Lyrik 1993-3

Willkommen im Lyrik-Archiv des Jahres 1993. Und zwar im dritten Teil. In diesem Jahr habe ich so viel geschrieben, dass es zu viel ist für eine Seite. Hier ist die Übersicht aller Lyrischen Kurzprosa im Teil 3. Alle Texte sind hinter den jeweiligen Ausklappboxen abgelegt. Lasst gerne einen Kommentar da. Solange Hass und Häme draußen bleiben, sind sie mir willkommen. Traut Euch. Danke!

Ich will euch
nichts vormachen
Vor diesem leeren
Blatt Papier sitzen
weinen
Nicht durchdrehen
den Wahn beiseite
schieben und den
Sinn nicht suchen
Tatsächlich sein
Normal leben
denken atmen
sterben ist zu schwer
Ich ersuche um
Aufschub
Zumindest bis der
Füller seine Tinte
loswurde und ein
Gedicht auf dem
Weiß schillert

Juni 1993
Kontext

Die Luft hängt leblos warm
und schweigsam überm Platz
Ich stehe unter großen Linden
Ihr Duft sinkt herab auf
mich verliebtes Elend
Ich sehe dich in Form
dieser elfenbeinweißen
Blüte morgen sterbend
klopfst du heute an meine Tür
Dein Lachen ist komplexer Geruch
Deine Augen Wurzeln
die tief ins Erdreich blicken
Ich kann es nicht verbergen
Das Herzklopfen

Juli 1997
Kontext

Gerade beginnt
der Regen
Wir kommen aus
verschwitzten Glutlöchern
Kühle Tropfen reiten
auf dem Wind durch
die Stadt klauen allen
Hitze Unerträglichkeit
Polizei braust vorbei
Platanenblätter rauschen
wie Blut in den Adern
meiner Ohren die
meilenweit hören
Baumaschinen Lokomotiven
Kindergeschrei
einsame Menschen
Doch auf einmal
ist wieder Ruhe
Kühler Wind auf
meinem Gesicht
Weiß nicht was ich
sagen soll

Juli 1997
Kontext

Seite auf Seite
Minute um Minute vergeht
in der Badewanne umgeben
von zunehmender Kälte
Die Romantik im Buch treibt mir
Tränen in die Augen
Zwischen den Zeilen haften
Hölle Eden Mensch und Unmensch
Die Worte sind zynisch verdorben
erotisch orchideenhaft verliebt
grausam tödlich schicksalhaft
Gebärende Visionen von Leben
Unerträglichkeit und fürsorgend
Und auch ich warte
auf die Hand die meine Zeilen
nicht nur berührt sondern auch
fest umschlossen hält

Juli 1997
Kontext

Das Beste an stiller Liebe ist
sie träumen zu dürfen
Auf der Wiese liegend
Hand in den Himmel hebend
den Bussard kraulend
Gras wächst auf mir
Buschwindröschen erobern Ohren
Die Sonne hoch am Zenit
Natur schweigt
unter all der Hitze
und stillen Genugtuung
Mit Hoffnung
Achterbahn fahrend
Wie alles immer wieder
Berg und Tal anstrebt

Juli 1997
Kontext

Verliebt zu sein bedeutet nicht
glücklich am offenen Fenster stehend
den Vögeln Frühlingsgesang zu dirigieren
Es bedeutet vielleicht
vom Kuchen der Hoffnung
dass noch nicht alles zu spät ist
abzubekommen
Ein kleines Krümelchen
Man schläft auf ihm
wie die Prinzessin auf der Erbse
Es verschafft einem
ein paar Tagträume
und saures Aufstoßen
wenn der Zielpunkt
des Verliebtseins
sang- und klanglos
an einem vorüberzieht

Juli 1997
Kontext

Ich entdecke
scheue Blicke aus
schwarzen Augen
suchend zitternd vibrierend
inmitten eines weichen Gesichts
Kein Eindringen
in diese schwarze Gruften
ist möglich
Genießen oder weichen
Ein Hauch von ewiger Flamme
über der ich mich
gerne rösten lasse
Doch auch diese Ewigkeit
zerrinnt zwischen meinen Fingern
wie Sand

