wohnung
schaue auf ein Kind
ohne Bett Decke Wärme
Es liegt da und schläft
ist schwarz klein süß
Liegt einfach da
und schläft neben
seiner Mutter
zwischen Flecken
auf dem Dreck
und schaut aus
wie das letzte Licht
dieser Welt

September 1991
Kontext

Bus nach Manhattan
Grand Central Expressway
Brooklyn wie Blade Runner
Queenstunnel
Grand-Central-Station
Klimatisierter Bus
Hitze in Häuserschlucht
Taxifahrer ist Kreole
kaum Englisch er
kein Spanisch ich
91ste Straße West 324 Klingel 9
Seine Frau hat nen
anderen gebumst
Ihr Onkel hat den
anderen erschossen
sagt er und versucht
geradeaus zu fahren
Endlich am Ziel
Bleiben Sie nicht stehen
Ist gefährlich hier
sagt er

September 1991
Kontext

Im Flugzeug
Hinter mir
Franzose Deutsche Engländerin
Verstehen sich mäßig
Rechts unten Boston
sagt der Pilot
Hinten Quatschen
Lachen Kreischen
Mauerbau
Mauerfall
de Gaulle Churchill Adolf
Reagan SDI Paris
Eisbein mit Sauerkraut
Ich denke an Mord
Unten der Nordatlantik
sagt der Pilot und ich
winke die Stewardess herbei
Kann ich die Drei aus
dem Flugzeug werfen
will ich wissen
Sie grinst
Noch 5000 Kilometer

September 1991
Kontext

Auf dem Gang steht die Stewardess
mit zwei Gläsern Orangensaft in der linken
und einem Kaffee in der rechten Hand
Und als sie losgeht
schwingt die Klotür auf – sie läuft dagegen
Die zwei Gläser Orangensaft
fliegen meinem Vordermann auf die Hose
der Kaffee ihr an die Bluse
er scheint sehr heiß zu sein
So etwas sieht man in der Regel nur im Film
Fünf Minuten später
geht ein hübsches Mädchen auf das Klo
und schließt nicht ab
Ein Fünfjähriger kommt
macht die Tür auf und
da steht sie
in ihrer jugendlichen Herrlichkeit
Sie hat alle Hosen noch unten
und rückt ihren BH zurecht
Sie ist wie angewurzelt
starrt heraus
die fünf Reihen rechts glotzen hinein
und das alles 12 Kilometer
über dem Atlantik

September 1991
Kontext

Lexington Avenue
dunkle Gestalt im Schutz
zweier Blechmülltonnen
verrichtet Groß und Klein
Rinnsal in Schlangenlinien
Der Haufen stinkt
Runter in die Metro
Vierzig Grad
Alles schwitzt
Die 6 aus der Bronx
Schwarze Frau im Abteil
wankt lallt bittet
um Geld und ein Lächeln
Werfe 5 Dollar rein
Wir bremsen
Sie fällt blutet wimmert
Türen gehen auf
Security schleift sie hinaus
legt sie an der Wand ab

September 1991
Kontext

Wir überqueren
die Tag-Nacht-Grenze
Am Horizont sticht
wie eine kleine Nadel
die Sonne
über die Erdwölbung
Wir rennen in den neuen Tag
Dienstag 13ter August 1991
Bereit für die letzte Schlacht
können wir verlieren
wie die Nacht den Kampf
gegen die Sonne verliert
Unaufhaltsam
Für uns ist es die letzte Schlacht
Gewinnen oder verlieren
Verlieren wir
dann für immer
Kein Zurück mehr
Gewinnen wir
dann nur die Schlacht
nicht das Leben

September 1991
Kontext

Bin jetzt Briefträger
Bezirk 1023
Stehe vor dem Haus
der Biertrinker
Im Hausgang Bier
Bierflaschen Bierlachen
und Bierleichen
kaputte Kinderwägen
zerstörte Briefkästen
Klingel drücken und
einen Schritt zurück
Tür geht auf
Luft anhalten
Zerfurchte Gesichter
Kinder auf Arm und Boden
Hunde müde Männer
Zustellungsurkunde
bitte unterschreiben
Sie tun alles was ich
sage oder nicht sage
selbst lächeln

September 1991
Kontext

Unterstützung durch Crowdfunding

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