Lyrik 1989 | 1990

Willkommen im Lyrik-Archiv der Jahre 1989 und 1990. Hier ist die Übersicht aller Lyrischen Kurzprosa. Alle Texte sind hinter den jeweiligen Ausklappboxen abgelegt. Lasst gerne einen Kommentar da. Solange Hass und Häme draußen bleiben, sind sie mir willkommen. Traut Euch. Danke!

Von Flasche zu Flasche
von Glas zu Glas
von Schluck zu Schluck
von Schweigen zu Schweigen
lausche ich den Stimmen
von Zuversicht und Hoffnung
von Freundschaft und Liebe
alle mit vollen Gläsern
vor ihren Köpfen
und beiden Händen auf
dem Thekenholz
Uns trennt also nur
der Füllstand der Gläser
und die Sicht auf
den gleichen Misthaufen
Eines noch trennt
mich von ihnen
Sie jammern und
ich schreibe
Macht es
nicht besser

Januar 1989
Kontext

Du bist weg
Weit weg
Ich lebe
Umwerfend
Ein Foto ist nötig
um zu wissen
wie du aussiehst
Traurig und wahr
Bist du wieder da
schlagen wir uns
die Köpfe ein
oder du springst
aus dem Fenster
Aber wir lieben uns

Mai 1989
Kontext

Vom Tal hoch
höre ich Autos
Kirchenglocken
einen Zug
Hier oben
knarren Buchen im Wind
Schön zu sehen
wie sie grün werden
Und es schmerzt
wenn sie ergrauen
vor uns sterben
Weil wir unser Leben
verlängern wollen

Mai 1989
Kontext

Ist mir zu still hier
Kann nicht vergessen
Der Tag schmerzt
und kein Gegenmittel
Kann nichts tun
Das bringt mich um
Hoffe
etwas bleibt übrig
um sagen zu können
dass ich dich liebe

Mai 1989
Kontext

Kneipe
Kumpels
Freunde
Freundinnen
Lachen
Witze
Fassade vorher
geduscht und
gebürstet
Toll Super Astrein
Arbeit Urlaub
Fernseher neu
Politik scheiße
Trinken und auf
Schultern klopfen
Nach Hause gehen
Allein
Nichts geschieht
Nur Tränen
hinten im
Bus

Mai 1989
Kontext

Wenn ich schreibe
trete ich über
in einen anderen Kosmos
Gedanken Muskeln Hand
sind eigene Personen
Wille ist Nebelmeer
Steuerloses Schreiben von
Worten aus einem
Tiefseegraben voller
Eiseskälte
Die andere Seite von
Leben und Wärme
Dort unten existiert
nur Druck
Tausende Tonnen
Erinnerungsfetzen
Emotionale
Entropie

Mai 1989
Kontext

Mich wehren
Dagegen stemmen
Verdrängen und
weit weg schieben
In Southern Comfort
ertränken aber
ich kann dich
nicht vergessen
Ich muss
an dich denken
Ich habe Angst
vor der Zeit wenn
du aus meinem Kopf
verschwunden bist mein
Herz verlassen hast
es dich nicht mehr gibt
Ein erloschenes Feuer
im Frühnebel

Mai 1989
Kontext

Gestern hast Du
etwas getan und
ich habe gedacht
dass es da oben
im Himmel gar
nicht so schlecht
sein soll
Aber Feigling
der ich bin
bleibt es Gedanke
Im Gegenteil
Ich fühle mich
seltsam wohl
in diesen Momenten
eiskalt zu sein
tränenlos
Und doch werde ich
auf dich warten
Warum

Juni 1989
Kontext

Ich starre auf
den Fernseher
lasse einen ziehen
Mir wird schlecht
laufe zum Klo
und kotze
Unordnung
Menschenreste
Worthülsen
tote Mitgefangene
ein Lächeln
Wahrscheinlichkeiten
von besserer
Welt
Spülung ziehen
Statt Wasser
kommen Tränen
kommt Blut

Juni 1989
Kontext

Mir ist so kalt
dass beim Kratzen
zwei Finger abbrechen
Da liegen sie
Noch nicht mal
Blut ist zu sehen
Einfach liegenlassen
Wer nimmt
nun mein Herz
Noch nicht gefroren
aber auf dem
besten Weg dorthin
Wer hat den Schlüssel
zum Leben denn
die Welt gehört mir
aber ich nicht
der Welt

Juni 1989
Kontext

Füße hochgelegt
fertig mit der Arbeit
Zigarette auf Zigarette
verglimmt in meiner Hand
Vorbeifahrender Zug
Öffne ein Bier
trinke halbleer
Bin ich hier
oder im Alptraum
Schließe die Augen
und versinke in Kälte
Öffne sie wieder
Neonlicht erdrückt mich
ersetzt die Sonne
Also nächste Zigarette
und warten auf
die Frühwaggons

Juni 1989
Kontext

Kommst Du
bist Du nicht da
Komme ich
siehst Du einen Traum
Hörst Du mich
verstehst Du nicht
Berührst Du mich
habe ich Angst
Liebst Du mich
sehe ich nichts
Schlafen wir zusammen
werden wir wach
Rufe ich Hilfe
verstehst Du Bahnhof
Sagst Du Abfahrt
denke ich an Endstation