Juli 1997
Kontext

Bilder sind
immer ohne Worte
meist ohne Sinn
Stilles Einfrieren
einer Zehntelsekunde
Unsere Erinnerung
an diesen Moment
verblasst zusehends
Was bleibt übrig
Nur die Veränderung
Ich werfe die
meisten Fotos weg
Das Leben ist
immer das Jetzt
nicht das Gestern
Und für das Morgen
gibt es noch
keine Fotos
Für das Morgen
gibt es nur
Angst und
Neugier

Juli 1997
Kontext

Keine Sekunde
die ich bereue
Keine Minute
die ich vergesse
Kein Tag
den ich nicht
vergegenwärtige
kann es zurückbringen
Und so wird es
wieder sein
Sekunden
Minuten
Tage
Dann noch einmal
Bis die letzte Luft
meine Lungen verlässt
und ich gen Himmel
lache

Juli 1997
Kontext

Nachher werde ich hinfahren
alle Kräfte in meine Zunge legen
Mit dem Mut derer
die den Graben verlassen
um die Kugeln abzufangen
für Gott und Vaterland
oder ähnlichen Kram
Wie ein Spross
der zehn Zentimeter Teer durchbricht
um einmal die Sonne zu sehen
und sogleich plattgefahren wird
Ich werde hinfahren
und ihr meine Augen und Hände
mein Herz und meine Seele überreichen
komme was will

Juli 1997
Kontext

Raus aus der Kneipe
durch die Fußgängerzone
die Passage
Reklametafel in einer Apotheke
‚Elancyl – gegen die Problemzonen‘
Ganz prima
Gleich morgen
kaufe ich eine Familienpackung
denn ich bin ja eine
wandelnde Problemzone
umgeben von noch viel größeren
Problemzonen
Vielleicht tun sich ungeahnte
Möglichkeiten auf

Juli 1997
Kontext

Die Straße schlecht
Von der Kuppe
sieht man ins Tal
Eine Kathedrale
im Nebel den
das Meer schickt
Hügel und Täler
und mich bedeckt
Steingraue Häuschen
glänzen feucht
wenn die Sonne durch
den Dunst bricht und
pausbackige Menschen
mit harten Gesichtern
gefurchten Lebensjahren
auf alten Fahrrädern
sichtbar macht
Grimmig blickend
Ich gehe weiter
ins Tal und spüre
dass ich niemand
mehr bin

Juli 1993
Kontext

Sonnenlicht
bricht durchs
dreckige Fenster
Gleißend brennend
Das Leben bleibt
vor der Scheibe
stöhnt und ächzt
geht in die Knie
Unfall auf Kreuzung
Hasten und Hetzen
Husten Keuchen
Kinderwagen dazwischen
38-Tonner neben sich
Tiefflieger überall
Balkontür verrammeln
Matratzen vor
Fenster und Türen
Die Nacht kommt
nimmt der Sonne
das Licht und
der Straße
das Leben

Juli 1997
Kontext

Auf der Mole
harre ich der Dinge
die da kommen
in Form von jeder
Menge Fleisch
Menschen aller Art
die es ans Meer zieht
Eimer Kühltaschen
Sonnenschirme Grillkohle
Surfbretter Campingstühle
Tupperware Bier
Ghettoblaster
Ihr halber Hausstand
Dann ist da noch der
mit Notizblock
und Kugelschreiber
Der nicht weiß
was er hier soll
und ob er unter
diesen Menschen
sein will

August 1993
Kontext

Was ich suche
gab es vor
hundert Jahren
oder eintausend
Ich suche Menschen
die es verdienen
menschlich genannt
zu werden
Ich will keine
Egomanen
Selbstsüchtige
Darsteller eigener
Unzulänglichkeiten
Möchtegerngötter
Unbarmherzige
Rassisten oder
Nazigesocks
Keine feine Herren
die auf Kinderleichen
schlafen und essen
Was ich suche
ist die Nadel
im Heuhaufen
Man findet sie
indem man den
Heuhaufen
abfackelt

