Der Schoss aus dem das kroch ... ist der Titel des Artikels und steht in dunkelblauer Schrift auf hellblauem Untergrund.

Der Schoß aus dem das kroch

Von 1964 bis heute

Störungen

Inkonsistente Welt

Opas Fernseher war mein Fenster in die Welt. Opa konnte nur noch halbtags arbeiten, wegen einer (wie man heute weiß und gut erforscht hat) Posttraumatischen Belastungsstörung und zwei Minuten ohne Sauerstoff in einem zugeschütteten Granattrichter. Opa war bei den Panzern in Russland bis 1943, wurde nach Italien verlegt (Monte Cassino und später Bologna). In Opas Kopf lebte der Krieg weiter (aber das ist eine andere Geschichte). Jedenfalls erklärte er mir die Welt über den Fernseher. Auslandsjournal, Peter Scholl-Latour, Vietnam, Sechs-Tage-Krieg, Yom Kippur 1973, Palästina, Palästinenser, Al Fatah, Jassir Arafat und vor allem München 1972. Opa sagte, dass die Linken die Terroristen unterstützen, also die PLO. Und Flugzeuge entführen und Juden in den Flugzeugen bedrohen und überhaupt eine Menge schlimme Dinge tun. Das fügte sich nicht in mein bisheriges Bild. Es gab mal Nazis bei uns, die hatten Juden ermordet. Ich darf keine Judenwitze machen. Nur Linke sind gute Menschen. Und Linke unterstützen Menschen einer PLO, die Juden ermorden? Sagte Opa. Irgendwas stimmte da nicht. Aber wen konnte ich fragen?

Angstjahre

Neue Dimensionen

Aber dann bekam das Grauen drei Dimensionen. Im Januar 1979 sendete die ARD in allen dritten Programmen die vier Teile der Miniserie ‚Holocaust‘. Ein Schlag ins Gesicht. Mitten rein. Und DAS Thema in der Schule. Wir waren fünfzehn und fragten. Diskutierten in der Pause, nachmittags beim Schach, im Training, am Frühstückstisch. Es war Thema beim Geburtstag von Vaters Chef, zu dem wir immer eingeladen waren. Plötzlich trennte sich gut sichtbar die Spreu vom Weizen. Nicht wenige dieser alten Herren waren in wichtigen Funktionen im Dritten Reich gewesen. Und jetzt saßen sie mit am Tisch, droschen die Phrasen. Aber nun stand den Phrasen etwas gegenüber. Unsere Fragen und die Serie Holocaust. Ich ging in die Bücherei, fragte die junge Bibliothekarin nach zeitgeschichtlichen Werken zu dieser Zeit und suchte in Buchhandlungen danach, kaufte mir die Bücher selbst oder bekam sie zu den Feiertagen geschenkt. Auch von meinem Opa. So kam ich schnell zu William L. Shirers ‚Aufstieg und Fall des Dritten Reiches‘ oder Eugen Kogons ‚Der SS-Staat‘. Ich dachte, nein, fühlte, in eine andere Welt einzutauchen. DAS hätten wir in der Schule lernen sollen! Die Sprüche der Politiker im Fernsehen zu den Ereignissen im Dritten Reich bekamen zwar einen Sinn, aber … sie passten nicht zu dem, was ich im Alltag erlebte. Da denke ich an meine Oma, mit der ich in Hamburg in der U-Bahn saß und die auf ein Werbeplakat starrte in irgendeiner Station, auf dem ein Mann mit großer Nase lächelte. ‚Das ist ein Jude. Siehst du die große Nase? Alle Juden haben große Nasen. Daran wirst du sie immer erkennen‘. Mit fünf Jahren war mir nicht so ganz klar, warum ich Menschen an ihren Nasen erkennen sollte, aber ich habe sicher mit dem Kopf genickt und ‚Ja, Oma‘ gesagt. Und die Verkäuferin, die genervt auf das Abzählen von Groschen wartete in einem Tante-Emma-Laden. Als der alte Mann draußen war, sagte sie zu mir im badischen Dialekt: ‚Des war b’stimmd en Jud‘, was mir ein Fragezeichen in den Kopf pflanzte, denn was hatte Groschen zählen mit einem Menschen namens Jude zu tun? Mal abgesehen von den wirklich bösartigen Witzen über Juden, die sich hauptsächlich um deren Auslöschung im Dritten Reich drehten oder dem angeblichen Hang zur Beherrschung der Welt mittels Geld, und die überall zu hören waren (meist hinter vorgehaltener Hand), schärften die Serie ‚Holocaust‘, die vielen Bücher und die Diskussionen mit meinen zwei Freunden, meinen inneren Kompass und meinen Messfühler für Klischees, Vorurteile, Ressentiments und den Hass gegen ‚die Juden‘. Ich entdeckte den Mist auf rechter wie linker Seite. In Menschen, denen ich vertraute und spießigen Idioten. Im mit Nazi-Devotionalien handelnden Handball-Trainer sowie im Vater eines guten Freundes, der keiner Fliege was zu Leide tun konnte. Schon wieder dachte ich, im falschen Film zu sein.