Juni 1989
Kontext

Warten auf Hände
die nicht schlagen
Warten auf Sinn
der Sinn ergibt
Warten auf Hoffnung
die am leben bleibt
Warten auf Liebe
zu sich selbst
Warten auf Befreiung
vom eigenen Hass
Warten auf Verachtung
fürs verachtet werden
Warten aufs
Gesehen werden

Juni 1989
Kontext

Surfen
das zählt
Spaß Mädchen Party
sagt er
Cowboystiefel von Karstadt
Türkei war super
Da muss ich noch mal hin
So ärmlich da
kannst du dir nicht vorstellen
Bauchtänzerinnen Möpse
Nächste Woche Südafrika
Johannesburg Kapstadt
sagt er
Wo die Schwarzen
erschossen werden
Schuhsohlen essen
sage ich
Er zeigt weiße Zähne
Leben und sterben
so ist das auf der Welt
sagt er

Juli 1989
Kontext

Bushaltestelle
nachts halb drei
die Hölle los
Ich sitze auf der Bank
Mann rechts von mir
im blauen Schlafsack
Flasche Wein im Arm
Leer
Gute Nacht sage ich
Er guckt hoch
Gib ma‘ Kippe
Das tue ich
zünde sie ihm an
Fünf Mal ziehen
Leer
spuckt sie aus
und schläft
Alle Achtung

Juli 1989
Kontext

Es gibt Tage
da stehen wir auf
oberster Treppenstufe
lachenweinenschreien
oder werfen uns
uns auf die Gleise
Personenschaden
oder kniend vor der
Kaufhalle einen Finger
abschneiden in die
Menge werfen
und nicht wundern
dass ihn jemand
einsteckt und als
Schlüsselanhänger
benutzt

September 1989
Kontext

Stau
Eigentümliches
vor dem Busfenster
Ein prachtvoller
Kirschbaum blüht
als ginge es
um sein Leben
Tut es vielleicht
Drunter Menschen
Schon verblüht
die meisten jedenfalls
Mein Denken wird rosa
Frühlingsfühlen im Bauch
Und ein Schwarm
Bienen im Nektarrausch
Niemand im Bus
sieht den Baum
hört das Summen
Nur Verblühte hier
Stau löst sich auf
Meine Hand geht
zur Sonnenbrille

Mai 1990
Kontext

Neben mir
im Bett
das Telefonbuch
Aufgeschlagen
Buchstabe F
Was ist passiert
Mit mir und
dem Telefonbuch
Haben wir uns
geliebt
Waren wir
zärtlich
Du das einzige
Telefonbuch
in meinem Leben
Vielleicht sollte ich
es gegen einen
Aktenordner tauschen
eine Brotdose
oder gegen
nichts

Mai 1990
Kontext

Frieden
neben dunkelgrün
bewaldeten Hügeln
am stillen Fluss
mäandernd durch
summende Auen
unter azurblauem Zelt
getragen vom Flattern
und Singen der
Lerchen
So liege ich
am Fuß des
roten Mohns
und lausche
dem zitternden
vibrierenden Boden
wie er schwitzt
vor Gift und Blut
vor Neid und Hass
vor Ignoranz
Die Demagogen
im Erdreich sind
unsterblich
Inbrünstig alles
verachtend was nicht
wie Ihresgleichen
denkt und lebt

Mai 1990
Kontext

Lichtgrau
Flammenkälte
Betrunkene Klarheit
Fluten in denen ich
nicht untergehe
Ich muss
sehen
hören
riechen
atmen
essen
trinken
Lichter der Stadt
grelle Existenzen
klauen Sternen
das Leben

Juni 1990

Kleines Wäldchen
Hirsch erdrosselt sich
im jungen Blattgrün
Baum will sterben
Igel wälzt sich
in Stacheln zu Tode
Weiß nicht
Sommer
Winter
Herbst
Wann
Mein Horizont
2 m² Fenster vor mir
Unten auf Straße
Wanderratte verfolgt Katze
Kein guter Film
heute

Juni 1990
Kontext

Im Spiegel ankotzen
In hohle Hand spucken
‚Liebe‘ an Wand schmieren
Pflanzen ausreißen
Feuer in Badewanne machen
Ich bin die
lebende Fackel
Idioten anrufen
mich einpissen
Lachen
Weinen
Beides
Fünfter Stock
Fliegen geht nicht
Lachen
Weinen
Genau so

Juni 1990
Kontext

Das endlose Tuten
im Telefon
ist wichtig
Es bedeutet
du lebst noch
Das Herz schreit Hallo
Keine Antwort
Konfuzius ist scheiße
denn alles ist konfus
kaputt
Das endlose Tuten
im Telefon
Niemand hebt ab
Nicht mal der Teufel
Wieder und wieder
probierst du es
Nichts
Konfuzius weiß
es ist deine Zeit
zwischen Geburt
und Tod

Juni 1990
Kontext

Das Zimmer kahl
Fenster verschlossen
Straße ist laut
ihr Lärm unerträglich
erschüttert bis ins Mark
Auf dem Boden
Zeitungsausschnitte
hässliche Fratzen
Kinder im Krieg
Frösche nach Atomunfall
Menschen aus Liebe
getötet
Das Mittelalter
ist immer noch
nicht vorbei
Die Inquisition auf
ihrem steten Höhepunkt
Geh nicht raus
sagt sie und
weint um das
bisschen Leben
Doch ich muss
sterben gehen

Dezember 1990
Kontext

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