August 1993
Kontext

Hinten drin
in meinem Schädel
klebt dein Gesicht
Hab es nicht vergessen
Wieder und wieder
drängelt es sich nach vorne
zwischen Sehnsucht und Weinen
Dann lege ich das Unwichtige
beiseite und lasse mich
fallen in Augenblicke
die nadelfein in mein Fleisch
sinken so tief dass
ich staune über die Pein
Dieses Geheimnis
behalte ich lieber
für mich

August 1993
Kontext

Da sitze ich
Kurz vor zwei
in der Nacht
ziehe am Filter
Aufglühen
Rauch frisst sich
in meine Kehle
Kurz halten
ausatmen in
Richtung Lampe
Mit den Augen
folge ich ihm
denke was ich denn
wohl denken soll
Da ist nichts
außer einem Paar
blauer Augen
in das ich gestern
schaute und den
Schmerz darin
nicht vergessen
kann

August 1993
Kontext

Wer vermutet
Tränen in den
Augen der anderen
Niemand
Jemand hat erzählt
dass wir alle
so viele Tränen
in uns haben wie
es Menschen auf
der Erde gibt
Ich schätze
bald werden wir
ihr Gewicht nicht mehr
ertragen können
Denn unsere Zukunft
wird uns einen
Tsunami an
Menschen und
Tränen bescheren
Dann werden sie
völlig zwecklos sein
Menschen und
Tränen

August 1993
Kontext

Das Tal eng verschlungen
Uns beschützend
kiefernbewaldete Hügel
Biergarten voller Stimmen
Kinder im Sand schmeißen
ihn sich gegenseitig in die Haare
lachen alles scheint friedlich
Doch hinter den Hügeln
wogt das Grauen in das wir
uns am Montag stürzen
Erneut und immerzu
uns Geld Hoffnung Substanz
aus der Tasche zieht
Heute sind wir hier
Leben fließt in
harmlosen Bahnen
träumt von
sich selbst

August 1993
Kontext

Ich weiß
du bist dort draußen
außerhalb meiner
Welt Erfahrung Zärtlichkeit
Existent in Sehnsucht Hoffnung
Darin hast du ein Gesicht
eine Kerze in der linken
ein Lachen in der rechten Hand
Das Leben beschert uns
keine Zusammenkunft
Ich werde dich
nicht finden
nicht suchen
aber du bist
dort draußen

August 1993
Kontext

Wie viele sitzen
hier wie ich
und schreiben
weil sie brennen
Wie viele stehen
dort draußen an
roten Ampeln und
wollen einfach losgehen
Wie viele sitzen abends
vor dem Bildschirm
denken an die Angst
vor der Nacht
Wie viele sitzen
vor dem zehnten
Glas und hoffen
auf zehn weitere
Wie viele hoffen
auf einen Traum
und sterben in der
traumlosen Welt
Wie viele wollen
machen und werden
nur gemacht

August 1993
Kontext

Ich spaziere auf dem Weg
rieche das Schilf im Bach
spüre den Wald um mich
ahne die Kraft der Sonne
den geschickten Wind
Da sehe ich den Falken
stolzieren und zu mir kommen
fragen wer ich sei
Vielleicht ein Mensch
Ich ein Falke und flattert
landet auf meiner Schulter
Wir gehen weiter
der Sonne entgegen der Nacht
dem größer werdenden Mond
Nacht ist Leben sagt er leise
und schläft mit fester Kralle
Ich bleibe stehen suche
Gedanken finde keine
Also gehen wir weiter
Ich werde glücklich

September 1993
Kontext

Lichter die keine sind
in den Augen weniger
von denen ich glaubte
sie bedeuten mir etwas
aber es sind nur
Strohfeuer
Sie sind nicht die Sonne
verschmelzen nicht Atome
wärmen nur sich selbst
sind nur das kühle Mondlicht
das Echo einer großen
Kraft die sie selbst
nie sein können
oder wollen
oder dürfen

September 1993
Kontext

Wenn das Leben hustet
sich die nächste Wolkenbank
an den Horizont schiebt
bleibt nur noch verzweifeltes
Lachen lachender Zweifel
Du glaubst einen Schritt
nach vorn getan zu haben
Tatsächlich stehst du auf
einer Schräge jeder Schritt
lässt dich zurückrutschen
Dann kommt es mitten ins Herz
durch die blanke Brust tut weh
ein ständiges erstes Mal
kämpfen kämpfen kämpfen
kaum noch atmen möglich
gegen den Sturm kämpfen
nach vorne gebeugt Mütze
tief in der Stirn und
kämpfend
ermüden