Bodenlos

Und Israel?

Der andere Opa

Die für mich nächste Stufe der emotionalen und kognitiven Eskalation kam, als mein Vater krank wurde im Jahr 1987. Meine Mutter musste umräumen, Platz machen für Pflegeutensilien, Pflegebett. Auf diesem Weg nahm ich auch Ordner an mich, die mein Vater von seinem nächst älteren Bruder bekommen hatte (seit 1982 tot). Nach dem ersten Lesen der Unterlagen, legte ich den ganzen Mist auf die Seite. Mein Leben hatte Schieflage angenommen und in den kommenden Jahren verkraftete ich nicht allzu viel Negatives. 1991 im Januar starb mein Vater und eine seiner letzten Bemerkungen bekam Jahre später ein enormes Gewicht. Im Jahr 1999 wurde mein Sohn geboren und in diesen Minuten des ersten Haltens, meiner staunenden Blicke in die kleinen Äuglein, wusste ich, dass ich eine Aufgabe erledigen musste, die mein Vater vor sich hergeschoben hatte. Eine Woche vor seinem Tod hatte er mir mitgeteilt, dass er gerne gewusst hätte, ob sein Vater, also mein Opa, nun ein Kriegsverbrecher gewesen sei oder nicht. Ich reagierte verständnislos. Dafür hätte er genug Zeit gehabt, sagte ich, was technisch gesehen korrekt war, aber für nicht wenige Menschen in ähnlichen Situationen ein unüberwindliches emotionales Hindernis darstellte. Um nicht in eine ähnliche Situation zu kommen, musste ich alle Antworten finden. Das war meine Aufgabe. Und das tat ich dann. Erneut arbeitete ich alle Ordner durch, sortierte nach Jahren, Kategorien und schrieb Fragen auf. Wer konnte sie beantworten? Eine dreijährige Odyssee begann. Ich traf auf eine Unmenge an Antisemitismus, Rassismus in Reinform, mir wurde gedroht, Briefe und Postkarten kamen, Anrufe die mich veranlassten, eine Geheimnummer zu beantragen (ging damals noch). Es wurde hässlich und auf viel Verständnis traf ich nicht, außer bei den Forschenden in Hamburg (mein großer Dank gilt ihnen!) und den Opfern bzw. deren Nachfahren.

Ich halte mich kurz. Mein Großvater, mein Opa, 1908 geboren (im Januar … irgendwie passiert bei uns alles im Januar), wurde Gärtner, war als Jugendlicher in Verbänden wie dem Jungdeutschen Orden, lernte eine junge Frau kennen, deren Elternhaus ich auch im rechtskonservativen Milieu verorte. Opa trat schon am 01.03.1932 in NSDAP und SS ein (er musste schon zu dieser Zeit Großes und für ihn Wertvolles darin sehen), verlor seine Arbeit als Gärtner 1933, trat in den Justizvollzugsdienst ein als Polizist (Hamburg) am 26.10.1933, kam nach der Ausbildung ins KZ Fuhlsbüttel als Wachmann, heiratete 1935, zog in die SS-Siedlung Tangstedter Landstraße, bekam insgesamt sieben Kinder bis 1945. 1938 ging er nach Berlin ins Gestapa (Ausbildung). Kam 1939 wieder zurück nach Hamburg, ab da in der Gestapo-Zentrale am Holstenglacis. Ist seit Berlin auch im SD. Wird wieder nach Fuhlsbüttel berufen, als Stellvertreter des Kommandanten und wird selbst Kommandant im Frühjahr 1943. Bis zur Räumung von Fuhlsbüttel am 14. April 1945. Flucht nach Schleswig-Holstein. Kehrt nach einigen Wochen zurück, trotz Abratens seitens der Schwiegereltern, weil er gesucht wird. Am Abend der Rückkehr wurde er verhaftet. Bis zum ersten Prozess (Curio-Haus, Hamburg, drei Fuhlsbüttel-Prozesse) ist er in unterschiedlichen Gefängnissen bzw. Lagern. Im ersten Prozess zu sieben Jahren verurteilt. Im zweiten Prozess (September 1947) zum Tod. Wurde am 26.01.1948 nach Hameln überstellt. Dort erfolgte am 29. Januar 1948 die Hinrichtung. Er ist 40 Jahre alt. Eines der Kinder starb 1943. Die Geschichte meiner Großeltern ist angehäuft mit Lügen, Relativieren, Ignoranz, mit den Toten in Fuhlsbüttel, Sozialdemokraten, Kommunisten, Jüdinnen und Juden, queeren Menschen, Swing-Jugend, sogenannten ‚Asozialen‘, allen Menschen, die von ihnen als minderwertig angesehen und dementsprechend behandelt wurden. Auch von meiner Oma, in dem was sie sagte, schrieb, lebte und Kinder erzog. 2003 habe ich die überlebenden Opfer und die Nachfahren derer in Neuengamme während einer Einweihungsfeier getroffen. Busse aus ganz Europa. Tausende von Menschen. Mit der schwerste Tag in meinem bisherigen Leben.

Und jetzt?

Ich hatte also nicht nur meine Unterlagen, auch alle Prozessakten und Aussagen von Zeitzeug*innen, die mich kontaktiert haben nach einem Zeitungsartikel im Hamburger Abendblatt. Ich habe in Hamburg in einer Ausstellung zur Lager-SS die von der Familie für tot erklärte Schwester meines Opas getroffen – rein zufällig, weil sie davon gelesen hatte. Nachfahren von Opas ehemaligen Untergebenen haben mich kontaktiert und wollten Details zu ihren Vätern oder Großvätern wissen. Ich war in Schulen, Volkshochschulen, der Katholischen Erwachsenenbildung, beim Reservistenverband Speyer, mit einer Historikerin bei deren Fortbildungskursen und habe zahllose CDs mit dem Vortrag verschickt. Und in einer zweiten Stufe eine Dokumentation in Buchform über das Leben meiner Großeltern herausgebracht. Alle Dokumente sind parallel zum Buch auf dieser Website zu finden. Mit anderen Worten: Ich habe die Antworten gefunden. Sie sind vielschichtig, komplex und folgen den Persönlichkeiten, den Ideologien, Zeitumständen, Erwartungen, Ansprüchen und dem selbstgewählten Weg beider. Inzwischen ist die Forschung vor allem zu den Tätern der breiten Masse auf die sich das Dritte Reich stützte, sehr weit fortgeschritten. Ziemlich viele Karten liegen offen auf dem Tisch. Für alle einseh- und verstehbar. Dazu zähle ich Standardwerke der Forschung wie ‚Generation des Unbedingten – Das Führungskorps im Reichsicherheitshauptamt‘ von Michael Wildt. Dazu zähle ich Harald Welzers ‚Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden‘. Dazu zähle ich als Grundlage allen Nachdenkens Hannah Arendts ‚Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft: Antisemitismus, Imperialismus, Totalitarismus‘. In den Jahren bis zum Schreiben des Buches, habe ich Unmengen an Wissen eingesogen und eine Erkenntnis trifft mich dabei ganz besonders: Der Antisemitismus, der Antiziganismus, die Diskriminierung, Ausgrenzung und Entmenschlichung – mit einem modernen Begriff: Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit – lebt mehr denn je, ist aktiver und umtriebiger als noch vor Jahren. Ist im Aufwind. Und das durch alle Schichten, durch alle Klassen, durch alle Einkommens- und Bildungslevel, durch das politische Farbenspektrum. Von links bis rechts. Der Kreis zu meinen Kinderjahren schließt sich.