September 1993
Kontext

Wie viele habe ich
schon geliebt
Mit jeder Faser
meines Körpers
Früher
und auch heute noch
Wie vielen
habe ich diese Liebe
schon vorenthalten
Nun kann ich mich
endlich für den Rest
von mir begeistern
nach langer Zeit
und die Liebe
zu anderen
ist eine große Sehnsucht
die keine Erfüllung
mehr findet
Traurig
Schön

Oktober 1993
Kontext

Viel zu oft
will ich weinen
doch es klappt
nur selten
Einfach deshalb
weil ich Angst habe
oder ich cool
durch die Straßen schreite
Ich denke
jetzt dorthin fahren
und weinen
wird wichtig
Bin ich dann da
lache ich siegesgewiss
gebe starke Statements ab
oder schweige
Diejenigen
die an meinen Augen
die Wahrheit erkennen
kann ich an einer Hand
abzählen
Und sie machen es
genau wie ich

Oktober 1993
Kontext

Starke Worte finden
Mantel aus Stolz anziehen
Professionell verzeihen
Gnade gewähren
alles modern und einfach
Aber das Leben ertragen
Schmerz aushalten
über den Berg gehen
statt um ihn herum
das ist verpönt
Das Tragische wird zur Gottheit
das Elend zum Geschäft
So auch unser Verständnis
für Liebe Wahrheit Demut
wen sollten wir fragen
Keiner mehr da der diese
Sprachen spricht

Oktober 1993
Kontext

Ich mustere das
tranchierte Stück Fleisch
Schnitt längs zur Ader
der Sicherheit wegen
Rede mit dem
klaffenden Maul
und es sagt
dass es genug sei
29 Jahre hat es unser
dreckiges Blut ertragen
Ich lächle
küsse den
feuerroten Mund
Er weint rot
und ich
alle Hoffnung

Oktober 1993
Kontext

Ich roch an der Rose
Als sie mir aus der Hand flog
und auf dem Papier landete
dachte ich sie stirbt
Und sie starb
Rot und sterbend
lag sie vor mir
Es ist mein Leben
das mir entglitten ist
Doch sie roch nach Rose
als ich sie wieder
in die Hand nahm
und meine Nase
in den Blütenkelch hängte
und dieses Gedicht schrieb
Ich schloss die Augen
sah die Rose
und sah mich

Oktober 1993
Kontext

Ich sehe sie dort stehen
und denke an das Alter
und an den Weg
der vor mir liegt
Ich nehme ein zweites Glas
stelle mich an den Zaun
und reiche ihr den Wein
All die Leute die ich vergaß
bedeuten mir nichts mehr
All die Hoffnung die ich vergaß
bedeutet mir nichts mehr
Sie ist vielleicht siebzig
und ich dreißig
Wir lassen unsere
Gläser klingen
Sie trinkt auf ihr Leben
und ich auf meines

Oktober 1993
Kontext

Sechs Jahre
in dieser Wohnung
Sechs Jahre
Platanen vor
dem Fenster
Groß und mächtig
Schatten für die
ganze Straße
Die Allee der Zähen
zwischen Teer
und Beton
Sitze ich am Fenster
schreibend rauchend
schaue lange
in ihre Kronen
Der Herbst ist
im letzten Anlauf
und wenn die anderen
Bäume ihre Blätter
weggeworfen haben
sind die Platanen
immer noch grün
Ich kann mir nicht
vorstellen so
alt zu werden

Oktober 1993
Kontext

Die Rose ist rot wie mein Blut
riecht wie meine Sehnsucht
bei Sonnenschein
Doch sie wird trocknen
den Duft verlieren
Denn ich habe sie gebrochen
am späten Abend
stahl ihr den Geruch
das Abendrot klaute die Farbe
Der Morgen bringt nun
das Sterben
So halte ich sie
in der Hand
Wie der Abend
den Tag

Oktober 1993
Kontext

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