Heute

Jetzt ist 2023, Anfang November. Vier Wochen und zwei Tage nach dem 7. Oktober. Dem Überfall der Hamas auf Israelis und andere, sich an diesem Tag dort aufhaltende Menschen. Mir hat es die Sprache verschlagen. Anders kann ich es nicht sagen. Erst langsam kehren die Worte zurück. Erst langsam kann ich das, was geschah, in das von mir oben Erzählte einsortieren, einordnen. Und besonders schwer macht es mir der Ausbruch an antisemitischem Hass. Damit meine ich nicht die Hamas. Die Hamas ist eine faschistische Organisation, die sich seit ihrer Gründung nicht zu schade ist, kleine und große, junge und alte Menschen, für die sie einzutreten vorgibt, als Schutzschilde zu nutzen, zur Erpressung heranzieht, die Kleinen zu Kindersoldaten formt, einen Trichter in den Kopf steckt und mit Hass füttert, bis nichts mehr übrig bleibt von dem, was Kinder gerne tun würden: einfach Kinder sein und die Welt erforschen. Die Hamas kann nur hassen. Sie erbaut nichts, sie schafft keine Infrastruktur für die grundlegenden Bedürfnisse. Sie setzt Geld, das nach Gaza fließt, um in Tunnel, Waffen, Vorratslager, militärische Ausbildung, noch mehr Waffen, Propaganda und ein gutes Leben für ihre Anführer. Sie macht das, was der IS tat, was die SS tat, was die Religionspolizei im Iran tut, was die Hisbollah tut, Abu Sayyaf, Al-Shabaab oder die RAF tat, oder Anders Breivik oder der Mörder von Christchurch oder die Taliban. Sie alle können nichts erschaffen. Nichts aufbauen. Nichts für die Menschen in der Welt tun. Nicht deren Leben verbessern. Sie können nur zwei Dinge: hassen und töten. Und – aus welchen Gründen auch immer – es gibt eine Menge Menschen, die können oder wollen das nicht sehen. Die sind unfähig, eine zweitausendjährige Geschichte von Verfolgung, Ausgrenzung, Pogromen, Entwürdigung, Herabsetzung bis hin zur absolut endgültigen Auslöschung von auf der Wannsee-Konferenz berechneten 11 Millionen europäischen Jüdinnen und Juden komplett zu ignorieren. Zu ignorieren, dass nach zweitausend Jahren sich Überlebende an eine Jahrzehnte zuvor entwickelte Idee von Heimat erinnern. Sie ignorieren auch, dass die französische Dreyfuß-Affäre erst den Anstoß für diese Idee von Heimat gab. Dreyfuß, ein jüdischer Offizier in einem Heer aus einem Land, das sich Liberté, Fraternité, Egalité auf die Fahne geschrieben hatte und bei seinen Juden kläglich versagte. Die Jüdinnen und Juden mussten es einsehen: Sie waren einfach nicht gewollt. Geduldet, ja. Bis zum nächsten Pogrom. Wie immer. Und dann kommt ein paar Jahrzehnte nach Dreyfuß etwas Unaussprechliches. Eine effiziente, industrialisierte Ausrottung einer Menschengruppe, eines Teils der Menschenfamilie, der sich rein gar nichts hat zuschulden kommen lassen (außer dass auf ihn wieder und wieder Lügen und Horrormärchen projiziert werden). Nachweisbare Lügen. Und wie durch die Jahrtausende, gibt es auch heute genug Idiotinnen und Idioten, die das glauben.

Die üblichen Klischees

Die Menge an antisemitischen Attacken, verbal oder physisch, geht steil nach oben. Desillusioniert musste ich mir eingestehen – vor allem nach meiner Zeit des Nachforschens – dass wir nicht per se immun gegen diesen bösartigen Schwachsinn sind. Dass es genug meiner Landsleute gab und gibt, die wohl nur eine Ausweitung des Aussprechbaren, ein Ausweiten des Handlungsrahmens abwarteten, was dann durch eine Partei wie die AfD, Zusammenschlüsse wie Pegida oder die Identitäre Bewegung nach und nach geschah. Überall schossen die Fackel- und Wasserträger hervor, bildete sich hier ein Institut für Staatspolitik, dort eine lose Plattform für ach so guten konservativen Journalismus, oder formierten sich sektenartige Strukturen wie die OCG oder auch Teile der Querdenkertruppe – und überall finden sich die Klischees aus zweitausend Jahren. Brunnenvergifter, Blut von Kindern trinkende Finanzhaie. Selbst Staatenlenker machen sich diese Lügen zunutze, um zu manipulieren, etwa Ungarn. George Soros (Finanzhai) auf Plakaten, um Angst vor Migration, Bevölkerungstausch und weiteren Schwachsinn zu schüren. Nur ist es dieses Mal nicht ein Land mit einer Partei wie die NSDAP. Dieses Mal ist es ein europaweites Konsortium aus gut vernetzten Denkern, Lenkern und willfährigen Dienern, die clever genug sind, mal keinen Streit um irgendwelche Kompetenzen zu beginnen. Einziges Ziel ist die nationale Macht und am Ende die Auflösung von EU, Abschaffung demokratischer Strukturen und eine Festung Europa unter weißer Vorherrschaft. Und sie sind keinesfalls so plump wie die NPD es über die Jahrzehnte war. Sie formen aus nicht kausalen Umständen eine kausale Katastrophe, füllen sie mit einfacher Logik und können in einer mit Horror überfluteten Zeit einfachste Antworten präsentieren. Aufklärung hat es da schwer, denn Aufklärung fordert von den Menschen Zeit, Muse und Nachdenken. Zeit ist aber inzwischen mehr als Luxus in einer klimakatastrophalen, inflationsgebeutelten Welt mit russischen Raketen im Osten, Stürmen und Wasserkrisen in West- und Südeuropa, dem Reden von illegaler Migration, einem Staat, der nicht hinterher kommt mit allem, was Grundbedürfnisse sind.

Versuche und der Hass

Dann kommt da die Hamas. Dabei ist nicht alles, was israelische Regierungen tun, klug für einen Friedensprozess. Aber ich möchte da an Jitzchak Rabin erinnern, einem Mann, der General der IDF war, Kriege führte und als Ministerpräsident Sichtweisen änderte und Frieden suchte. Hier kommt wieder das Bild von der Blindheit auf den extremen Augen … Rabin von einem religiösen Extremisten getötet. Einem israelischen Staatsbürger. Ich zitiere mal, was er am Tag seiner Ermordung auch sagte:

„Ich möchte gerne jedem Einzelnen von euch danken, der heute hierher gekommen ist, um für Frieden zu demonstrieren und gegen Gewalt. Diese Regierung, der ich gemeinsam mit meinem Freund Shimon Peres das Privileg habe vorzustehen, hat sich entschieden, dem Frieden eine Chance zu geben – einem Frieden, der die meisten Probleme Israels lösen wird. […] Der Weg des Friedens ist dem Weg des Krieges vorzuziehen. Ich sage euch dies als jemand, der 27 Jahre lang ein Mann des Militärs war.“

Jitzchak Rabin am Tag seiner Ermordung am 4. November 1995

Ich denke auch an Menachem Begin und Jassir Arafat, die sich die Hand gaben. Arafat, dessen Fatah im Westjordanland sitzt und von der Hamas ignoriert, im besten Fall geduldet wird. Aber alle Friedensbemühungen sind zwecklos, wenn es Gruppierungen gibt, die – wie die Hamas – von vornherein ausgeschlossen haben, dass es einen Staat Israel geben dürfe. Diskussion ausgeschlossen. Der Hamas geht es nicht um die Freiheit für palästinensische Frauen, Kinder, Familien. Ihre einzige Existenzgrundlage ist die Vernichtung Israels. Egal wie. Ich denke an Anwar el-Sadat, der zu der Überzeugung kam, ein Frieden mit Israel sei besser, als eine dauernde Fehde und als erster arabischer Staatsmann einen anderen Weg beschritt. Als es 1981 Pogrome von Islamisten gegen Kopten gab, ließ Sadat Islamisten verhaften. Vor allem Muslimbrüder. Das war sein Todesurteil. Muslimbrüder sind es, die die Hamas gründen. Wir sehen, dass Menschen, die einem Feindbild folgten, umdenken können, Sichtweisen ändern. Eigene Positionen verständlich machen, andere Positionen verstehen lernen. Nichts ist betoniert, außer der Hass. Extremisten brauchen den Hass. Und verantwortungslose Politiker bei uns nutzen die Gunst der Stunde, um die Mär zu verbreiten, dass wir genug islamistische Antisemiten im Land hätten, wir bräuchten nicht noch mehr. Damit wird erneut der Rahmen für Sagbares und Handeln ausgeweitet. Es impliziert, dass wir ohne die Muslime keine Antisemiten hier hätten. Eine dicke, fette Lüge. Überall liegt Antisemitisches herum. In den Schriften Rudolf Steiners, im Schulranzen von Hubert Aiwanger, auf Plakaten in Ungarn, in den Foren 8chan und 4chan, in Telegram-, Facebook-, WhatsApp-Gruppen, in Artikeln großer und kleiner Zeitungen, Magazinen. Oft gut codiert, in neue, moderne Begriffe transkribiert, unverdächtig für Normalverbraucher*innen. Nein, wir haben genug Antisemiten in unseren Reihen. Links wie rechts und in der Mitte. Antisemitismus ist unabhängig vom politischen Spektrum. Dass sie sich raustrauen, mehr und mehr, heißt nur, dass sie meinen, der Boden sei nun genug vorbereitet. Die Saat kann anwachsen. Und der Staat, Bund, Länder, Kommunen, tun das, was sie in meiner Jugend getan haben. So gut wie nichts und dem Wenigen wird das Geld gekürzt. Zyklische Reden und Tamtam am 27. Januar und dem 9. November. Vergessen wir also Politik. Sie ist eine tiefe Enttäuschung, was das Thema angeht.

Aber wir sind nicht schuld

Auf vielen meiner Vorträge wurde ich gefragt, ob ich Schuld empfände gegenüber den Opfern meines Opas. Ja, das war so. Natürlich haben wir heute keine Schuld mehr an dem, was damals passierte. Hat auch nie jemand behauptet, außer denen, die gerne hätten, dass es jemand behauptet, um ihre Agenda durchzubringen. Dass ich persönlich Schuld empfand, ist okay. Das musste ich für mich klären. Wesentlich schwerer jedoch wiegt die Scham. Ich schäme mich, dass jüdische Gemeinden Wachleute engagieren müssen, um sich davor zu schützen, getötet zu werden. Ich schäme mich, dass jüdische Kinder in Schulen gehen, die hinter Mauern und Zäunen liegen. Dass diese Kinder sich daran gewöhnen müssen, beschützt zu werden, um nicht von einem fehlgeleiteten Antisemiten über den Haufen geschossen zu werden. Ich schäme mich, dass man Menschen in einem Bus die Kippa vom Kopf schlägt, sie anspuckt, Hakenkreuze auf deren Türen malt, Friedhöfe verunstaltet, Drohbriefe und Drohmails schickt, ihnen mit Gas droht. Ich schäme mich, dass die großmäuligen Politiker am 9. November die Pogromnacht beklagen, aber Geld für bauliche Schutzmaßnahmen an Synagogen oder für Bildung streichen, wo sie können. Am völlig falschen Ende sparen, aber es nicht schaffen, eine AfD zu verbieten oder Hubert Aiwanger für seine Ignoranz abzumahnen. Dafür schäme ich mich zutiefst. Deutschland 2023. Immer noch nichts gelernt.

Verantwortung ist Freiheit ist Verantwortung

Ganz klar: Lange Jahre empfand ich diese Schuld. Es war schließlich mein eigener Großvater und durch die Beschäftigung mit seiner Geschichte, kam ich ihm natürlich näher. Mein Vater war ihm wie aus dem Gesicht geschnitten. Doch gegen seine Taten konnte ich ja nichts mehr tun, ihn nicht mehr damit konfrontieren, danach fragen und in seinem Beisein eine Art Urteil sprechen. Alles zu spät. Was sollte ich also jetzt mit dieser Last – und es war eine Last – tun? Zunächst mal musste ich es akzeptieren. Und alsbald wandelt sich das Gefühl von Schuld in ein Gefühl von Verantwortung, Wissen zu besitzen, das zur Vermeidung neuer Schuld notwendig ist. So funktioniert Erkenntnis und Umsetzung in Handeln. Faktisch ist es einfach. Legt man die Hand auf eine heiße Herdplatte, spürt man den Schmerz und man vermeidet eine solche Dummheit in Zukunft. Alles Erlebte oder Erlernte führt in der Regel zu Konsequenzen für das eigene Handeln. Daraus wächst Verantwortung. Das ist auch der Ausweg aus einer gefühlten Schuld. Verantwortung. Irgendwann merkt man dann, dass Verantwortung fühlen, übernehmen und danach handeln, Freiheit ist. Nicht der vom Neoliberalismus gepredigte Konsum und mit dem Auto jederzeit überall hinfahren zu können. Das ist nicht Freiheit. Das ist lediglich die Befriedigung egoistischer Bedürfnisse, die tags darauf schon ganz andere sein können. Damit folgt man lediglich von Dritten angebotenen Mitteln, um sich frei fühlen zu dürfen. Freiheit ist das Wahrnehmen von Verantwortung für mich, für die – einen Staat bildende – Gesellschaft. Was kann ich tun, damit es allen besser geht. Und wenn es allen besser geht, wird auch mein Umfeld besser werden, werde ich besser leben können. Und zwar nach Normen, wie sie die ersten 19 Artikel unseres Grundgesetzes vorgeben. Darin ist kein Platz für Antisemitismus, Antiziganismus, Diskriminierungen aller Art. Kein Platz für Faschismus, Totalitarismus, kein Platz für esoterisches Heilsgeschwafel, kein Platz für germanische Medizin, kein Platz für Wissenschaftsleugnung, kein Platz für alternative Fakten, kein Platz für Geschwurbel über Kinderblut trinkende Finanzeliten und Brunnenvergifter. Kein Platz für Hassthesen wie die der Weisen von Zion. Kein Platz für Rassentheorien oder neudeutsch Ethnopluralismus. Im Grundgesetz sollte endlich das Wort Rasse getilgt werden! Der Begriff Verantwortung gehört vermehrt ins Grundgesetz, in Gesetze, in unsere Bildungskonzepte, in unser alltägliches Leben, in Politik und Behörden. Und ein Teil dieser Verantwortung ist die Pflicht, Jüdinnen und Juden zu schützen.

Herzlichst Euer
Heiko

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